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Burckhardt, Walther: Die Organisation der Rechtsgemeinschaft. Basel, 1927.

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II. Teil. Die staatliche Verfassung.
nommen werden. Über Gesetz und Verordnung steht die Ver-
fassung; über der Verfassung steht aber nichts mehr1. Die Revi-
sionsbestimmungen, die doch selbst in der Verfassung stehen
und mit ihr stehen und fallen, beanspruchen, zu bestimmen, wie
neues Verfassungsrecht Geltung erlangen soll. Das können sie
nicht, da sie selbst nur kraft der gegenwärtigen Verfassung und
als ihr Bestandteil Gültigkeit haben2.

Stellt man sich aber vor, sie stünden über der geltenden
Verfassung und bildeten gewissermaßen über der jeweiligen
materiellen Verfassung die formelle Ordnung der Verfassungs-
gesetzgebung, gleichwie über den Gesetzen die Verfassung die
formelle Ordnung der einfachen Gesetzgebung bildet, so geriete

1 Sieyes, in seiner Schrift über den dritten Stand, Kap. V, sagt im
Grunde nichts anderes, indem er erklärt, die Nation, die sich die Verfassung
gebe, sei an kein positives Recht gebunden; sie könne sich selbst nie binden
(auch nicht durch Revisionsvorschriften?); sie sei die oberste Herrin jedes
positiven Rechts. Er unterschied deutlich die Form der Verfassung von der
des Gesetzes. -- Die Entstehung von Rechtsnormen erster Ordnung ist
notwendig eine anormale, sagt im gleichen Sinne Bierling, Juristische
Prinzipienlehre II 343, ohne indessen die Folgen dieses Satzes für die Ver-
fassungsänderung zu ziehen; vgl. ebd. II 358; I 113. -- Als im Jahre
1845 die Berner Verfassung durch einen Verfassungsrat, statt durch den
Großen Rat, wie in der Verfassung selbst vorgesehen, revidiert werden
sollte, verteidigte ein Einsender der "Bernerzeitung" die These, daß die
Revisionsbestimmungen der bisherigen Verfassung, wie, diese selbst, nichts
als ein Gesetz seien, das man, wie jedes Gesetz, ändern oder aufheben könne.
Es wurde tatsächlich auch durch das Volk so beschlossen; aber worauf das
Volk diese seine Kompetenz stützte, etwas zu tun, was die Verfassung
nicht vorsah, ist rechtlich nicht zu begründen. Vgl. Th. Weiß, Jakob
Stämpfli I 49. Ähnliches ist in der Schweiz Dutzende von Malen im 19. Jahr-
hundert geschehen.
2 Puchta, Gewohnheitsrecht II 236. G. Jellinek, Allgemeine
Staatslehre, 3. A., 237, sagt richtig: "Der Staat kann nicht Recht für seine
eigene Entstehung festsetzen, da er zuerst da sein muß, um Recht zu
schaffen." J. begeht aber den Fehler, dieses "zuerst" zeitlich, statt logisch
zu fassen, sonst könnte er nicht S. 274 sagen: "Aus diesem Grunde kann das
Dasein eines Staates nur auf seinem eigenen Willen beruhen." Gerade das
ist nicht denkbar, und eben darum kann man sich nicht erklären, daß der
Staat, auch wenn er "früher" da ist, seine spätere Entstehung bestimme.
J. sagt ja selbst auf derselben Seite (274): "Ein Staat ist nämlich Staat nur
durch das Dasein (!) unmittelbarer, staatliche Funktionen versehender
Organe"; also nicht bloß kraft rechtlicher Vorschrift.

II. Teil. Die staatliche Verfassung.
nommen werden. Über Gesetz und Verordnung steht die Ver-
fassung; über der Verfassung steht aber nichts mehr1. Die Revi-
sionsbestimmungen, die doch selbst in der Verfassung stehen
und mit ihr stehen und fallen, beanspruchen, zu bestimmen, wie
neues Verfassungsrecht Geltung erlangen soll. Das können sie
nicht, da sie selbst nur kraft der gegenwärtigen Verfassung und
als ihr Bestandteil Gültigkeit haben2.

Stellt man sich aber vor, sie stünden über der geltenden
Verfassung und bildeten gewissermaßen über der jeweiligen
materiellen Verfassung die formelle Ordnung der Verfassungs-
gesetzgebung, gleichwie über den Gesetzen die Verfassung die
formelle Ordnung der einfachen Gesetzgebung bildet, so geriete

1 Siéyès, in seiner Schrift über den dritten Stand, Kap. V, sagt im
Grunde nichts anderes, indem er erklärt, die Nation, die sich die Verfassung
gebe, sei an kein positives Recht gebunden; sie könne sich selbst nie binden
(auch nicht durch Revisionsvorschriften?); sie sei die oberste Herrin jedes
positiven Rechts. Er unterschied deutlich die Form der Verfassung von der
des Gesetzes. — Die Entstehung von Rechtsnormen erster Ordnung ist
notwendig eine anormale, sagt im gleichen Sinne Bierling, Juristische
Prinzipienlehre II 343, ohne indessen die Folgen dieses Satzes für die Ver-
fassungsänderung zu ziehen; vgl. ebd. II 358; I 113. — Als im Jahre
1845 die Berner Verfassung durch einen Verfassungsrat, statt durch den
Großen Rat, wie in der Verfassung selbst vorgesehen, revidiert werden
sollte, verteidigte ein Einsender der „Bernerzeitung“ die These, daß die
Revisionsbestimmungen der bisherigen Verfassung, wie, diese selbst, nichts
als ein Gesetz seien, das man, wie jedes Gesetz, ändern oder aufheben könne.
Es wurde tatsächlich auch durch das Volk so beschlossen; aber worauf das
Volk diese seine Kompetenz stützte, etwas zu tun, was die Verfassung
nicht vorsah, ist rechtlich nicht zu begründen. Vgl. Th. Weiß, Jakob
Stämpfli I 49. Ähnliches ist in der Schweiz Dutzende von Malen im 19. Jahr-
hundert geschehen.
2 Puchta, Gewohnheitsrecht II 236. G. Jellinek, Allgemeine
Staatslehre, 3. A., 237, sagt richtig: „Der Staat kann nicht Recht für seine
eigene Entstehung festsetzen, da er zuerst da sein muß, um Recht zu
schaffen.“ J. begeht aber den Fehler, dieses „zuerst“ zeitlich, statt logisch
zu fassen, sonst könnte er nicht S. 274 sagen: „Aus diesem Grunde kann das
Dasein eines Staates nur auf seinem eigenen Willen beruhen.“ Gerade das
ist nicht denkbar, und eben darum kann man sich nicht erklären, daß der
Staat, auch wenn er „früher“ da ist, seine spätere Entstehung bestimme.
J. sagt ja selbst auf derselben Seite (274): „Ein Staat ist nämlich Staat nur
durch das Dasein (!) unmittelbarer, staatliche Funktionen versehender
Organe“; also nicht bloß kraft rechtlicher Vorschrift.
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[214/0229] II. Teil. Die staatliche Verfassung. nommen werden. Über Gesetz und Verordnung steht die Ver- fassung; über der Verfassung steht aber nichts mehr 1. Die Revi- sionsbestimmungen, die doch selbst in der Verfassung stehen und mit ihr stehen und fallen, beanspruchen, zu bestimmen, wie neues Verfassungsrecht Geltung erlangen soll. Das können sie nicht, da sie selbst nur kraft der gegenwärtigen Verfassung und als ihr Bestandteil Gültigkeit haben 2. Stellt man sich aber vor, sie stünden über der geltenden Verfassung und bildeten gewissermaßen über der jeweiligen materiellen Verfassung die formelle Ordnung der Verfassungs- gesetzgebung, gleichwie über den Gesetzen die Verfassung die formelle Ordnung der einfachen Gesetzgebung bildet, so geriete 1 Siéyès, in seiner Schrift über den dritten Stand, Kap. V, sagt im Grunde nichts anderes, indem er erklärt, die Nation, die sich die Verfassung gebe, sei an kein positives Recht gebunden; sie könne sich selbst nie binden (auch nicht durch Revisionsvorschriften?); sie sei die oberste Herrin jedes positiven Rechts. Er unterschied deutlich die Form der Verfassung von der des Gesetzes. — Die Entstehung von Rechtsnormen erster Ordnung ist notwendig eine anormale, sagt im gleichen Sinne Bierling, Juristische Prinzipienlehre II 343, ohne indessen die Folgen dieses Satzes für die Ver- fassungsänderung zu ziehen; vgl. ebd. II 358; I 113. — Als im Jahre 1845 die Berner Verfassung durch einen Verfassungsrat, statt durch den Großen Rat, wie in der Verfassung selbst vorgesehen, revidiert werden sollte, verteidigte ein Einsender der „Bernerzeitung“ die These, daß die Revisionsbestimmungen der bisherigen Verfassung, wie, diese selbst, nichts als ein Gesetz seien, das man, wie jedes Gesetz, ändern oder aufheben könne. Es wurde tatsächlich auch durch das Volk so beschlossen; aber worauf das Volk diese seine Kompetenz stützte, etwas zu tun, was die Verfassung nicht vorsah, ist rechtlich nicht zu begründen. Vgl. Th. Weiß, Jakob Stämpfli I 49. Ähnliches ist in der Schweiz Dutzende von Malen im 19. Jahr- hundert geschehen. 2 Puchta, Gewohnheitsrecht II 236. G. Jellinek, Allgemeine Staatslehre, 3. A., 237, sagt richtig: „Der Staat kann nicht Recht für seine eigene Entstehung festsetzen, da er zuerst da sein muß, um Recht zu schaffen.“ J. begeht aber den Fehler, dieses „zuerst“ zeitlich, statt logisch zu fassen, sonst könnte er nicht S. 274 sagen: „Aus diesem Grunde kann das Dasein eines Staates nur auf seinem eigenen Willen beruhen.“ Gerade das ist nicht denkbar, und eben darum kann man sich nicht erklären, daß der Staat, auch wenn er „früher“ da ist, seine spätere Entstehung bestimme. J. sagt ja selbst auf derselben Seite (274): „Ein Staat ist nämlich Staat nur durch das Dasein (!) unmittelbarer, staatliche Funktionen versehender Organe“; also nicht bloß kraft rechtlicher Vorschrift.

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Zitationshilfe: Burckhardt, Walther: Die Organisation der Rechtsgemeinschaft. Basel, 1927, S. 214. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/burckhardt_rechtsgemeinschaft_1927/229>, abgerufen am 29.04.2024.