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Burckhardt, Walther: Die Organisation der Rechtsgemeinschaft. Basel, 1927.

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Das Verfassungsrecht.
man in neue Widersprüche. Das Revisionsverfahren, das jene
Revisionsbestimmungen vorschreiben, würde dann gelten für die
Aufhebung und Abänderung der anderen, materiellen Verfassungs-
bestimmungen, aber nicht für die Abänderung der Revisions-
bestimmungen selbst. Diese Revisionsbestimmungen wären un-
abänderlich; sofern man sich nicht über ihnen wiederum eine
andere Revisionsordnung denken wollte, nach der die Revisions-
bestimmungen abzuändern wären und so fort ins Unendliche. Was
sollte man auch demjenigen entgegenhalten, der die Berechtigung
der Revisionsbestimmungen bestreiten, der also auf anderem Wege
neues Verfassungsrecht zustande bringen wollte: die Tatsache,
daß die Revisionsbestimmungen, wie die anderen, geltendes Recht
seien? Gewiß sie können es sein, als Ordnungsvorschriften, ver-
möge der Tatsache, daß sie durch die organisierte Macht gestützt
werden. Aber demjenigen, der diese Macht einer anderen Verfassung
zuwenden möchte, kann man nicht, zum Beweis, daß das nicht
berechtigt sei, die Tatsache entgegenhalten, daß die alte Ver-
fassung mit den bisherigen Revisionsvorschriften gelte. Der An-
spruch einer rechtlichen Ordnung auf Geltung kann nicht aus der
Tatsache der Geltung eben dieser Ordnung abgeleitet werden1.

Die bekämpfte Auffassung hätte auch ganz unhaltbare Folgen.
Wenn alles Verfassungsrecht, das auf anderem als dem in der Ver-
fassung selbst vorgeschriebenen Wege entstanden ist, ungültig
wäre, welches Verfassungsrecht wäre dann gültig? Dasjenige,
welches nach dem Verfahren der früheren Verfassung geschaffen
worden wäre, vorausgesetzt, daß diese frühere Verfassung nach
dem zur Zeit ihrer Entstehung geltenden zustande gekommen
sei usw. ins Unendliche. Und wenn ein Glied dieser probatio
diabolica fehlte, fielen alle folgenden ins Leere2. Man wird viel-
leicht erwidern: jede Rechtsordnung könne verletzt werden, ohne
daß man daraus die Ungültigkeit oder Unverbindlichkeit dieses
Rechtes folgern dürfe. Gewiß nicht, weder aus der Verletzung
noch aus der Befolgung. Aber aus der Tatsache, das sie über

1 Vgl. Siegfr. Marck, Substanz- und Funktionsbegriff in der Rechts-
philosophie (1925) 29; Green, Lectures on the principles of political obli-
gations (Neudruck 1924) 43.
2 Manche Verfassung enthält Revisionsbestimmungen, ist aber selbst
nicht nach den damaligen Vorschriften gemacht worden und hält doch.

Das Verfassungsrecht.
man in neue Widersprüche. Das Revisionsverfahren, das jene
Revisionsbestimmungen vorschreiben, würde dann gelten für die
Aufhebung und Abänderung der anderen, materiellen Verfassungs-
bestimmungen, aber nicht für die Abänderung der Revisions-
bestimmungen selbst. Diese Revisionsbestimmungen wären un-
abänderlich; sofern man sich nicht über ihnen wiederum eine
andere Revisionsordnung denken wollte, nach der die Revisions-
bestimmungen abzuändern wären und so fort ins Unendliche. Was
sollte man auch demjenigen entgegenhalten, der die Berechtigung
der Revisionsbestimmungen bestreiten, der also auf anderem Wege
neues Verfassungsrecht zustande bringen wollte: die Tatsache,
daß die Revisionsbestimmungen, wie die anderen, geltendes Recht
seien? Gewiß sie können es sein, als Ordnungsvorschriften, ver-
möge der Tatsache, daß sie durch die organisierte Macht gestützt
werden. Aber demjenigen, der diese Macht einer anderen Verfassung
zuwenden möchte, kann man nicht, zum Beweis, daß das nicht
berechtigt sei, die Tatsache entgegenhalten, daß die alte Ver-
fassung mit den bisherigen Revisionsvorschriften gelte. Der An-
spruch einer rechtlichen Ordnung auf Geltung kann nicht aus der
Tatsache der Geltung eben dieser Ordnung abgeleitet werden1.

Die bekämpfte Auffassung hätte auch ganz unhaltbare Folgen.
Wenn alles Verfassungsrecht, das auf anderem als dem in der Ver-
fassung selbst vorgeschriebenen Wege entstanden ist, ungültig
wäre, welches Verfassungsrecht wäre dann gültig? Dasjenige,
welches nach dem Verfahren der früheren Verfassung geschaffen
worden wäre, vorausgesetzt, daß diese frühere Verfassung nach
dem zur Zeit ihrer Entstehung geltenden zustande gekommen
sei usw. ins Unendliche. Und wenn ein Glied dieser probatio
diabolica fehlte, fielen alle folgenden ins Leere2. Man wird viel-
leicht erwidern: jede Rechtsordnung könne verletzt werden, ohne
daß man daraus die Ungültigkeit oder Unverbindlichkeit dieses
Rechtes folgern dürfe. Gewiß nicht, weder aus der Verletzung
noch aus der Befolgung. Aber aus der Tatsache, das sie über

1 Vgl. Siegfr. Marck, Substanz- und Funktionsbegriff in der Rechts-
philosophie (1925) 29; Green, Lectures on the principles of political obli-
gations (Neudruck 1924) 43.
2 Manche Verfassung enthält Revisionsbestimmungen, ist aber selbst
nicht nach den damaligen Vorschriften gemacht worden und hält doch.
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[215/0230] Das Verfassungsrecht. man in neue Widersprüche. Das Revisionsverfahren, das jene Revisionsbestimmungen vorschreiben, würde dann gelten für die Aufhebung und Abänderung der anderen, materiellen Verfassungs- bestimmungen, aber nicht für die Abänderung der Revisions- bestimmungen selbst. Diese Revisionsbestimmungen wären un- abänderlich; sofern man sich nicht über ihnen wiederum eine andere Revisionsordnung denken wollte, nach der die Revisions- bestimmungen abzuändern wären und so fort ins Unendliche. Was sollte man auch demjenigen entgegenhalten, der die Berechtigung der Revisionsbestimmungen bestreiten, der also auf anderem Wege neues Verfassungsrecht zustande bringen wollte: die Tatsache, daß die Revisionsbestimmungen, wie die anderen, geltendes Recht seien? Gewiß sie können es sein, als Ordnungsvorschriften, ver- möge der Tatsache, daß sie durch die organisierte Macht gestützt werden. Aber demjenigen, der diese Macht einer anderen Verfassung zuwenden möchte, kann man nicht, zum Beweis, daß das nicht berechtigt sei, die Tatsache entgegenhalten, daß die alte Ver- fassung mit den bisherigen Revisionsvorschriften gelte. Der An- spruch einer rechtlichen Ordnung auf Geltung kann nicht aus der Tatsache der Geltung eben dieser Ordnung abgeleitet werden 1. Die bekämpfte Auffassung hätte auch ganz unhaltbare Folgen. Wenn alles Verfassungsrecht, das auf anderem als dem in der Ver- fassung selbst vorgeschriebenen Wege entstanden ist, ungültig wäre, welches Verfassungsrecht wäre dann gültig? Dasjenige, welches nach dem Verfahren der früheren Verfassung geschaffen worden wäre, vorausgesetzt, daß diese frühere Verfassung nach dem zur Zeit ihrer Entstehung geltenden zustande gekommen sei usw. ins Unendliche. Und wenn ein Glied dieser probatio diabolica fehlte, fielen alle folgenden ins Leere 2. Man wird viel- leicht erwidern: jede Rechtsordnung könne verletzt werden, ohne daß man daraus die Ungültigkeit oder Unverbindlichkeit dieses Rechtes folgern dürfe. Gewiß nicht, weder aus der Verletzung noch aus der Befolgung. Aber aus der Tatsache, das sie über 1 Vgl. Siegfr. Marck, Substanz- und Funktionsbegriff in der Rechts- philosophie (1925) 29; Green, Lectures on the principles of political obli- gations (Neudruck 1924) 43. 2 Manche Verfassung enthält Revisionsbestimmungen, ist aber selbst nicht nach den damaligen Vorschriften gemacht worden und hält doch.

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Zitationshilfe: Burckhardt, Walther: Die Organisation der Rechtsgemeinschaft. Basel, 1927, S. 215. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/burckhardt_rechtsgemeinschaft_1927/230>, abgerufen am 29.04.2024.