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Carus, Carl Gustav: Psyche. Zur Entwicklungsgeschichte der Seele. Pforzheim, 1846.

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und ersten Andeutungen des Geistes nimmt auf eine merk¬
würdige Weise auch der Begriff von der Welt des Thieres
zu. Der größte Gesichtskreis und die weiteste Welt für
das Thier mag die Welt des Vogels sein. Kein Thier
jedoch dehnt seine Welt aus, über die Erde hinaus,
und die größten Himmelskörper, deren Wirkung es em¬
pfindet, gehören seiner Vorstellung nach (wie in der Kind¬
heit der Völker) immer nur zur Erdnatur. Auch diese
ganze Stufenfolge von immer zunehmender Ausdehnung
der Welt mit zunehmender Geistesentwicklung, wiederholt
sich beim heranwachsenden Kind; auch uns wird die Welt
nach und nach immer weiter.

Wenden wir uns nun wieder zur Seelengeschichte des
Thieres, so kann es, wie schon bemerkt, hier nicht zur
Aufgabe gemacht werden, eine ins Einzelne gehende Psy¬
chologie der Thiere zu unternehmen, aber -- da die bis¬
herigen Versuche etwas der Art zu liefern, so sehr unge¬
nügend geblieben sind -- so scheint es doch noch wichtig,
die Punkte hervorzuheben, welche insbesondre zu berücksich¬
tigen sein würden, wenn etwas Vollständigeres und mehr
Begründetes in dieser Beziehung geliefert werden sollte.
Ich hoffe sie in nachstehender Aufzählung zu besserer Ueber¬
sicht bringen zu können. Es wäre nämlich zur scharfen
und genügenden Schilderung dieser so verschiednen Formen
des Seelenlebens unerläßlich:

1. Die Darstellung der jeder größern Abtheilung
eigenthümlichen Art des unbewußten Seelenlebens,
in wie fern es durch Entwicklung des organischen Glied¬
baues und Lebens sich offenbart. Denn es verhält sich
hier ganz so wie Göthe in Beziehung auf das Licht
sagt: "eigentlich unternehmen wir umsonst das Wesen eines
Dinges auszudrücken. Wirkungen werden wir gewahr,
und eine vollständige Geschichte dieser Wirkungen umfaßt
wohl allenfalls das Wesen jenes Dinges. Vergebens be¬
mühen wir uns den Charakter eines Menschen zu schildern;

und erſten Andeutungen des Geiſtes nimmt auf eine merk¬
würdige Weiſe auch der Begriff von der Welt des Thieres
zu. Der größte Geſichtskreis und die weiteſte Welt für
das Thier mag die Welt des Vogels ſein. Kein Thier
jedoch dehnt ſeine Welt aus, über die Erde hinaus,
und die größten Himmelskörper, deren Wirkung es em¬
pfindet, gehören ſeiner Vorſtellung nach (wie in der Kind¬
heit der Völker) immer nur zur Erdnatur. Auch dieſe
ganze Stufenfolge von immer zunehmender Ausdehnung
der Welt mit zunehmender Geiſtesentwicklung, wiederholt
ſich beim heranwachſenden Kind; auch uns wird die Welt
nach und nach immer weiter.

Wenden wir uns nun wieder zur Seelengeſchichte des
Thieres, ſo kann es, wie ſchon bemerkt, hier nicht zur
Aufgabe gemacht werden, eine ins Einzelne gehende Pſy¬
chologie der Thiere zu unternehmen, aber — da die bis¬
herigen Verſuche etwas der Art zu liefern, ſo ſehr unge¬
nügend geblieben ſind — ſo ſcheint es doch noch wichtig,
die Punkte hervorzuheben, welche insbeſondre zu berückſich¬
tigen ſein würden, wenn etwas Vollſtändigeres und mehr
Begründetes in dieſer Beziehung geliefert werden ſollte.
Ich hoffe ſie in nachſtehender Aufzählung zu beſſerer Ueber¬
ſicht bringen zu können. Es wäre nämlich zur ſcharfen
und genügenden Schilderung dieſer ſo verſchiednen Formen
des Seelenlebens unerläßlich:

1. Die Darſtellung der jeder größern Abtheilung
eigenthümlichen Art des unbewußten Seelenlebens,
in wie fern es durch Entwicklung des organiſchen Glied¬
baues und Lebens ſich offenbart. Denn es verhält ſich
hier ganz ſo wie Göthe in Beziehung auf das Licht
ſagt: „eigentlich unternehmen wir umſonſt das Weſen eines
Dinges auszudrücken. Wirkungen werden wir gewahr,
und eine vollſtändige Geſchichte dieſer Wirkungen umfaßt
wohl allenfalls das Weſen jenes Dinges. Vergebens be¬
mühen wir uns den Charakter eines Menſchen zu ſchildern;

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[139/0155] und erſten Andeutungen des Geiſtes nimmt auf eine merk¬ würdige Weiſe auch der Begriff von der Welt des Thieres zu. Der größte Geſichtskreis und die weiteſte Welt für das Thier mag die Welt des Vogels ſein. Kein Thier jedoch dehnt ſeine Welt aus, über die Erde hinaus, und die größten Himmelskörper, deren Wirkung es em¬ pfindet, gehören ſeiner Vorſtellung nach (wie in der Kind¬ heit der Völker) immer nur zur Erdnatur. Auch dieſe ganze Stufenfolge von immer zunehmender Ausdehnung der Welt mit zunehmender Geiſtesentwicklung, wiederholt ſich beim heranwachſenden Kind; auch uns wird die Welt nach und nach immer weiter. Wenden wir uns nun wieder zur Seelengeſchichte des Thieres, ſo kann es, wie ſchon bemerkt, hier nicht zur Aufgabe gemacht werden, eine ins Einzelne gehende Pſy¬ chologie der Thiere zu unternehmen, aber — da die bis¬ herigen Verſuche etwas der Art zu liefern, ſo ſehr unge¬ nügend geblieben ſind — ſo ſcheint es doch noch wichtig, die Punkte hervorzuheben, welche insbeſondre zu berückſich¬ tigen ſein würden, wenn etwas Vollſtändigeres und mehr Begründetes in dieſer Beziehung geliefert werden ſollte. Ich hoffe ſie in nachſtehender Aufzählung zu beſſerer Ueber¬ ſicht bringen zu können. Es wäre nämlich zur ſcharfen und genügenden Schilderung dieſer ſo verſchiednen Formen des Seelenlebens unerläßlich: 1. Die Darſtellung der jeder größern Abtheilung eigenthümlichen Art des unbewußten Seelenlebens, in wie fern es durch Entwicklung des organiſchen Glied¬ baues und Lebens ſich offenbart. Denn es verhält ſich hier ganz ſo wie Göthe in Beziehung auf das Licht ſagt: „eigentlich unternehmen wir umſonſt das Weſen eines Dinges auszudrücken. Wirkungen werden wir gewahr, und eine vollſtändige Geſchichte dieſer Wirkungen umfaßt wohl allenfalls das Weſen jenes Dinges. Vergebens be¬ mühen wir uns den Charakter eines Menſchen zu ſchildern;

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Zitationshilfe: Carus, Carl Gustav: Psyche. Zur Entwicklungsgeschichte der Seele. Pforzheim, 1846, S. 139. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/carus_psyche_1846/155>, abgerufen am 29.04.2024.