Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Carus, Carl Gustav: Psyche. Zur Entwicklungsgeschichte der Seele. Pforzheim, 1846.

Bild:
<< vorherige Seite

lichen Seele überhaupt, die sich bereits von Haus aus als
eine andere, von der Thierseele sich durchaus unterscheidende
geltend macht, in der Schönheit menschlicher Bildung, in
dem ersten Blick des kindlichen Auges -- lange zuvor
ehe sie noch zum wahren Bewußtsein gelangt. Eben so
umschwebt die Idee, als ein Höheres, schon den kindlichen
Verstand, so kündigt sie schon ihre Gegenwart an in der
erwachenden Phantasie, und drängt sie, Gestalten zu schaffen,
welche Symbole von Ideen ausdrücken; und eben darum
ist es, daß es schwer, ja fast unmöglich wird, die all¬
mählig immer deutlicher werdende Ahnung der Idee von
dem endlichen Schauen, und dem somit wahrhaften Er¬
wachen der Vernunft, mit vollkommner Schärfe zu sondern
und als Lebensabschnitt -- den wichtigsten -- festzustellen.
Dieser Lebensabschnitt ist aber nur ein solcher zu nennen,
in wie fern er von dem frühern verständigen oder phan¬
tastischen unterschieden werden muß, keinesweges aber in¬
dem er etwa ein in sich abgeschlossener wäre, denn er hat
vielmehr durchaus die Richtung auf ein Unendliches, nie zu
Erschöpfendes -- Ewiges. Auch ist deßhalb kein Augen¬
blick Stillstand in ihm, sondern eine fortgesetzte Entwick¬
lung und Entfaltung.

Es kann bei Erwägung dieser Entwicklungsgeschichte
des Geistes vollkommen deutlich werden, warum diejenige
Stufe des Geistes, welche wir Verstand nennen, keine Be¬
weise
enthalten und gewähren kann für irgend eine wahr¬
hafte Idee. Die höchste Idee -- die Idee aller Ideen --
Gott -- wird nie vom Verstande in ihrer Nothwendigkeit
bewiesen werden können, und jener Sophist hatte ganz
recht, wenn er sagte, nachdem man ihn für einen wohlge¬
führten Beweis vom Dasein Gottes belohnt hatte, für die
doppelte Belohnung sei er sogleich bereit auch das Nicht-
Dasein Gottes zu beweisen. Aber eben darum, weil hier
Alles darauf ankommt auf das feinste und reinste in dem
innern Wesen des Geistes zu lauschen, weil nur die volle

lichen Seele überhaupt, die ſich bereits von Haus aus als
eine andere, von der Thierſeele ſich durchaus unterſcheidende
geltend macht, in der Schönheit menſchlicher Bildung, in
dem erſten Blick des kindlichen Auges — lange zuvor
ehe ſie noch zum wahren Bewußtſein gelangt. Eben ſo
umſchwebt die Idee, als ein Höheres, ſchon den kindlichen
Verſtand, ſo kündigt ſie ſchon ihre Gegenwart an in der
erwachenden Phantaſie, und drängt ſie, Geſtalten zu ſchaffen,
welche Symbole von Ideen ausdrücken; und eben darum
iſt es, daß es ſchwer, ja faſt unmöglich wird, die all¬
mählig immer deutlicher werdende Ahnung der Idee von
dem endlichen Schauen, und dem ſomit wahrhaften Er¬
wachen der Vernunft, mit vollkommner Schärfe zu ſondern
und als Lebensabſchnitt — den wichtigſten — feſtzuſtellen.
Dieſer Lebensabſchnitt iſt aber nur ein ſolcher zu nennen,
in wie fern er von dem frühern verſtändigen oder phan¬
taſtiſchen unterſchieden werden muß, keinesweges aber in¬
dem er etwa ein in ſich abgeſchloſſener wäre, denn er hat
vielmehr durchaus die Richtung auf ein Unendliches, nie zu
Erſchöpfendes — Ewiges. Auch iſt deßhalb kein Augen¬
blick Stillſtand in ihm, ſondern eine fortgeſetzte Entwick¬
lung und Entfaltung.

Es kann bei Erwägung dieſer Entwicklungsgeſchichte
des Geiſtes vollkommen deutlich werden, warum diejenige
Stufe des Geiſtes, welche wir Verſtand nennen, keine Be¬
weiſe
enthalten und gewähren kann für irgend eine wahr¬
hafte Idee. Die höchſte Idee — die Idee aller Ideen —
Gott — wird nie vom Verſtande in ihrer Nothwendigkeit
bewieſen werden können, und jener Sophiſt hatte ganz
recht, wenn er ſagte, nachdem man ihn für einen wohlge¬
führten Beweis vom Daſein Gottes belohnt hatte, für die
doppelte Belohnung ſei er ſogleich bereit auch das Nicht-
Daſein Gottes zu beweiſen. Aber eben darum, weil hier
Alles darauf ankommt auf das feinſte und reinſte in dem
innern Weſen des Geiſtes zu lauſchen, weil nur die volle

<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <div n="3">
            <p><pb facs="#f0187" n="171"/>
lichen Seele überhaupt, die &#x017F;ich bereits von Haus aus als<lb/>
eine andere, von der Thier&#x017F;eele &#x017F;ich durchaus unter&#x017F;cheidende<lb/>
geltend macht, in der Schönheit men&#x017F;chlicher Bildung, in<lb/>
dem er&#x017F;ten Blick des kindlichen Auges &#x2014; lange zuvor<lb/>
ehe &#x017F;ie noch zum wahren Bewußt&#x017F;ein gelangt. Eben &#x017F;o<lb/>
um&#x017F;chwebt die Idee, als ein Höheres, &#x017F;chon den kindlichen<lb/>
Ver&#x017F;tand, &#x017F;o kündigt &#x017F;ie &#x017F;chon ihre Gegenwart an in der<lb/>
erwachenden Phanta&#x017F;ie, und drängt &#x017F;ie, Ge&#x017F;talten zu &#x017F;chaffen,<lb/>
welche Symbole von Ideen ausdrücken; und eben darum<lb/>
i&#x017F;t es, daß es &#x017F;chwer, ja fa&#x017F;t unmöglich wird, die all¬<lb/>
mählig immer deutlicher werdende <hi rendition="#g">Ahnung</hi> der Idee von<lb/>
dem endlichen <hi rendition="#g">Schauen</hi>, und dem &#x017F;omit wahrhaften Er¬<lb/>
wachen der Vernunft, mit vollkommner Schärfe zu &#x017F;ondern<lb/>
und als Lebensab&#x017F;chnitt &#x2014; den wichtig&#x017F;ten &#x2014; fe&#x017F;tzu&#x017F;tellen.<lb/>
Die&#x017F;er Lebensab&#x017F;chnitt i&#x017F;t aber nur ein &#x017F;olcher zu nennen,<lb/>
in wie fern er von dem frühern ver&#x017F;tändigen oder phan¬<lb/>
ta&#x017F;ti&#x017F;chen unter&#x017F;chieden werden muß, keinesweges aber in¬<lb/>
dem er etwa ein in &#x017F;ich abge&#x017F;chlo&#x017F;&#x017F;ener wäre, denn er hat<lb/>
vielmehr durchaus die Richtung auf ein Unendliches, nie zu<lb/>
Er&#x017F;chöpfendes &#x2014; Ewiges. Auch i&#x017F;t deßhalb kein Augen¬<lb/>
blick Still&#x017F;tand in ihm, &#x017F;ondern eine fortge&#x017F;etzte Entwick¬<lb/>
lung und Entfaltung.</p><lb/>
            <p>Es kann bei Erwägung die&#x017F;er Entwicklungsge&#x017F;chichte<lb/>
des Gei&#x017F;tes vollkommen deutlich werden, warum diejenige<lb/>
Stufe des Gei&#x017F;tes, welche wir Ver&#x017F;tand nennen, keine <hi rendition="#g">Be¬<lb/>
wei&#x017F;e</hi> enthalten und gewähren kann für irgend eine wahr¬<lb/>
hafte Idee. Die höch&#x017F;te Idee &#x2014; die Idee aller Ideen &#x2014;<lb/>
Gott &#x2014; wird nie vom Ver&#x017F;tande in ihrer Nothwendigkeit<lb/><hi rendition="#g">bewie&#x017F;en</hi> werden können, und jener Sophi&#x017F;t hatte ganz<lb/>
recht, wenn er &#x017F;agte, nachdem man ihn für einen wohlge¬<lb/>
führten Beweis vom Da&#x017F;ein Gottes belohnt hatte, für die<lb/>
doppelte Belohnung &#x017F;ei er &#x017F;ogleich bereit auch das Nicht-<lb/>
Da&#x017F;ein Gottes zu bewei&#x017F;en. Aber eben darum, weil hier<lb/>
Alles darauf ankommt auf das fein&#x017F;te und rein&#x017F;te in dem<lb/>
innern We&#x017F;en des Gei&#x017F;tes zu lau&#x017F;chen, weil nur die volle<lb/></p>
          </div>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[171/0187] lichen Seele überhaupt, die ſich bereits von Haus aus als eine andere, von der Thierſeele ſich durchaus unterſcheidende geltend macht, in der Schönheit menſchlicher Bildung, in dem erſten Blick des kindlichen Auges — lange zuvor ehe ſie noch zum wahren Bewußtſein gelangt. Eben ſo umſchwebt die Idee, als ein Höheres, ſchon den kindlichen Verſtand, ſo kündigt ſie ſchon ihre Gegenwart an in der erwachenden Phantaſie, und drängt ſie, Geſtalten zu ſchaffen, welche Symbole von Ideen ausdrücken; und eben darum iſt es, daß es ſchwer, ja faſt unmöglich wird, die all¬ mählig immer deutlicher werdende Ahnung der Idee von dem endlichen Schauen, und dem ſomit wahrhaften Er¬ wachen der Vernunft, mit vollkommner Schärfe zu ſondern und als Lebensabſchnitt — den wichtigſten — feſtzuſtellen. Dieſer Lebensabſchnitt iſt aber nur ein ſolcher zu nennen, in wie fern er von dem frühern verſtändigen oder phan¬ taſtiſchen unterſchieden werden muß, keinesweges aber in¬ dem er etwa ein in ſich abgeſchloſſener wäre, denn er hat vielmehr durchaus die Richtung auf ein Unendliches, nie zu Erſchöpfendes — Ewiges. Auch iſt deßhalb kein Augen¬ blick Stillſtand in ihm, ſondern eine fortgeſetzte Entwick¬ lung und Entfaltung. Es kann bei Erwägung dieſer Entwicklungsgeſchichte des Geiſtes vollkommen deutlich werden, warum diejenige Stufe des Geiſtes, welche wir Verſtand nennen, keine Be¬ weiſe enthalten und gewähren kann für irgend eine wahr¬ hafte Idee. Die höchſte Idee — die Idee aller Ideen — Gott — wird nie vom Verſtande in ihrer Nothwendigkeit bewieſen werden können, und jener Sophiſt hatte ganz recht, wenn er ſagte, nachdem man ihn für einen wohlge¬ führten Beweis vom Daſein Gottes belohnt hatte, für die doppelte Belohnung ſei er ſogleich bereit auch das Nicht- Daſein Gottes zu beweiſen. Aber eben darum, weil hier Alles darauf ankommt auf das feinſte und reinſte in dem innern Weſen des Geiſtes zu lauſchen, weil nur die volle

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
TCF (tokenisiert, serialisiert, lemmatisiert, normalisiert)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde von OCR-Software automatisch erfasst und anschließend gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien von Muttersprachlern nachkontrolliert. Es wurde gemäß dem DTA-Basisformat in XML/TEI P5 kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/carus_psyche_1846
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/carus_psyche_1846/187
Zitationshilfe: Carus, Carl Gustav: Psyche. Zur Entwicklungsgeschichte der Seele. Pforzheim, 1846, S. 171. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/carus_psyche_1846/187>, abgerufen am 29.04.2024.