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Carus, Carl Gustav: Psyche. Zur Entwicklungsgeschichte der Seele. Pforzheim, 1846.

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Gefühl in Betrachtung angemessen verfolgen können, wenn
er nicht ausgeht von Erwägung jenes mächtigsten Gegen¬
satzes, den ein geheimnißvolles unbewußtes Walten der Idee
der Menschheit in der Zweiheit der Geschlechter prometheisch
dargebildet hat, und dessen große Bedeutung für Fortbildung
der Gattung weiter oben entwickelt worden ist. Daran
nämlich, daß in jeder einzelnen Verwirklichung die Mensch¬
heit nach zwei organisch entgegengesetzten Polen, als Männ¬
liches und Weibliches, auseinanderweichen muß, um gerade
aus dieser Trennung und in der Wiedervereinigung der¬
selben sich selbst immerfort neu zu erzeugen, ist das wesent¬
liche Mysterium geknüpft, auf welchem und aus welchem
die Blüthe der Liebe, von welcher hier jetzt die Rede ist,
allein hervorgehen kann. Diesen merkwürdigen Gegensatz
muß man vor allen Dingen sich möglichst verdeutlichen,
damit es anschaulich werde, wie, in Folge eines tiefen unbe¬
wußten Waltens, zwei Daseinsformen der Menschheit immer¬
fort neu dargebildet werden, welche eben durch ihre Ver¬
schiedenheit innerhalb einer gewissen Gleichartigkeit (und hierin
liegt das Grundwesen aller Sympathie) sich mit der größten
Macht anziehen, mit der lebhaftesten Sehnsucht suchen, 1 und
zuhöchst nun in ihrem sich Finden und in einander Ueber¬
gehen, die Befriedigung ihres Daseins erreichen. Schon
die Geschichte der ganz unbewußt oder nur mit dunklem
Weltbewußtsein sich darlebenden andern Organismen ist höchst
bedeutungsvoll für diese Vorgänge. Das höchste Gebilde
der Pflanzenwelt, die Blüthe, zerfällt in polare Organe,

1 Diese Sehnsucht, diese mächtige Einwirkung des ersehnten Gegen¬
standes auf den sehnenden, hat im Phaidros bei Plato die schönste Dar¬
stellung gefunden. Wie tiefsinnig das unbewußte Walten der Seele dabei
erfaßt ist, geht auch daraus hervor, daß die Einwirkung des Schauens
des Geliebten auf Entwicklung und Erregung der Seele, dem Hervor¬
treiben des Gefieders, also eben einem unbewußten Gestaltungsvorgange,
mannichfaltig verglichen wird. Seltsamer Weise war jedoch damals noch
die Gott bestimmte Liebe der Geschlechter nicht in ihrer höhern Bedeutung
erfaßt, und, vielleicht wegen einer zu geringen geistigen Entwicklung des
weiblichen Geschlechts überhaupt, offenbarte sich die heftigere Liebe noch
allein im Verhältniß von männlicher zu männlicher Natur.

Gefühl in Betrachtung angemeſſen verfolgen können, wenn
er nicht ausgeht von Erwägung jenes mächtigſten Gegen¬
ſatzes, den ein geheimnißvolles unbewußtes Walten der Idee
der Menſchheit in der Zweiheit der Geſchlechter prometheïſch
dargebildet hat, und deſſen große Bedeutung für Fortbildung
der Gattung weiter oben entwickelt worden iſt. Daran
nämlich, daß in jeder einzelnen Verwirklichung die Menſch¬
heit nach zwei organiſch entgegengeſetzten Polen, als Männ¬
liches und Weibliches, auseinanderweichen muß, um gerade
aus dieſer Trennung und in der Wiedervereinigung der¬
ſelben ſich ſelbſt immerfort neu zu erzeugen, iſt das weſent¬
liche Myſterium geknüpft, auf welchem und aus welchem
die Blüthe der Liebe, von welcher hier jetzt die Rede iſt,
allein hervorgehen kann. Dieſen merkwürdigen Gegenſatz
muß man vor allen Dingen ſich möglichſt verdeutlichen,
damit es anſchaulich werde, wie, in Folge eines tiefen unbe¬
wußten Waltens, zwei Daſeinsformen der Menſchheit immer¬
fort neu dargebildet werden, welche eben durch ihre Ver¬
ſchiedenheit innerhalb einer gewiſſen Gleichartigkeit (und hierin
liegt das Grundweſen aller Sympathie) ſich mit der größten
Macht anziehen, mit der lebhafteſten Sehnſucht ſuchen, 1 und
zuhöchſt nun in ihrem ſich Finden und in einander Ueber¬
gehen, die Befriedigung ihres Daſeins erreichen. Schon
die Geſchichte der ganz unbewußt oder nur mit dunklem
Weltbewußtſein ſich darlebenden andern Organismen iſt höchſt
bedeutungsvoll für dieſe Vorgänge. Das höchſte Gebilde
der Pflanzenwelt, die Blüthe, zerfällt in polare Organe,

1 Dieſe Sehnſucht, dieſe mächtige Einwirkung des erſehnten Gegen¬
ſtandes auf den ſehnenden, hat im Phaidros bei Plato die ſchönſte Dar¬
ſtellung gefunden. Wie tiefſinnig das unbewußte Walten der Seele dabei
erfaßt iſt, geht auch daraus hervor, daß die Einwirkung des Schauens
des Geliebten auf Entwicklung und Erregung der Seele, dem Hervor¬
treiben des Gefieders, alſo eben einem unbewußten Geſtaltungsvorgange,
mannichfaltig verglichen wird. Seltſamer Weiſe war jedoch damals noch
die Gott beſtimmte Liebe der Geſchlechter nicht in ihrer höhern Bedeutung
erfaßt, und, vielleicht wegen einer zu geringen geiſtigen Entwicklung des
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allein im Verhältniß von männlicher zu männlicher Natur.
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[284/0300] Gefühl in Betrachtung angemeſſen verfolgen können, wenn er nicht ausgeht von Erwägung jenes mächtigſten Gegen¬ ſatzes, den ein geheimnißvolles unbewußtes Walten der Idee der Menſchheit in der Zweiheit der Geſchlechter prometheïſch dargebildet hat, und deſſen große Bedeutung für Fortbildung der Gattung weiter oben entwickelt worden iſt. Daran nämlich, daß in jeder einzelnen Verwirklichung die Menſch¬ heit nach zwei organiſch entgegengeſetzten Polen, als Männ¬ liches und Weibliches, auseinanderweichen muß, um gerade aus dieſer Trennung und in der Wiedervereinigung der¬ ſelben ſich ſelbſt immerfort neu zu erzeugen, iſt das weſent¬ liche Myſterium geknüpft, auf welchem und aus welchem die Blüthe der Liebe, von welcher hier jetzt die Rede iſt, allein hervorgehen kann. Dieſen merkwürdigen Gegenſatz muß man vor allen Dingen ſich möglichſt verdeutlichen, damit es anſchaulich werde, wie, in Folge eines tiefen unbe¬ wußten Waltens, zwei Daſeinsformen der Menſchheit immer¬ fort neu dargebildet werden, welche eben durch ihre Ver¬ ſchiedenheit innerhalb einer gewiſſen Gleichartigkeit (und hierin liegt das Grundweſen aller Sympathie) ſich mit der größten Macht anziehen, mit der lebhafteſten Sehnſucht ſuchen, 1 und zuhöchſt nun in ihrem ſich Finden und in einander Ueber¬ gehen, die Befriedigung ihres Daſeins erreichen. Schon die Geſchichte der ganz unbewußt oder nur mit dunklem Weltbewußtſein ſich darlebenden andern Organismen iſt höchſt bedeutungsvoll für dieſe Vorgänge. Das höchſte Gebilde der Pflanzenwelt, die Blüthe, zerfällt in polare Organe, 1 Dieſe Sehnſucht, dieſe mächtige Einwirkung des erſehnten Gegen¬ ſtandes auf den ſehnenden, hat im Phaidros bei Plato die ſchönſte Dar¬ ſtellung gefunden. Wie tiefſinnig das unbewußte Walten der Seele dabei erfaßt iſt, geht auch daraus hervor, daß die Einwirkung des Schauens des Geliebten auf Entwicklung und Erregung der Seele, dem Hervor¬ treiben des Gefieders, alſo eben einem unbewußten Geſtaltungsvorgange, mannichfaltig verglichen wird. Seltſamer Weiſe war jedoch damals noch die Gott beſtimmte Liebe der Geſchlechter nicht in ihrer höhern Bedeutung erfaßt, und, vielleicht wegen einer zu geringen geiſtigen Entwicklung des weiblichen Geſchlechts überhaupt, offenbarte ſich die heftigere Liebe noch allein im Verhältniß von männlicher zu männlicher Natur.

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Zitationshilfe: Carus, Carl Gustav: Psyche. Zur Entwicklungsgeschichte der Seele. Pforzheim, 1846, S. 284. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/carus_psyche_1846/300>, abgerufen am 29.04.2024.