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Chamberlain, Houston Stewart: Die Grundlagen des Neunzehnten Jahrhunderts. Bd. 1. München 1899.

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Das Erbe der alten Welt.
Was wir in ihren Dichtungen gelesen zu haben uns erinnern -- die
Irrfahrten des Odysseus und der Io u. s. w. -- schien gar verwirrt
und wurde durch die sich widersprechenden Kommentare nur noch
verwirrter. Bis zu Alexander's Zeiten sind die Griechen ausserdem
nicht weit in der Welt herumgekommen. Man nehme aber Dr. Hugo
Berger's: Geschichte der wissenschaftlichen Erdkunde der Griechen
zur Hand, ein streng wissenschaftliches Werk, und man wird aus dem
Staunen nicht herauskommen. Auf der Schule erfahren wir zumeist
nur von Ptolemäus etwas, und seine geographische Karte mutet uns
fast ebenso sonderbar an, wie seine ineinander geschachtelten Himmels-
sphären; das ist jedoch alles das Ergebnis einer Zeit des Verfalles,
einer zwar unendlich vervollkommneten, dabei aber intuitionsschwach
gewordenen Wissenschaft, der Wissenschaft eines rassenlosen Völker-
chaos; dagegen lasse man sich über die geographischen Vorstellungen
der echten Griechen unterrichten, von Anaximander an bis zu Eratho-
stenes, und dann wird man Berger's Behauptung verstehen: "Die
Leistungen des wunderbar begabten Griechenvolkes auf dem Gebiete
der wissenschaftlichen Erdkunde sind der Arbeit wahrlich wert. Noch
heute begegnen wir ihren Spuren auf Schritt und Tritt und können
die von ihnen geschaffenen Grundlagen nicht entbehren" (I, S. VI).
Besonders auffallend sind die verhältnismässig ausgebreiteten Kenntnisse
und gesunde Vorstellungskraft der alten Ionier. Später erfolgten be-
denkliche Rückschritte und zwar vornehmlich durch den Einfluss "der
Verächter der Physik, Meteorologie und Mathematik, durch die vor-
sichtigen Leute,
die nur dem eigenen Auge, oder der von Augen-
zeugen eigens erworbenen, glaubhaften Kunde trauen wollten" (I, 139).
Noch später gesellten sich dann so kräftige wissenschaftliche Vorurteile
dazu, dass die Reisen des "ersten Nordpolfahrers", Pytheas (ein Zeit-
genosse des Aristoteles) mit ihren genauen Beschreibungen der Küsten
Galliens und Britanniens, ihren Erzählungen vom Eismeer, ihren so
entscheidenden Beobachtungen über die Tag- und Nachtlänge in
nördlichen Breiten, von allen Gelehrten des Altertums für Lügen
erklärt wurden (III, 7, dazu das heutige Urteil III, 36). Philipp
Paulitschke macht ebenfalls in seinem Werke: Die geographische
Erforschung des afrikanischen Kontinents
(zweite Ausgabe, S. 9) darauf
aufmerksam, dass Herodot eine weit richtigere Vorstellung der Umrisse
von Afrika besessen habe als Ptolemäus. Dieser galt aber als "Autorität".
Es hat ein eigenes Bewenden mit diesen allverehrten "Autoritäten";
und mit aufrichtigem Bedauern konstatiere ich, dass wir von den

Das Erbe der alten Welt.
Was wir in ihren Dichtungen gelesen zu haben uns erinnern — die
Irrfahrten des Odysseus und der Io u. s. w. — schien gar verwirrt
und wurde durch die sich widersprechenden Kommentare nur noch
verwirrter. Bis zu Alexander’s Zeiten sind die Griechen ausserdem
nicht weit in der Welt herumgekommen. Man nehme aber Dr. Hugo
Berger’s: Geschichte der wissenschaftlichen Erdkunde der Griechen
zur Hand, ein streng wissenschaftliches Werk, und man wird aus dem
Staunen nicht herauskommen. Auf der Schule erfahren wir zumeist
nur von Ptolemäus etwas, und seine geographische Karte mutet uns
fast ebenso sonderbar an, wie seine ineinander geschachtelten Himmels-
sphären; das ist jedoch alles das Ergebnis einer Zeit des Verfalles,
einer zwar unendlich vervollkommneten, dabei aber intuitionsschwach
gewordenen Wissenschaft, der Wissenschaft eines rassenlosen Völker-
chaos; dagegen lasse man sich über die geographischen Vorstellungen
der echten Griechen unterrichten, von Anaximander an bis zu Eratho-
stenes, und dann wird man Berger’s Behauptung verstehen: »Die
Leistungen des wunderbar begabten Griechenvolkes auf dem Gebiete
der wissenschaftlichen Erdkunde sind der Arbeit wahrlich wert. Noch
heute begegnen wir ihren Spuren auf Schritt und Tritt und können
die von ihnen geschaffenen Grundlagen nicht entbehren« (I, S. VI).
Besonders auffallend sind die verhältnismässig ausgebreiteten Kenntnisse
und gesunde Vorstellungskraft der alten Ionier. Später erfolgten be-
denkliche Rückschritte und zwar vornehmlich durch den Einfluss »der
Verächter der Physik, Meteorologie und Mathematik, durch die vor-
sichtigen Leute,
die nur dem eigenen Auge, oder der von Augen-
zeugen eigens erworbenen, glaubhaften Kunde trauen wollten« (I, 139).
Noch später gesellten sich dann so kräftige wissenschaftliche Vorurteile
dazu, dass die Reisen des »ersten Nordpolfahrers«, Pytheas (ein Zeit-
genosse des Aristoteles) mit ihren genauen Beschreibungen der Küsten
Galliens und Britanniens, ihren Erzählungen vom Eismeer, ihren so
entscheidenden Beobachtungen über die Tag- und Nachtlänge in
nördlichen Breiten, von allen Gelehrten des Altertums für Lügen
erklärt wurden (III, 7, dazu das heutige Urteil III, 36). Philipp
Paulitschke macht ebenfalls in seinem Werke: Die geographische
Erforschung des afrikanischen Kontinents
(zweite Ausgabe, S. 9) darauf
aufmerksam, dass Herodot eine weit richtigere Vorstellung der Umrisse
von Afrika besessen habe als Ptolemäus. Dieser galt aber als »Autorität«.
Es hat ein eigenes Bewenden mit diesen allverehrten »Autoritäten«;
und mit aufrichtigem Bedauern konstatiere ich, dass wir von den

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[84/0107] Das Erbe der alten Welt. Was wir in ihren Dichtungen gelesen zu haben uns erinnern — die Irrfahrten des Odysseus und der Io u. s. w. — schien gar verwirrt und wurde durch die sich widersprechenden Kommentare nur noch verwirrter. Bis zu Alexander’s Zeiten sind die Griechen ausserdem nicht weit in der Welt herumgekommen. Man nehme aber Dr. Hugo Berger’s: Geschichte der wissenschaftlichen Erdkunde der Griechen zur Hand, ein streng wissenschaftliches Werk, und man wird aus dem Staunen nicht herauskommen. Auf der Schule erfahren wir zumeist nur von Ptolemäus etwas, und seine geographische Karte mutet uns fast ebenso sonderbar an, wie seine ineinander geschachtelten Himmels- sphären; das ist jedoch alles das Ergebnis einer Zeit des Verfalles, einer zwar unendlich vervollkommneten, dabei aber intuitionsschwach gewordenen Wissenschaft, der Wissenschaft eines rassenlosen Völker- chaos; dagegen lasse man sich über die geographischen Vorstellungen der echten Griechen unterrichten, von Anaximander an bis zu Eratho- stenes, und dann wird man Berger’s Behauptung verstehen: »Die Leistungen des wunderbar begabten Griechenvolkes auf dem Gebiete der wissenschaftlichen Erdkunde sind der Arbeit wahrlich wert. Noch heute begegnen wir ihren Spuren auf Schritt und Tritt und können die von ihnen geschaffenen Grundlagen nicht entbehren« (I, S. VI). Besonders auffallend sind die verhältnismässig ausgebreiteten Kenntnisse und gesunde Vorstellungskraft der alten Ionier. Später erfolgten be- denkliche Rückschritte und zwar vornehmlich durch den Einfluss »der Verächter der Physik, Meteorologie und Mathematik, durch die vor- sichtigen Leute, die nur dem eigenen Auge, oder der von Augen- zeugen eigens erworbenen, glaubhaften Kunde trauen wollten« (I, 139). Noch später gesellten sich dann so kräftige wissenschaftliche Vorurteile dazu, dass die Reisen des »ersten Nordpolfahrers«, Pytheas (ein Zeit- genosse des Aristoteles) mit ihren genauen Beschreibungen der Küsten Galliens und Britanniens, ihren Erzählungen vom Eismeer, ihren so entscheidenden Beobachtungen über die Tag- und Nachtlänge in nördlichen Breiten, von allen Gelehrten des Altertums für Lügen erklärt wurden (III, 7, dazu das heutige Urteil III, 36). Philipp Paulitschke macht ebenfalls in seinem Werke: Die geographische Erforschung des afrikanischen Kontinents (zweite Ausgabe, S. 9) darauf aufmerksam, dass Herodot eine weit richtigere Vorstellung der Umrisse von Afrika besessen habe als Ptolemäus. Dieser galt aber als »Autorität«. Es hat ein eigenes Bewenden mit diesen allverehrten »Autoritäten«; und mit aufrichtigem Bedauern konstatiere ich, dass wir von den

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Zitationshilfe: Chamberlain, Houston Stewart: Die Grundlagen des Neunzehnten Jahrhunderts. Bd. 1. München 1899, S. 84. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/chamberlain_grundlagen01_1899/107>, abgerufen am 28.04.2024.