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Chamberlain, Houston Stewart: Die Grundlagen des Neunzehnten Jahrhunderts. Bd. 1. München 1899.

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Hellenische Kunst und Philosophie.
Hellenen nicht allein die Ergebnisse ihrer -- nach Berger -- "wunder-
baren Begabung", sondern auch ihre Autoritätenzüchtung und ihren
Autoritätenglauben geerbt haben. -- Eigentümlich lehrreich ist in
dieser Beziehung die Geschichte der Petrefaktenkunde. Mit der vollen
Naivetät der unverdorbenen Anschauungskraft hatten die alten Griechen,
lange vor Plato und Aristoteles, die Muscheln auf den Bergesspitzen
und sogar die Abdrücke von Fischen für das erkannt, was sie sind;
Männer wie Xenophanes und Empedokles hatten darauf geocyklische
und entwickelungsgeschichtliche Lehren gegründet. Die Autoritäten
erklärten jedoch diese Annahme für unsinnig; als die Thatsachen
sich häuften, wurden sie durch die herrliche Theorie der vis plastica
aus der Welt geschafft1), und erst im Jahre 1517 wagte es ein Mann,
die alte Meinung wieder auszusprechen, die Bergesspitzen hätten einst
auf dem Meeresboden gelegen: "Im Jahre der Reformation war man
also, nach anderthalb Jahrtausenden, wieder auf dem Punkte des
klassischen Altertums angekommen".2) Fracastorius blieb aber mit
seiner Anschauung ziemlich vereinzelt, und, will man ermessen --
was heute nach den Fortschritten der Wissenschaften wirklich sehr
schwer fällt -- eine wie grosse, verehrungswürdige Kraft der Wahrheit
in dem Auge dieser alten Poeten lag (Xenophanes und Empedokles
waren beide in erster Reihe Dichter und Sänger), so empfehle ich,
in den Schriften des Freigeistes Voltaire nachzulesen und zu sehen,
mit welchem Spott die Paläontologen noch im Jahre 1768 von ihm
überhäuft werden.3) Ebenso belustigend sind die krampfhaften Ver-
suche seines Skepticismus, sich gegen die Evidenz zu wehren. Man
hatte Austern auf dem Mont Cenis gefunden: Voltaire meint, sie
seien von den Hüten der Rompilger abgefallen! Hippopotamus-
knochen waren unweit Paris aufgegraben worden: Voltaire meint:
un curieux a eu autrefois dans son cabinet le squelette d'un
hippopotame!
Man sieht, die Skepsis genügt nicht, um scharf-
sichtig zu machen.4) Dagegen liefern uns die ältesten Dichtungen

1) Nach Quenstedt stammt diese Hypothese von Avicenna; sie ist aber
auf Aristoteles zurückzuführen und wurde von Theophrast ausdrücklich gelehrt
(siehe Lyell: Principles of Geology, 12. Ausg., I, 20).
2) Quenstedt: Handbuch der Petrefaktenkunde, 2. Aufl., S. 2.
3) Siehe namentlich: Des singularites de la Nature, Kap. XII bis XVIII,
und L'homme aux quarante ecus, Kap. VI, beide Schriften aus dem Jahre 1768.
Ähnliches in seinen Briefen.
4) Dieser selbe Voltaire scheute sich nicht, die grossartigen astronomischen
Spekulationen der Pythagoreer als "galimatias" zu bezeichnen, wozu der berühmte

Hellenische Kunst und Philosophie.
Hellenen nicht allein die Ergebnisse ihrer — nach Berger — »wunder-
baren Begabung«, sondern auch ihre Autoritätenzüchtung und ihren
Autoritätenglauben geerbt haben. — Eigentümlich lehrreich ist in
dieser Beziehung die Geschichte der Petrefaktenkunde. Mit der vollen
Naivetät der unverdorbenen Anschauungskraft hatten die alten Griechen,
lange vor Plato und Aristoteles, die Muscheln auf den Bergesspitzen
und sogar die Abdrücke von Fischen für das erkannt, was sie sind;
Männer wie Xenophanes und Empedokles hatten darauf geocyklische
und entwickelungsgeschichtliche Lehren gegründet. Die Autoritäten
erklärten jedoch diese Annahme für unsinnig; als die Thatsachen
sich häuften, wurden sie durch die herrliche Theorie der vis plastica
aus der Welt geschafft1), und erst im Jahre 1517 wagte es ein Mann,
die alte Meinung wieder auszusprechen, die Bergesspitzen hätten einst
auf dem Meeresboden gelegen: »Im Jahre der Reformation war man
also, nach anderthalb Jahrtausenden, wieder auf dem Punkte des
klassischen Altertums angekommen«.2) Fracastorius blieb aber mit
seiner Anschauung ziemlich vereinzelt, und, will man ermessen —
was heute nach den Fortschritten der Wissenschaften wirklich sehr
schwer fällt — eine wie grosse, verehrungswürdige Kraft der Wahrheit
in dem Auge dieser alten Poeten lag (Xenophanes und Empedokles
waren beide in erster Reihe Dichter und Sänger), so empfehle ich,
in den Schriften des Freigeistes Voltaire nachzulesen und zu sehen,
mit welchem Spott die Paläontologen noch im Jahre 1768 von ihm
überhäuft werden.3) Ebenso belustigend sind die krampfhaften Ver-
suche seines Skepticismus, sich gegen die Evidenz zu wehren. Man
hatte Austern auf dem Mont Cenis gefunden: Voltaire meint, sie
seien von den Hüten der Rompilger abgefallen! Hippopotamus-
knochen waren unweit Paris aufgegraben worden: Voltaire meint:
un curieux a eu autrefois dans son cabinet le squelette d’un
hippopotame!
Man sieht, die Skepsis genügt nicht, um scharf-
sichtig zu machen.4) Dagegen liefern uns die ältesten Dichtungen

1) Nach Quenstedt stammt diese Hypothese von Avicenna; sie ist aber
auf Aristoteles zurückzuführen und wurde von Theophrast ausdrücklich gelehrt
(siehe Lyell: Principles of Geology, 12. Ausg., I, 20).
2) Quenstedt: Handbuch der Petrefaktenkunde, 2. Aufl., S. 2.
3) Siehe namentlich: Des singularités de la Nature, Kap. XII bis XVIII,
und L’homme aux quarante écus, Kap. VI, beide Schriften aus dem Jahre 1768.
Ähnliches in seinen Briefen.
4) Dieser selbe Voltaire scheute sich nicht, die grossartigen astronomischen
Spekulationen der Pythagoreer als »galimatias« zu bezeichnen, wozu der berühmte
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[85/0108] Hellenische Kunst und Philosophie. Hellenen nicht allein die Ergebnisse ihrer — nach Berger — »wunder- baren Begabung«, sondern auch ihre Autoritätenzüchtung und ihren Autoritätenglauben geerbt haben. — Eigentümlich lehrreich ist in dieser Beziehung die Geschichte der Petrefaktenkunde. Mit der vollen Naivetät der unverdorbenen Anschauungskraft hatten die alten Griechen, lange vor Plato und Aristoteles, die Muscheln auf den Bergesspitzen und sogar die Abdrücke von Fischen für das erkannt, was sie sind; Männer wie Xenophanes und Empedokles hatten darauf geocyklische und entwickelungsgeschichtliche Lehren gegründet. Die Autoritäten erklärten jedoch diese Annahme für unsinnig; als die Thatsachen sich häuften, wurden sie durch die herrliche Theorie der vis plastica aus der Welt geschafft 1), und erst im Jahre 1517 wagte es ein Mann, die alte Meinung wieder auszusprechen, die Bergesspitzen hätten einst auf dem Meeresboden gelegen: »Im Jahre der Reformation war man also, nach anderthalb Jahrtausenden, wieder auf dem Punkte des klassischen Altertums angekommen«. 2) Fracastorius blieb aber mit seiner Anschauung ziemlich vereinzelt, und, will man ermessen — was heute nach den Fortschritten der Wissenschaften wirklich sehr schwer fällt — eine wie grosse, verehrungswürdige Kraft der Wahrheit in dem Auge dieser alten Poeten lag (Xenophanes und Empedokles waren beide in erster Reihe Dichter und Sänger), so empfehle ich, in den Schriften des Freigeistes Voltaire nachzulesen und zu sehen, mit welchem Spott die Paläontologen noch im Jahre 1768 von ihm überhäuft werden. 3) Ebenso belustigend sind die krampfhaften Ver- suche seines Skepticismus, sich gegen die Evidenz zu wehren. Man hatte Austern auf dem Mont Cenis gefunden: Voltaire meint, sie seien von den Hüten der Rompilger abgefallen! Hippopotamus- knochen waren unweit Paris aufgegraben worden: Voltaire meint: un curieux a eu autrefois dans son cabinet le squelette d’un hippopotame! Man sieht, die Skepsis genügt nicht, um scharf- sichtig zu machen. 4) Dagegen liefern uns die ältesten Dichtungen 1) Nach Quenstedt stammt diese Hypothese von Avicenna; sie ist aber auf Aristoteles zurückzuführen und wurde von Theophrast ausdrücklich gelehrt (siehe Lyell: Principles of Geology, 12. Ausg., I, 20). 2) Quenstedt: Handbuch der Petrefaktenkunde, 2. Aufl., S. 2. 3) Siehe namentlich: Des singularités de la Nature, Kap. XII bis XVIII, und L’homme aux quarante écus, Kap. VI, beide Schriften aus dem Jahre 1768. Ähnliches in seinen Briefen. 4) Dieser selbe Voltaire scheute sich nicht, die grossartigen astronomischen Spekulationen der Pythagoreer als »galimatias« zu bezeichnen, wozu der berühmte

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Zitationshilfe: Chamberlain, Houston Stewart: Die Grundlagen des Neunzehnten Jahrhunderts. Bd. 1. München 1899, S. 85. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/chamberlain_grundlagen01_1899/108>, abgerufen am 28.04.2024.