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Chamberlain, Houston Stewart: Die Grundlagen des Neunzehnten Jahrhunderts. Bd. 1. München 1899.

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Hellenische Kunst und Philosophie.
Kraft der Phantasie, des Shakespeare'schen "Hinausprojizierens", dies
voraussetzt, hat die Folge gezeigt: Bruno büsste seine Vorstellungs-
kraft mit dem Leben, Galilei mit der Freiheit, -- erst in unserem
hochgelobten 19. Jahrhundert (im Jahre 1822) hat die katholische
Kirche die Erlaubnis erteilt, an das -- 2100 Jahre früher von den
Griechen gelehrte -- heliozentrische System zu glauben! Auch
darf nie übersehen werden, dass diese geniale Reinigung der Wirk-
lichkeit vom Scheine von den als Mystagogen verschrieenen Pytha-
goreern ausging, und an dem Idealisten Plato, namentlich gegen
Schluss seines Lebens, eine Stütze fand, während der Verkünder der
alleinseligmachenden Induction, Aristoteles, mit der ganzen Wucht
seiner Empirie gegen die Lehre von einer Bewegung der Erde herzog:
"die Pythagoreer", schreibt er mit Bezug auf die von ihm geleugnete
Achsendrehung der Erde, "leiten Gründe und Ursachen nicht aus
den beobachteten Erscheinungen ab, sondern sind bestrebt, die Er-
scheinungen mit etlichen eigenen Ansichten und Voraussetzungen zu
vereinigen, auf diese Art versuchen sie in die Weltbildung einzu-
greifen" (De coelo, II, 13). Diese Gegenüberstellung sollte wohl
manchem Sohne unseres Jahrhunderts zu denken geben, denn an
aristotelisierenden Naturforschern fehlt es uns nicht, und in unseren
neuesten wissenschaftlichen Lehren steckt nicht weniger halsstarriger
Dogmatismus als in denen der aristotelico-semito-christlichen Kirche.1) --

Zeugnisse in Bezug auf Aristarchos vergl. die genannte Schrift des Schiaparelli
(S. 121 fg. und 219). Übrigens ist dieser Astronom überzeugt, dass Aristarch
nur lehrte, was schon zu Lebzeiten des Aristoteles entdeckt war (S. 117), und auch
hier zeigt er, wie auf dem von den Pythagoreern eingeschlagenen Wege das
Richtige herauskommen musste. Ohne Aristoteles und ohne den Neoplatonismus
wäre das heliozentrische System schon bei der Geburt Christi allgemein als wahr
anerkannt gewesen; wahrlich, der Stagyrit hat seine Stellung als offizieller Philo-
soph der orthodoxen Kirche redlich verdient! Dagegen hat sich die Märe, dass
schon die Ägypter irgend etwas zu der Lösung des astrophysischen Problems
beigetragen hätten, wie so manche andere ägyptische Märe, als gänzlich unhaltbar
erwiesen (Schiaparelli, S. 105--6). Übrigens meldet Kopernikus selber in seiner
Vorrede an Papst Paul III.: "Ich fand zuerst bei Cicero, dass Nicetus geglaubt
habe, die Erde bewege sich. Nachher fand ich auch bei Plutarch, dass einige
andere ebenfalls dieser Meinung gewesen seien. Hiervon also Veranlassung nehmend,
fing auch ich an, über die Beweglichkeit der Erde nachzudenken ...."
1) Was der englische Physiker John Tyndall in seiner bekannten Rede
in Belfast, 1874, sagte: "Aristoteles setzte Worte an die Stelle der Dinge; er
predigte Induktion, ohne sie auszuüben", wird eine spätere Zeit von manchem
Ernst Haeckel unseres Jahrhunderts urteilen. -- Nebenbei verdient erwähnt zu

Hellenische Kunst und Philosophie.
Kraft der Phantasie, des Shakespeare’schen »Hinausprojizierens«, dies
voraussetzt, hat die Folge gezeigt: Bruno büsste seine Vorstellungs-
kraft mit dem Leben, Galilei mit der Freiheit, — erst in unserem
hochgelobten 19. Jahrhundert (im Jahre 1822) hat die katholische
Kirche die Erlaubnis erteilt, an das — 2100 Jahre früher von den
Griechen gelehrte — heliozentrische System zu glauben! Auch
darf nie übersehen werden, dass diese geniale Reinigung der Wirk-
lichkeit vom Scheine von den als Mystagogen verschrieenen Pytha-
goreern ausging, und an dem Idealisten Plato, namentlich gegen
Schluss seines Lebens, eine Stütze fand, während der Verkünder der
alleinseligmachenden Induction, Aristoteles, mit der ganzen Wucht
seiner Empirie gegen die Lehre von einer Bewegung der Erde herzog:
»die Pythagoreer«, schreibt er mit Bezug auf die von ihm geleugnete
Achsendrehung der Erde, »leiten Gründe und Ursachen nicht aus
den beobachteten Erscheinungen ab, sondern sind bestrebt, die Er-
scheinungen mit etlichen eigenen Ansichten und Voraussetzungen zu
vereinigen, auf diese Art versuchen sie in die Weltbildung einzu-
greifen« (De coelo, II, 13). Diese Gegenüberstellung sollte wohl
manchem Sohne unseres Jahrhunderts zu denken geben, denn an
aristotelisierenden Naturforschern fehlt es uns nicht, und in unseren
neuesten wissenschaftlichen Lehren steckt nicht weniger halsstarriger
Dogmatismus als in denen der aristotelico-semito-christlichen Kirche.1)

Zeugnisse in Bezug auf Aristarchos vergl. die genannte Schrift des Schiaparelli
(S. 121 fg. und 219). Übrigens ist dieser Astronom überzeugt, dass Aristarch
nur lehrte, was schon zu Lebzeiten des Aristoteles entdeckt war (S. 117), und auch
hier zeigt er, wie auf dem von den Pythagoreern eingeschlagenen Wege das
Richtige herauskommen musste. Ohne Aristoteles und ohne den Neoplatonismus
wäre das heliozentrische System schon bei der Geburt Christi allgemein als wahr
anerkannt gewesen; wahrlich, der Stagyrit hat seine Stellung als offizieller Philo-
soph der orthodoxen Kirche redlich verdient! Dagegen hat sich die Märe, dass
schon die Ägypter irgend etwas zu der Lösung des astrophysischen Problems
beigetragen hätten, wie so manche andere ägyptische Märe, als gänzlich unhaltbar
erwiesen (Schiaparelli, S. 105—6). Übrigens meldet Kopernikus selber in seiner
Vorrede an Papst Paul III.: »Ich fand zuerst bei Cicero, dass Nicetus geglaubt
habe, die Erde bewege sich. Nachher fand ich auch bei Plutarch, dass einige
andere ebenfalls dieser Meinung gewesen seien. Hiervon also Veranlassung nehmend,
fing auch ich an, über die Beweglichkeit der Erde nachzudenken ....«
1) Was der englische Physiker John Tyndall in seiner bekannten Rede
in Belfast, 1874, sagte: »Aristoteles setzte Worte an die Stelle der Dinge; er
predigte Induktion, ohne sie auszuüben«, wird eine spätere Zeit von manchem
Ernst Haeckel unseres Jahrhunderts urteilen. — Nebenbei verdient erwähnt zu
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[87/0110] Hellenische Kunst und Philosophie. Kraft der Phantasie, des Shakespeare’schen »Hinausprojizierens«, dies voraussetzt, hat die Folge gezeigt: Bruno büsste seine Vorstellungs- kraft mit dem Leben, Galilei mit der Freiheit, — erst in unserem hochgelobten 19. Jahrhundert (im Jahre 1822) hat die katholische Kirche die Erlaubnis erteilt, an das — 2100 Jahre früher von den Griechen gelehrte — heliozentrische System zu glauben! Auch darf nie übersehen werden, dass diese geniale Reinigung der Wirk- lichkeit vom Scheine von den als Mystagogen verschrieenen Pytha- goreern ausging, und an dem Idealisten Plato, namentlich gegen Schluss seines Lebens, eine Stütze fand, während der Verkünder der alleinseligmachenden Induction, Aristoteles, mit der ganzen Wucht seiner Empirie gegen die Lehre von einer Bewegung der Erde herzog: »die Pythagoreer«, schreibt er mit Bezug auf die von ihm geleugnete Achsendrehung der Erde, »leiten Gründe und Ursachen nicht aus den beobachteten Erscheinungen ab, sondern sind bestrebt, die Er- scheinungen mit etlichen eigenen Ansichten und Voraussetzungen zu vereinigen, auf diese Art versuchen sie in die Weltbildung einzu- greifen« (De coelo, II, 13). Diese Gegenüberstellung sollte wohl manchem Sohne unseres Jahrhunderts zu denken geben, denn an aristotelisierenden Naturforschern fehlt es uns nicht, und in unseren neuesten wissenschaftlichen Lehren steckt nicht weniger halsstarriger Dogmatismus als in denen der aristotelico-semito-christlichen Kirche. 1) — 2) 1) Was der englische Physiker John Tyndall in seiner bekannten Rede in Belfast, 1874, sagte: »Aristoteles setzte Worte an die Stelle der Dinge; er predigte Induktion, ohne sie auszuüben«, wird eine spätere Zeit von manchem Ernst Haeckel unseres Jahrhunderts urteilen. — Nebenbei verdient erwähnt zu 2) Zeugnisse in Bezug auf Aristarchos vergl. die genannte Schrift des Schiaparelli (S. 121 fg. und 219). Übrigens ist dieser Astronom überzeugt, dass Aristarch nur lehrte, was schon zu Lebzeiten des Aristoteles entdeckt war (S. 117), und auch hier zeigt er, wie auf dem von den Pythagoreern eingeschlagenen Wege das Richtige herauskommen musste. Ohne Aristoteles und ohne den Neoplatonismus wäre das heliozentrische System schon bei der Geburt Christi allgemein als wahr anerkannt gewesen; wahrlich, der Stagyrit hat seine Stellung als offizieller Philo- soph der orthodoxen Kirche redlich verdient! Dagegen hat sich die Märe, dass schon die Ägypter irgend etwas zu der Lösung des astrophysischen Problems beigetragen hätten, wie so manche andere ägyptische Märe, als gänzlich unhaltbar erwiesen (Schiaparelli, S. 105—6). Übrigens meldet Kopernikus selber in seiner Vorrede an Papst Paul III.: »Ich fand zuerst bei Cicero, dass Nicetus geglaubt habe, die Erde bewege sich. Nachher fand ich auch bei Plutarch, dass einige andere ebenfalls dieser Meinung gewesen seien. Hiervon also Veranlassung nehmend, fing auch ich an, über die Beweglichkeit der Erde nachzudenken ....«

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Zitationshilfe: Chamberlain, Houston Stewart: Die Grundlagen des Neunzehnten Jahrhunderts. Bd. 1. München 1899, S. 87. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/chamberlain_grundlagen01_1899/110>, abgerufen am 29.04.2024.