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Chamberlain, Houston Stewart: Die Grundlagen des Neunzehnten Jahrhunderts. Bd. 1. München 1899.

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Das Erbe der alten Welt.
Ein ganz anders geartetes Beispiel des lebenspendenden Einflusses
griechischer Gestaltungskraft geben uns die Fortschritte der Mathematik,
speziell der Geometrie. Pythagoras ist der Begründer der wissen-
schaftlichen Mathematik in Europa; dass er seine Kenntnisse, namentlich
den sogenannten "pythagoreischen Lehrsatz", den Begriff der irrationalen
Grössen, und -- höchst wahrscheinlich -- auch seine Arithmetik den
Indern verdankt, ist allerdings erwiesen,1) und von der abstrakten Zahlen-
rechnung, deren angeblich "arabische Ziffern" wir den arischen Indern
verdanken, sagt Cantor: "Die Algebra entwickelte sich bei den
Indern in einer Höhe, die sie in Griechenland niemals zu erreichen
vermocht hat."2) Man sehe aber, zu welcher durchsichtigen Voll-
kommenheit die Griechen die Mathematik der Anschauung, die
Geometrie, gebracht haben! In der Schule Plato's war jener Euklid
gebildet, dessen "Elemente der Geometrie" ein so vollkommenes
Kunstwerk sind, dass es wirklich sehr zu bedauern wäre, wenn die
Einführung neuerer erleichterter Lehrmethoden einen solchen Edelstein
aus dem Gesichtskreis der meisten Gebildeten entfernen sollte. Vielleicht
gäbe ich meiner Vorliebe für Mathematik einen zu naiven Ausdruck,
wenn ich gestünde, Euklid's Elemente dünken mich fast eben so
schön wie Homer's Ilias? Jedenfalls darf ich es als keinen Zufall
betrachten, wenn der unvergleichliche Geometer zugleich ein be-
geisterter Tonkünstler war, dessen "Elemente der Musik", wenn wir
sie in der ursprünglichen Gestalt besässen, vielleicht ein würdiges
Gegenstück zu seinen "Elementen der Geometrie" bilden würden.
Und ich darf hierin den stammverwandten poetischen Geist erkennen,
jene Kraft des Hinausprojizierens und des künstlerischen Gestaltens
der Vorstellungen. Auch dieser Sonnenstrahl wird nicht bald er-
löschen! -- In Beziehung hierauf kann man noch eine für unsern
Gegenstand höchst wichtige Bemerkung machen: reine, ja fast rein
poetische Zahlentheorie und Geometrie waren es, welche die
Griechen später dahin führten, die Begründer der wissenschaft-
lichen Mechanik
zu werden! Wie bei allem Hellenischen hat
auch hier das Sinnen von Vielen in dem Lebenswerk eines einzelnen

werden, dass auch das System des Tycho de Brahe hellenischen Ursprungs
ist, worüber das Nähere bei Schiaparelli (a. a. O., S. 107 fg. und namentlich
S. 1152); dem Reichtum dieser Phantasie entging eben keine mögliche Kombination.
1) Siehe Schröder: Pythagoras und die Inder, S. 39 fg.
2) Cantor: Vorlesungen über Geschichte der Mathematik, I, 511. (Citiert
nach Schröder S. 56.)

Das Erbe der alten Welt.
Ein ganz anders geartetes Beispiel des lebenspendenden Einflusses
griechischer Gestaltungskraft geben uns die Fortschritte der Mathematik,
speziell der Geometrie. Pythagoras ist der Begründer der wissen-
schaftlichen Mathematik in Europa; dass er seine Kenntnisse, namentlich
den sogenannten »pythagoreischen Lehrsatz«, den Begriff der irrationalen
Grössen, und — höchst wahrscheinlich — auch seine Arithmetik den
Indern verdankt, ist allerdings erwiesen,1) und von der abstrakten Zahlen-
rechnung, deren angeblich »arabische Ziffern« wir den arischen Indern
verdanken, sagt Cantor: »Die Algebra entwickelte sich bei den
Indern in einer Höhe, die sie in Griechenland niemals zu erreichen
vermocht hat.«2) Man sehe aber, zu welcher durchsichtigen Voll-
kommenheit die Griechen die Mathematik der Anschauung, die
Geometrie, gebracht haben! In der Schule Plato’s war jener Euklid
gebildet, dessen »Elemente der Geometrie« ein so vollkommenes
Kunstwerk sind, dass es wirklich sehr zu bedauern wäre, wenn die
Einführung neuerer erleichterter Lehrmethoden einen solchen Edelstein
aus dem Gesichtskreis der meisten Gebildeten entfernen sollte. Vielleicht
gäbe ich meiner Vorliebe für Mathematik einen zu naiven Ausdruck,
wenn ich gestünde, Euklid’s Elemente dünken mich fast eben so
schön wie Homer’s Ilias? Jedenfalls darf ich es als keinen Zufall
betrachten, wenn der unvergleichliche Geometer zugleich ein be-
geisterter Tonkünstler war, dessen »Elemente der Musik«, wenn wir
sie in der ursprünglichen Gestalt besässen, vielleicht ein würdiges
Gegenstück zu seinen »Elementen der Geometrie« bilden würden.
Und ich darf hierin den stammverwandten poetischen Geist erkennen,
jene Kraft des Hinausprojizierens und des künstlerischen Gestaltens
der Vorstellungen. Auch dieser Sonnenstrahl wird nicht bald er-
löschen! — In Beziehung hierauf kann man noch eine für unsern
Gegenstand höchst wichtige Bemerkung machen: reine, ja fast rein
poetische Zahlentheorie und Geometrie waren es, welche die
Griechen später dahin führten, die Begründer der wissenschaft-
lichen Mechanik
zu werden! Wie bei allem Hellenischen hat
auch hier das Sinnen von Vielen in dem Lebenswerk eines einzelnen

werden, dass auch das System des Tycho de Brahe hellenischen Ursprungs
ist, worüber das Nähere bei Schiaparelli (a. a. O., S. 107 fg. und namentlich
S. 1152); dem Reichtum dieser Phantasie entging eben keine mögliche Kombination.
1) Siehe Schröder: Pythagoras und die Inder, S. 39 fg.
2) Cantor: Vorlesungen über Geschichte der Mathematik, I, 511. (Citiert
nach Schröder S. 56.)
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[88/0111] Das Erbe der alten Welt. Ein ganz anders geartetes Beispiel des lebenspendenden Einflusses griechischer Gestaltungskraft geben uns die Fortschritte der Mathematik, speziell der Geometrie. Pythagoras ist der Begründer der wissen- schaftlichen Mathematik in Europa; dass er seine Kenntnisse, namentlich den sogenannten »pythagoreischen Lehrsatz«, den Begriff der irrationalen Grössen, und — höchst wahrscheinlich — auch seine Arithmetik den Indern verdankt, ist allerdings erwiesen, 1) und von der abstrakten Zahlen- rechnung, deren angeblich »arabische Ziffern« wir den arischen Indern verdanken, sagt Cantor: »Die Algebra entwickelte sich bei den Indern in einer Höhe, die sie in Griechenland niemals zu erreichen vermocht hat.« 2) Man sehe aber, zu welcher durchsichtigen Voll- kommenheit die Griechen die Mathematik der Anschauung, die Geometrie, gebracht haben! In der Schule Plato’s war jener Euklid gebildet, dessen »Elemente der Geometrie« ein so vollkommenes Kunstwerk sind, dass es wirklich sehr zu bedauern wäre, wenn die Einführung neuerer erleichterter Lehrmethoden einen solchen Edelstein aus dem Gesichtskreis der meisten Gebildeten entfernen sollte. Vielleicht gäbe ich meiner Vorliebe für Mathematik einen zu naiven Ausdruck, wenn ich gestünde, Euklid’s Elemente dünken mich fast eben so schön wie Homer’s Ilias? Jedenfalls darf ich es als keinen Zufall betrachten, wenn der unvergleichliche Geometer zugleich ein be- geisterter Tonkünstler war, dessen »Elemente der Musik«, wenn wir sie in der ursprünglichen Gestalt besässen, vielleicht ein würdiges Gegenstück zu seinen »Elementen der Geometrie« bilden würden. Und ich darf hierin den stammverwandten poetischen Geist erkennen, jene Kraft des Hinausprojizierens und des künstlerischen Gestaltens der Vorstellungen. Auch dieser Sonnenstrahl wird nicht bald er- löschen! — In Beziehung hierauf kann man noch eine für unsern Gegenstand höchst wichtige Bemerkung machen: reine, ja fast rein poetische Zahlentheorie und Geometrie waren es, welche die Griechen später dahin führten, die Begründer der wissenschaft- lichen Mechanik zu werden! Wie bei allem Hellenischen hat auch hier das Sinnen von Vielen in dem Lebenswerk eines einzelnen 1) 1) Siehe Schröder: Pythagoras und die Inder, S. 39 fg. 2) Cantor: Vorlesungen über Geschichte der Mathematik, I, 511. (Citiert nach Schröder S. 56.) 1) werden, dass auch das System des Tycho de Brahe hellenischen Ursprungs ist, worüber das Nähere bei Schiaparelli (a. a. O., S. 107 fg. und namentlich S. 1152); dem Reichtum dieser Phantasie entging eben keine mögliche Kombination.

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Zitationshilfe: Chamberlain, Houston Stewart: Die Grundlagen des Neunzehnten Jahrhunderts. Bd. 1. München 1899, S. 88. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/chamberlain_grundlagen01_1899/111>, abgerufen am 29.04.2024.