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Chamberlain, Houston Stewart: Die Grundlagen des Neunzehnten Jahrhunderts. Bd. 1. München 1899.

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Hellenische Kunst und Philosophie.
modernen Lehrer -- unter dem Einflusse einer ihre Ehrlichkeit vollkommen
lahmlegenden Suggestion -- sie ärger gefälscht als die Griechen selber.
Von der Schlacht bei Marathon z. B. giebt Herodot ganz redlich zu,
dass die Griechen dort, wo Perser, nicht Hellenen ihnen gegenüberstanden,
in die Flucht geschlagen wurden (VI, 113); wie wird diese Thatsache
bei uns immer wegerklärt! Und mit welcher kindlich frommen
Glaubensseligkeit -- obwohl wir sonst recht gut wissen, wie durchaus
unzuverlässig griechische Zahlen sind -- schreiben fast alle unsere
Geschichtsschreiber noch heutigen Tages aus den alten Mären die
6400 Perserleichen und die 192 tapfer gefallenen Hopliten ab,
verschweigen aber, dass Herodot im selben Kapitel (VI, 117) mit
seiner unnachahmlichen Naivetät erzählt, wie ein Athener in jener
Schlacht vor Furcht blind wurde! In Wahrheit war dieser "glorreiche
Sieg" ein belangloses Scharmützel, bei welchem die Griechen eher im
Nachteil als im Vorteil blieben1); die Perser, die nicht aus eigenem
Antriebe, sondern von Griechen gerufen, auf ionischen Schiffen her-
gekommen waren, kehrten, da diese stets wankelmütigen Bundes-
genossen den Augenblick für ungünstig hielten, mit mehreren tausend
Gefangenen und reicher Beute (siehe Herodot VI, 118) in aller Seelen-
ruhe nach Ionien zurück.2) In gleicher Weise ist auch die ganze
Darstellung des späteren Kampfes zwischen Hellas und dem persischen
Reiche gefälscht,3) was man den Griechen eigentlich gar nicht so sehr
übel nehmen kann, da dieselbe Neigung stets bei allen Nationen sich

1) Seitdem diese Zeilen geschrieben wurden, bekam ich des berühmten
amerikanischen Hellenisten Professor Mahaffy's: A Survey of Greek Civilisation (1897)
zu Gesicht, worin er die Schlacht bei Marathon "a very unimportant skirmish" nennt!
2) Siehe Gobineau: Histoire des Perses II, 138--142.
3) Namentlich die berühmte Schlacht bei Salamis, von der man eine er-
frischende Darstellung in dem genannten Werk des Grafen Gobineau findet
(II, 205--211). "C'est quand les derniers bataillons de l'arriere-garde de Xerxes eurent
disparu dans la direction de la Beotie et que toute sa flotte fut partie, que les Grecs
prirent d'eux-memes et de ce qu'ils venaient de faire et de ce qu'ils pouvaient en dire
l'opinion que la poesie a si heureusement mise en oeuvre. Encore fallut-il que les allies
apprissent que la flotte ennemie ne s'etait pas arretee a Phalere pour qu'ils osassent se
mettre en mouvement. Ne sachant ou elle allait -- -- -- ils restaient comme eperdus.
Ils se hasarderent enfin a sortir de la baie de Salamine, et se risquerent jusqu'a la
hauteur d'Andros. C'est ce qu'ils appelerent plus tard avoir poursuivi les Perses! Ils
se garderent cependant d'essayer de les joindre, et rebroussant chemin, ils retournerent
chacun dans leurs patries respectives
" (p. 208). An einer anderen Stelle (II, 360)
bezeichnet Gobineau die griechische Geschichte als: "la plus elaboree des fictions
du plus artiste des peuples
".

Hellenische Kunst und Philosophie.
modernen Lehrer — unter dem Einflusse einer ihre Ehrlichkeit vollkommen
lahmlegenden Suggestion — sie ärger gefälscht als die Griechen selber.
Von der Schlacht bei Marathon z. B. giebt Herodot ganz redlich zu,
dass die Griechen dort, wo Perser, nicht Hellenen ihnen gegenüberstanden,
in die Flucht geschlagen wurden (VI, 113); wie wird diese Thatsache
bei uns immer wegerklärt! Und mit welcher kindlich frommen
Glaubensseligkeit — obwohl wir sonst recht gut wissen, wie durchaus
unzuverlässig griechische Zahlen sind — schreiben fast alle unsere
Geschichtsschreiber noch heutigen Tages aus den alten Mären die
6400 Perserleichen und die 192 tapfer gefallenen Hopliten ab,
verschweigen aber, dass Herodot im selben Kapitel (VI, 117) mit
seiner unnachahmlichen Naivetät erzählt, wie ein Athener in jener
Schlacht vor Furcht blind wurde! In Wahrheit war dieser »glorreiche
Sieg« ein belangloses Scharmützel, bei welchem die Griechen eher im
Nachteil als im Vorteil blieben1); die Perser, die nicht aus eigenem
Antriebe, sondern von Griechen gerufen, auf ionischen Schiffen her-
gekommen waren, kehrten, da diese stets wankelmütigen Bundes-
genossen den Augenblick für ungünstig hielten, mit mehreren tausend
Gefangenen und reicher Beute (siehe Herodot VI, 118) in aller Seelen-
ruhe nach Ionien zurück.2) In gleicher Weise ist auch die ganze
Darstellung des späteren Kampfes zwischen Hellas und dem persischen
Reiche gefälscht,3) was man den Griechen eigentlich gar nicht so sehr
übel nehmen kann, da dieselbe Neigung stets bei allen Nationen sich

1) Seitdem diese Zeilen geschrieben wurden, bekam ich des berühmten
amerikanischen Hellenisten Professor Mahaffy’s: A Survey of Greek Civilisation (1897)
zu Gesicht, worin er die Schlacht bei Marathon »a very unimportant skirmish« nennt!
2) Siehe Gobineau: Histoire des Perses II, 138—142.
3) Namentlich die berühmte Schlacht bei Salamis, von der man eine er-
frischende Darstellung in dem genannten Werk des Grafen Gobineau findet
(II, 205—211). «C’est quand les derniers bataillons de l’arrière-garde de Xerxès eurent
disparu dans la direction de la Béotie et que toute sa flotte fut partie, que les Grecs
prirent d’eux-mêmes et de ce qu’ils venaient de faire et de ce qu’ils pouvaient en dire
l’opinion que la poésie a si heureusement mise en œuvre. Encore fallut-il que les alliés
apprissent que la flotte ennemie ne s’était pas arrêtée à Phalère pour qu’ils osassent se
mettre en mouvement. Ne sachant où elle allait — — — ils restaient comme éperdus.
Ils se hasardèrent enfin à sortir de la baie de Salamine, et se risquèrent jusqu’à la
hauteur d’Andros. C’est ce qu’ils appelèrent plus tard avoir poursuivi les Perses! Ils
se gardèrent cependant d’essayer de les joindre, et rebroussant chemin, ils retournèrent
chacun dans leurs patries respectives
» (p. 208). An einer anderen Stelle (II, 360)
bezeichnet Gobineau die griechische Geschichte als: «la plus élaborée des fictions
du plus artiste des peuples
».
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[93/0116] Hellenische Kunst und Philosophie. modernen Lehrer — unter dem Einflusse einer ihre Ehrlichkeit vollkommen lahmlegenden Suggestion — sie ärger gefälscht als die Griechen selber. Von der Schlacht bei Marathon z. B. giebt Herodot ganz redlich zu, dass die Griechen dort, wo Perser, nicht Hellenen ihnen gegenüberstanden, in die Flucht geschlagen wurden (VI, 113); wie wird diese Thatsache bei uns immer wegerklärt! Und mit welcher kindlich frommen Glaubensseligkeit — obwohl wir sonst recht gut wissen, wie durchaus unzuverlässig griechische Zahlen sind — schreiben fast alle unsere Geschichtsschreiber noch heutigen Tages aus den alten Mären die 6400 Perserleichen und die 192 tapfer gefallenen Hopliten ab, verschweigen aber, dass Herodot im selben Kapitel (VI, 117) mit seiner unnachahmlichen Naivetät erzählt, wie ein Athener in jener Schlacht vor Furcht blind wurde! In Wahrheit war dieser »glorreiche Sieg« ein belangloses Scharmützel, bei welchem die Griechen eher im Nachteil als im Vorteil blieben 1); die Perser, die nicht aus eigenem Antriebe, sondern von Griechen gerufen, auf ionischen Schiffen her- gekommen waren, kehrten, da diese stets wankelmütigen Bundes- genossen den Augenblick für ungünstig hielten, mit mehreren tausend Gefangenen und reicher Beute (siehe Herodot VI, 118) in aller Seelen- ruhe nach Ionien zurück. 2) In gleicher Weise ist auch die ganze Darstellung des späteren Kampfes zwischen Hellas und dem persischen Reiche gefälscht, 3) was man den Griechen eigentlich gar nicht so sehr übel nehmen kann, da dieselbe Neigung stets bei allen Nationen sich 1) Seitdem diese Zeilen geschrieben wurden, bekam ich des berühmten amerikanischen Hellenisten Professor Mahaffy’s: A Survey of Greek Civilisation (1897) zu Gesicht, worin er die Schlacht bei Marathon »a very unimportant skirmish« nennt! 2) Siehe Gobineau: Histoire des Perses II, 138—142. 3) Namentlich die berühmte Schlacht bei Salamis, von der man eine er- frischende Darstellung in dem genannten Werk des Grafen Gobineau findet (II, 205—211). «C’est quand les derniers bataillons de l’arrière-garde de Xerxès eurent disparu dans la direction de la Béotie et que toute sa flotte fut partie, que les Grecs prirent d’eux-mêmes et de ce qu’ils venaient de faire et de ce qu’ils pouvaient en dire l’opinion que la poésie a si heureusement mise en œuvre. Encore fallut-il que les alliés apprissent que la flotte ennemie ne s’était pas arrêtée à Phalère pour qu’ils osassent se mettre en mouvement. Ne sachant où elle allait — — — ils restaient comme éperdus. Ils se hasardèrent enfin à sortir de la baie de Salamine, et se risquèrent jusqu’à la hauteur d’Andros. C’est ce qu’ils appelèrent plus tard avoir poursuivi les Perses! Ils se gardèrent cependant d’essayer de les joindre, et rebroussant chemin, ils retournèrent chacun dans leurs patries respectives» (p. 208). An einer anderen Stelle (II, 360) bezeichnet Gobineau die griechische Geschichte als: «la plus élaborée des fictions du plus artiste des peuples».

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Zitationshilfe: Chamberlain, Houston Stewart: Die Grundlagen des Neunzehnten Jahrhunderts. Bd. 1. München 1899, S. 93. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/chamberlain_grundlagen01_1899/116>, abgerufen am 28.04.2024.