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Chamberlain, Houston Stewart: Die Grundlagen des Neunzehnten Jahrhunderts. Bd. 1. München 1899.

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Das Erbe der alten Welt.
bethätigt hat und noch heute sich bethätigt.1) Jedoch soll hellenische
Geschichte wirklich den Geist und das Urteil bilden, so möchte man
glauben, dies müsste eine wahre, gerechte, die Begebenheiten aus
ihren tiefsten Wurzeln erfassende, den organischen Zusammenhang
aufdeckende Darstellung sein, nicht die Verewigung von halberdichteten
Anekdoten und von Urteilen, welche einzig die Bitterkeit des Kampfes
ums Dasein und die krasse Unwissenheit und Verblendung der Hellenen
entschuldigen konnte. Herrlich ist die dichterische Kraft, mit welcher
dort auserlesene Männer einem wankelmütigen, treulosen, käuflichen,
zu panischem Schrecken geneigten Volke Vaterlandsliebe und Helden-
haftigkeit einzuflössen suchten und -- wo die Zucht streng genug
war, wie in Sparta -- auch thatsächlich einflössten. Auch hier wieder
sehen wir die Kunst als belebendes, treibendes Element. Dass wir
aber die patriotischen Lügen der Griechen unseren Kindern als Wahr-
heit einpfropfen, und nicht allein unseren Kindern, sondern -- in
Werken wie Grote's -- dem Urteil gesunder Männer als Dogmen
aufzwingen, und sie sogar zu einem massgebenden Faktor in der
Politik unseres neunzehnten Jahrhunderts werden lassen, das ist doch
ein arger Missbrauch der hellenischen Erbschaft, eintausendachthundert
Jahre, nachdem schon Juvenal gespottet hatte: "creditur quidquid
Graecia mendax audet in historia
". -- Noch schlimmer dünkt
mich jedoch die uns aufgenötigte Bewunderung für politische Ver-
hältnisse, die eher als abschreckendes Beispiel zu dienen hätten. Ich
habe hier nicht Partei zu nehmen, weder für Grossgriechenland noch
für Kleingriechenland, weder für Sparta noch für Athen, weder (mit
Mitford und Curtius) für den Adel, noch (mit Grote) für den Demos;

1) Die Hauptsache ist offenbar nicht, was in gelehrten Büchern steht, sondern
was in der Schule gelehrt wird, und da kann ich aus Erfahrung sprechen, denn
ich war zuerst in einem französischen "Lycee", dann in einem englischen "college",
später erhielt ich Unterricht von den Lehrkräften einer Schweizer Privatschule,
zuletzt von einem gelehrten Preussen. Ich bezeuge, dass in diesen verschiedenen
Ländern selbst die best verbürgte Geschichte, die der letzten drei Jahrhunderte
(seit der Reformation) so gänzlich verschieden dargestellt wird, dass ich ohne
Übertreibung behaupten darf, das Prinzip des geschichtlichen Unterrichtes ist noch
heute überall bei uns in Europa die systematische Entstellung. Indem die
eigenen Leistungen immer hervorgehoben, die Errungenschaften der Anderen ver-
schwiegen oder vertuscht, gewisse Dinge immer ins hellste Licht gestellt, andere
im tiefsten Schatten gelassen werden, entsteht ein Gesamtbild, welches in manchen
Teilen nur für das subtilste Auge von der nackten Lüge sich unterscheidet. Die
Grundlage aller echten Wahrheit: die gänzlich uninteressierte Gerechtigkeitsliebe
fehlt fast überall; daraus kann man erkennen, dass wir noch Barbaren sind.

Das Erbe der alten Welt.
bethätigt hat und noch heute sich bethätigt.1) Jedoch soll hellenische
Geschichte wirklich den Geist und das Urteil bilden, so möchte man
glauben, dies müsste eine wahre, gerechte, die Begebenheiten aus
ihren tiefsten Wurzeln erfassende, den organischen Zusammenhang
aufdeckende Darstellung sein, nicht die Verewigung von halberdichteten
Anekdoten und von Urteilen, welche einzig die Bitterkeit des Kampfes
ums Dasein und die krasse Unwissenheit und Verblendung der Hellenen
entschuldigen konnte. Herrlich ist die dichterische Kraft, mit welcher
dort auserlesene Männer einem wankelmütigen, treulosen, käuflichen,
zu panischem Schrecken geneigten Volke Vaterlandsliebe und Helden-
haftigkeit einzuflössen suchten und — wo die Zucht streng genug
war, wie in Sparta — auch thatsächlich einflössten. Auch hier wieder
sehen wir die Kunst als belebendes, treibendes Element. Dass wir
aber die patriotischen Lügen der Griechen unseren Kindern als Wahr-
heit einpfropfen, und nicht allein unseren Kindern, sondern — in
Werken wie Grote’s — dem Urteil gesunder Männer als Dogmen
aufzwingen, und sie sogar zu einem massgebenden Faktor in der
Politik unseres neunzehnten Jahrhunderts werden lassen, das ist doch
ein arger Missbrauch der hellenischen Erbschaft, eintausendachthundert
Jahre, nachdem schon Juvenal gespottet hatte: »creditur quidquid
Graecia mendax audet in historia
«. — Noch schlimmer dünkt
mich jedoch die uns aufgenötigte Bewunderung für politische Ver-
hältnisse, die eher als abschreckendes Beispiel zu dienen hätten. Ich
habe hier nicht Partei zu nehmen, weder für Grossgriechenland noch
für Kleingriechenland, weder für Sparta noch für Athen, weder (mit
Mitford und Curtius) für den Adel, noch (mit Grote) für den Demos;

1) Die Hauptsache ist offenbar nicht, was in gelehrten Büchern steht, sondern
was in der Schule gelehrt wird, und da kann ich aus Erfahrung sprechen, denn
ich war zuerst in einem französischen »Lycée«, dann in einem englischen »college«,
später erhielt ich Unterricht von den Lehrkräften einer Schweizer Privatschule,
zuletzt von einem gelehrten Preussen. Ich bezeuge, dass in diesen verschiedenen
Ländern selbst die best verbürgte Geschichte, die der letzten drei Jahrhunderte
(seit der Reformation) so gänzlich verschieden dargestellt wird, dass ich ohne
Übertreibung behaupten darf, das Prinzip des geschichtlichen Unterrichtes ist noch
heute überall bei uns in Europa die systematische Entstellung. Indem die
eigenen Leistungen immer hervorgehoben, die Errungenschaften der Anderen ver-
schwiegen oder vertuscht, gewisse Dinge immer ins hellste Licht gestellt, andere
im tiefsten Schatten gelassen werden, entsteht ein Gesamtbild, welches in manchen
Teilen nur für das subtilste Auge von der nackten Lüge sich unterscheidet. Die
Grundlage aller echten Wahrheit: die gänzlich uninteressierte Gerechtigkeitsliebe
fehlt fast überall; daraus kann man erkennen, dass wir noch Barbaren sind.
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[94/0117] Das Erbe der alten Welt. bethätigt hat und noch heute sich bethätigt. 1) Jedoch soll hellenische Geschichte wirklich den Geist und das Urteil bilden, so möchte man glauben, dies müsste eine wahre, gerechte, die Begebenheiten aus ihren tiefsten Wurzeln erfassende, den organischen Zusammenhang aufdeckende Darstellung sein, nicht die Verewigung von halberdichteten Anekdoten und von Urteilen, welche einzig die Bitterkeit des Kampfes ums Dasein und die krasse Unwissenheit und Verblendung der Hellenen entschuldigen konnte. Herrlich ist die dichterische Kraft, mit welcher dort auserlesene Männer einem wankelmütigen, treulosen, käuflichen, zu panischem Schrecken geneigten Volke Vaterlandsliebe und Helden- haftigkeit einzuflössen suchten und — wo die Zucht streng genug war, wie in Sparta — auch thatsächlich einflössten. Auch hier wieder sehen wir die Kunst als belebendes, treibendes Element. Dass wir aber die patriotischen Lügen der Griechen unseren Kindern als Wahr- heit einpfropfen, und nicht allein unseren Kindern, sondern — in Werken wie Grote’s — dem Urteil gesunder Männer als Dogmen aufzwingen, und sie sogar zu einem massgebenden Faktor in der Politik unseres neunzehnten Jahrhunderts werden lassen, das ist doch ein arger Missbrauch der hellenischen Erbschaft, eintausendachthundert Jahre, nachdem schon Juvenal gespottet hatte: »creditur quidquid Graecia mendax audet in historia«. — Noch schlimmer dünkt mich jedoch die uns aufgenötigte Bewunderung für politische Ver- hältnisse, die eher als abschreckendes Beispiel zu dienen hätten. Ich habe hier nicht Partei zu nehmen, weder für Grossgriechenland noch für Kleingriechenland, weder für Sparta noch für Athen, weder (mit Mitford und Curtius) für den Adel, noch (mit Grote) für den Demos; 1) Die Hauptsache ist offenbar nicht, was in gelehrten Büchern steht, sondern was in der Schule gelehrt wird, und da kann ich aus Erfahrung sprechen, denn ich war zuerst in einem französischen »Lycée«, dann in einem englischen »college«, später erhielt ich Unterricht von den Lehrkräften einer Schweizer Privatschule, zuletzt von einem gelehrten Preussen. Ich bezeuge, dass in diesen verschiedenen Ländern selbst die best verbürgte Geschichte, die der letzten drei Jahrhunderte (seit der Reformation) so gänzlich verschieden dargestellt wird, dass ich ohne Übertreibung behaupten darf, das Prinzip des geschichtlichen Unterrichtes ist noch heute überall bei uns in Europa die systematische Entstellung. Indem die eigenen Leistungen immer hervorgehoben, die Errungenschaften der Anderen ver- schwiegen oder vertuscht, gewisse Dinge immer ins hellste Licht gestellt, andere im tiefsten Schatten gelassen werden, entsteht ein Gesamtbild, welches in manchen Teilen nur für das subtilste Auge von der nackten Lüge sich unterscheidet. Die Grundlage aller echten Wahrheit: die gänzlich uninteressierte Gerechtigkeitsliebe fehlt fast überall; daraus kann man erkennen, dass wir noch Barbaren sind.

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Zitationshilfe: Chamberlain, Houston Stewart: Die Grundlagen des Neunzehnten Jahrhunderts. Bd. 1. München 1899, S. 94. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/chamberlain_grundlagen01_1899/117>, abgerufen am 29.04.2024.