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Chamberlain, Houston Stewart: Die Grundlagen des Neunzehnten Jahrhunderts. Bd. 1. München 1899.

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Das Erbe der alten Welt.
Phrasen und Lügen sich ins Licht durcharbeiten will, dem empfehle
ich dringend das Studium des monumentalen Werkes von Julius
Schvarcz: Die Demokratie von Athen, wo ein sowohl theoretisch
wie praktisch gebildeter Staatsmann, der zugleich Philologe ist, ein
für allemal dargethan hat, was von dieser Legende zu halten ist.
Die Schlussworte dieser ausführlichen, streng wissenschaftlichen Dar-
legung lauten: "Die induktive Staatswissenschaft muss schon heute
erkennen, dass der Demokratie von Athen nicht die Stelle gebührt,
welche der Wahn der Jahrhunderte derselben in der Geschichte der
Menschheit einzuräumen liebte" (S. 589).1)

Ein einziger Zug genügt übrigens, um die gesamte staatliche
Wirtschaft der Griechen zu charakterisieren: dass nämlich Sokrates
sich veranlasst sah, des Weiten und des Breiten nachzuweisen, um
ein Staatsmann zu sein, müsse man auch etwas von Staatsgeschäften
verstehen. Weil er diese einfache Elementarwahrheit predigte, wurde
er zum Tode verurteilt. "Der Giftbecher ward einzig und allein
dem politischen Reformer gereicht",2) nicht dem Götterleugner.
Diese ewig schwatzenden Athener vereinigten eben in sich den
schlimmsten Dünkel eines ahnenstolzen Junkertums mit der leiden-
schaftlichen Gehässigkeit eines unwissenden frechen Pöbels. Zugleich
besassen sie die Flatterhaftigkeit eines orientalischen Despoten. Als
kurz nach dem Tode des Sokrates, so erzählt man, das Trauerspiel
"Palamedes" aufgeführt wurde, brachen die versammelten Zuschauer in
Thränen aus wegen der Hinrichtung des edlen weisen Helden; das
tyrannische Volk beweinte seinen niedrigen Racheakt.3) Es horchte
aber deswegen nicht um ein Jota mehr auf Aristoteles und andere
weise Männer, sondern verbannte sie. Und diese weisen Männer!
Aristoteles ist erstaunlich scharfsinnig und als Staatsphilosoph gewiss
ebenso bewundernswert, wie die grossen Hellenen es überall sind,
sobald sie zu künstlerisch-philosophischer Anschauung sich erheben;
als Staatsmann trat er jedoch gar nicht erst auf, sondern erlebte
gelassen und zufrieden die Philippinischen Thaten, die sein Vaterland
zu Grunde richteten, ihm aber die Skelette und Häute seltener Tiere

1) Es ist der (1877 erschienene) erste Teil eines grösseren Werkes: Die
Demokratie,
dessen Fortsetzung aber bisher ausgeblieben ist.
2) Schvarcz: a. a. O., S. 394 fg.
3) Nach Gomperz: Griechische Denker, II, 95, ist diese Anekdote "leere
Fabelei"; doch liegt in allen solchen Erfindungen, wie in dem eppur si muove u. s. w.,
ein Kern höherer Wahrheit.

Das Erbe der alten Welt.
Phrasen und Lügen sich ins Licht durcharbeiten will, dem empfehle
ich dringend das Studium des monumentalen Werkes von Julius
Schvarcz: Die Demokratie von Athen, wo ein sowohl theoretisch
wie praktisch gebildeter Staatsmann, der zugleich Philologe ist, ein
für allemal dargethan hat, was von dieser Legende zu halten ist.
Die Schlussworte dieser ausführlichen, streng wissenschaftlichen Dar-
legung lauten: »Die induktive Staatswissenschaft muss schon heute
erkennen, dass der Demokratie von Athen nicht die Stelle gebührt,
welche der Wahn der Jahrhunderte derselben in der Geschichte der
Menschheit einzuräumen liebte« (S. 589).1)

Ein einziger Zug genügt übrigens, um die gesamte staatliche
Wirtschaft der Griechen zu charakterisieren: dass nämlich Sokrates
sich veranlasst sah, des Weiten und des Breiten nachzuweisen, um
ein Staatsmann zu sein, müsse man auch etwas von Staatsgeschäften
verstehen. Weil er diese einfache Elementarwahrheit predigte, wurde
er zum Tode verurteilt. »Der Giftbecher ward einzig und allein
dem politischen Reformer gereicht«,2) nicht dem Götterleugner.
Diese ewig schwatzenden Athener vereinigten eben in sich den
schlimmsten Dünkel eines ahnenstolzen Junkertums mit der leiden-
schaftlichen Gehässigkeit eines unwissenden frechen Pöbels. Zugleich
besassen sie die Flatterhaftigkeit eines orientalischen Despoten. Als
kurz nach dem Tode des Sokrates, so erzählt man, das Trauerspiel
»Palamedes« aufgeführt wurde, brachen die versammelten Zuschauer in
Thränen aus wegen der Hinrichtung des edlen weisen Helden; das
tyrannische Volk beweinte seinen niedrigen Racheakt.3) Es horchte
aber deswegen nicht um ein Jota mehr auf Aristoteles und andere
weise Männer, sondern verbannte sie. Und diese weisen Männer!
Aristoteles ist erstaunlich scharfsinnig und als Staatsphilosoph gewiss
ebenso bewundernswert, wie die grossen Hellenen es überall sind,
sobald sie zu künstlerisch-philosophischer Anschauung sich erheben;
als Staatsmann trat er jedoch gar nicht erst auf, sondern erlebte
gelassen und zufrieden die Philippinischen Thaten, die sein Vaterland
zu Grunde richteten, ihm aber die Skelette und Häute seltener Tiere

1) Es ist der (1877 erschienene) erste Teil eines grösseren Werkes: Die
Demokratie,
dessen Fortsetzung aber bisher ausgeblieben ist.
2) Schvarcz: a. a. O., S. 394 fg.
3) Nach Gomperz: Griechische Denker, II, 95, ist diese Anekdote »leere
Fabelei«; doch liegt in allen solchen Erfindungen, wie in dem eppur si muove u. s. w.,
ein Kern höherer Wahrheit.
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[96/0119] Das Erbe der alten Welt. Phrasen und Lügen sich ins Licht durcharbeiten will, dem empfehle ich dringend das Studium des monumentalen Werkes von Julius Schvarcz: Die Demokratie von Athen, wo ein sowohl theoretisch wie praktisch gebildeter Staatsmann, der zugleich Philologe ist, ein für allemal dargethan hat, was von dieser Legende zu halten ist. Die Schlussworte dieser ausführlichen, streng wissenschaftlichen Dar- legung lauten: »Die induktive Staatswissenschaft muss schon heute erkennen, dass der Demokratie von Athen nicht die Stelle gebührt, welche der Wahn der Jahrhunderte derselben in der Geschichte der Menschheit einzuräumen liebte« (S. 589). 1) Ein einziger Zug genügt übrigens, um die gesamte staatliche Wirtschaft der Griechen zu charakterisieren: dass nämlich Sokrates sich veranlasst sah, des Weiten und des Breiten nachzuweisen, um ein Staatsmann zu sein, müsse man auch etwas von Staatsgeschäften verstehen. Weil er diese einfache Elementarwahrheit predigte, wurde er zum Tode verurteilt. »Der Giftbecher ward einzig und allein dem politischen Reformer gereicht«, 2) nicht dem Götterleugner. Diese ewig schwatzenden Athener vereinigten eben in sich den schlimmsten Dünkel eines ahnenstolzen Junkertums mit der leiden- schaftlichen Gehässigkeit eines unwissenden frechen Pöbels. Zugleich besassen sie die Flatterhaftigkeit eines orientalischen Despoten. Als kurz nach dem Tode des Sokrates, so erzählt man, das Trauerspiel »Palamedes« aufgeführt wurde, brachen die versammelten Zuschauer in Thränen aus wegen der Hinrichtung des edlen weisen Helden; das tyrannische Volk beweinte seinen niedrigen Racheakt. 3) Es horchte aber deswegen nicht um ein Jota mehr auf Aristoteles und andere weise Männer, sondern verbannte sie. Und diese weisen Männer! Aristoteles ist erstaunlich scharfsinnig und als Staatsphilosoph gewiss ebenso bewundernswert, wie die grossen Hellenen es überall sind, sobald sie zu künstlerisch-philosophischer Anschauung sich erheben; als Staatsmann trat er jedoch gar nicht erst auf, sondern erlebte gelassen und zufrieden die Philippinischen Thaten, die sein Vaterland zu Grunde richteten, ihm aber die Skelette und Häute seltener Tiere 1) Es ist der (1877 erschienene) erste Teil eines grösseren Werkes: Die Demokratie, dessen Fortsetzung aber bisher ausgeblieben ist. 2) Schvarcz: a. a. O., S. 394 fg. 3) Nach Gomperz: Griechische Denker, II, 95, ist diese Anekdote »leere Fabelei«; doch liegt in allen solchen Erfindungen, wie in dem eppur si muove u. s. w., ein Kern höherer Wahrheit.

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Zitationshilfe: Chamberlain, Houston Stewart: Die Grundlagen des Neunzehnten Jahrhunderts. Bd. 1. München 1899, S. 96. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/chamberlain_grundlagen01_1899/119>, abgerufen am 29.04.2024.