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Chamberlain, Houston Stewart: Die Grundlagen des Neunzehnten Jahrhunderts. Bd. 1. München 1899.

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Hellenische Kunst und Philosophie.
verschafften; Plato erntete als Staatsmann den Erfolg, den man aus
seinen abenteuerlichen Konstruktionen erwarten musste. Und auch
die wirklichen Staatsmänner -- ein Drako, ein Solon, ein Lykurgus,
ja, selbst ein Perikles -- dünken mich, wie ich schon in den ein-
leitenden Worten zu diesem Kapitel sagte, eher geistvolle Dilettanten
als irgendwie grundlegende Politiker. Schiller bezeichnet irgendwo den
Drako als einen "Anfänger" und die Verfassung Lykurg's als "schüler-
haft". Entscheidender ist das Urteil des grossen Lehrers der ver-
gleichenden Rechtsgeschichte, B. W. Leist: "Der Grieche glaubte, ohne
Verständnis für die das Völkerleben beherrschenden historischen Mächte,
völliger Herr der Gegenwart zu sein. Die Gegenwart des Staates
hielt man im edelsten Streben für ein Objekt, an dem der Weise frei
seine Theorie verwirklichen könne, in das er von dem historisch
Gegebenen nur das in diese Theorie Passende aufzunehmen brauche."1)
Es fehlt bei den Griechen auf diesem Gebiete alle Konsequenz,
alle Selbstbeherrschung; kein Mensch ist massloser als dieser die
Mässigkeit (Sophrosyne) und den "goldenen Mittelweg" predigende
Hellene; wir sehen seine verschiedenen Staaten hin- und her-
pendeln zwischen hyperphantastischen Vollkommenheits-Systemen
und der blödsichtigen Befangenheit in den Interessen des unmittelbar
gegenwärtigen Augenblicks. Schon Anacharsis klagte: "Bei den
Beratungen der Griechen sind es die Narren, welche entscheiden."
Und so ersehen wir, dass unsere Bewunderung und Nacheiferung in
Wahrheit nicht der griechischen Geschichte, sondern den griechischen
Geschichtsschreibern, nicht den griechischen Heldenthaten -- die
überall ihresgleichen finden -- sondern der künstlerischen Ver-
herrlichung
dieser Thaten gelten sollte. Es ist durchaus nicht
nötig, von Orient und Occident zu faseln, als könnte der "Mensch"
nur auf einem bestimmten Längengrade entstehen; die Griechen
standen mit einem Fusse in Asien, mit dem anderen in Europa:
die meisten ihrer grossen Männer sind Jonier oder Sicilianer; es ist
lächerlich, ihre Fiktionen mit den Waffen ernster Wissenschaftlichkeit
verfechten und unsere Kinder mit Phrasen erziehen zu wollen: da-
gegen werden wir in Herodot ewig Grazie und Natürlichkeit, eine
höhere Wahrhaftigkeit und den siegenden Blick des echten Künstlers
bewundern und anstreben lernen. Die Griechen gingen unter, ihre
erbärmlichen Eigenschaften richteten sie zu Grunde, das moralische

1) Graeco-italische Rechtsgeschichte, S. 589, 595 u. s. w.
Chamberlain, Grundlagen des XIX. Jahrhunderts. 7

Hellenische Kunst und Philosophie.
verschafften; Plato erntete als Staatsmann den Erfolg, den man aus
seinen abenteuerlichen Konstruktionen erwarten musste. Und auch
die wirklichen Staatsmänner — ein Drako, ein Solon, ein Lykurgus,
ja, selbst ein Perikles — dünken mich, wie ich schon in den ein-
leitenden Worten zu diesem Kapitel sagte, eher geistvolle Dilettanten
als irgendwie grundlegende Politiker. Schiller bezeichnet irgendwo den
Drako als einen »Anfänger« und die Verfassung Lykurg’s als »schüler-
haft«. Entscheidender ist das Urteil des grossen Lehrers der ver-
gleichenden Rechtsgeschichte, B. W. Leist: »Der Grieche glaubte, ohne
Verständnis für die das Völkerleben beherrschenden historischen Mächte,
völliger Herr der Gegenwart zu sein. Die Gegenwart des Staates
hielt man im edelsten Streben für ein Objekt, an dem der Weise frei
seine Theorie verwirklichen könne, in das er von dem historisch
Gegebenen nur das in diese Theorie Passende aufzunehmen brauche.«1)
Es fehlt bei den Griechen auf diesem Gebiete alle Konsequenz,
alle Selbstbeherrschung; kein Mensch ist massloser als dieser die
Mässigkeit (Sophrosyne) und den »goldenen Mittelweg« predigende
Hellene; wir sehen seine verschiedenen Staaten hin- und her-
pendeln zwischen hyperphantastischen Vollkommenheits-Systemen
und der blödsichtigen Befangenheit in den Interessen des unmittelbar
gegenwärtigen Augenblicks. Schon Anacharsis klagte: »Bei den
Beratungen der Griechen sind es die Narren, welche entscheiden.«
Und so ersehen wir, dass unsere Bewunderung und Nacheiferung in
Wahrheit nicht der griechischen Geschichte, sondern den griechischen
Geschichtsschreibern, nicht den griechischen Heldenthaten — die
überall ihresgleichen finden — sondern der künstlerischen Ver-
herrlichung
dieser Thaten gelten sollte. Es ist durchaus nicht
nötig, von Orient und Occident zu faseln, als könnte der »Mensch«
nur auf einem bestimmten Längengrade entstehen; die Griechen
standen mit einem Fusse in Asien, mit dem anderen in Europa:
die meisten ihrer grossen Männer sind Jonier oder Sicilianer; es ist
lächerlich, ihre Fiktionen mit den Waffen ernster Wissenschaftlichkeit
verfechten und unsere Kinder mit Phrasen erziehen zu wollen: da-
gegen werden wir in Herodot ewig Grazie und Natürlichkeit, eine
höhere Wahrhaftigkeit und den siegenden Blick des echten Künstlers
bewundern und anstreben lernen. Die Griechen gingen unter, ihre
erbärmlichen Eigenschaften richteten sie zu Grunde, das moralische

1) Graeco-italische Rechtsgeschichte, S. 589, 595 u. s. w.
Chamberlain, Grundlagen des XIX. Jahrhunderts. 7
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[97/0120] Hellenische Kunst und Philosophie. verschafften; Plato erntete als Staatsmann den Erfolg, den man aus seinen abenteuerlichen Konstruktionen erwarten musste. Und auch die wirklichen Staatsmänner — ein Drako, ein Solon, ein Lykurgus, ja, selbst ein Perikles — dünken mich, wie ich schon in den ein- leitenden Worten zu diesem Kapitel sagte, eher geistvolle Dilettanten als irgendwie grundlegende Politiker. Schiller bezeichnet irgendwo den Drako als einen »Anfänger« und die Verfassung Lykurg’s als »schüler- haft«. Entscheidender ist das Urteil des grossen Lehrers der ver- gleichenden Rechtsgeschichte, B. W. Leist: »Der Grieche glaubte, ohne Verständnis für die das Völkerleben beherrschenden historischen Mächte, völliger Herr der Gegenwart zu sein. Die Gegenwart des Staates hielt man im edelsten Streben für ein Objekt, an dem der Weise frei seine Theorie verwirklichen könne, in das er von dem historisch Gegebenen nur das in diese Theorie Passende aufzunehmen brauche.« 1) Es fehlt bei den Griechen auf diesem Gebiete alle Konsequenz, alle Selbstbeherrschung; kein Mensch ist massloser als dieser die Mässigkeit (Sophrosyne) und den »goldenen Mittelweg« predigende Hellene; wir sehen seine verschiedenen Staaten hin- und her- pendeln zwischen hyperphantastischen Vollkommenheits-Systemen und der blödsichtigen Befangenheit in den Interessen des unmittelbar gegenwärtigen Augenblicks. Schon Anacharsis klagte: »Bei den Beratungen der Griechen sind es die Narren, welche entscheiden.« Und so ersehen wir, dass unsere Bewunderung und Nacheiferung in Wahrheit nicht der griechischen Geschichte, sondern den griechischen Geschichtsschreibern, nicht den griechischen Heldenthaten — die überall ihresgleichen finden — sondern der künstlerischen Ver- herrlichung dieser Thaten gelten sollte. Es ist durchaus nicht nötig, von Orient und Occident zu faseln, als könnte der »Mensch« nur auf einem bestimmten Längengrade entstehen; die Griechen standen mit einem Fusse in Asien, mit dem anderen in Europa: die meisten ihrer grossen Männer sind Jonier oder Sicilianer; es ist lächerlich, ihre Fiktionen mit den Waffen ernster Wissenschaftlichkeit verfechten und unsere Kinder mit Phrasen erziehen zu wollen: da- gegen werden wir in Herodot ewig Grazie und Natürlichkeit, eine höhere Wahrhaftigkeit und den siegenden Blick des echten Künstlers bewundern und anstreben lernen. Die Griechen gingen unter, ihre erbärmlichen Eigenschaften richteten sie zu Grunde, das moralische 1) Graeco-italische Rechtsgeschichte, S. 589, 595 u. s. w. Chamberlain, Grundlagen des XIX. Jahrhunderts. 7

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Zitationshilfe: Chamberlain, Houston Stewart: Die Grundlagen des Neunzehnten Jahrhunderts. Bd. 1. München 1899, S. 97. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/chamberlain_grundlagen01_1899/120>, abgerufen am 29.04.2024.