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Chamberlain, Houston Stewart: Die Grundlagen des Neunzehnten Jahrhunderts. Bd. 1. München 1899.

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Das Erbe der alten Welt.
Wesen an ihnen war schon zu alt, zu raffiniert und verdorben, um
mit der Erleuchtung ihres Geistes Schritt zu halten; der hellenische
Geist jedoch errang einen Sieg, wie nie ein anderer; durch ihn --
und erst durch ihn -- "trat der Mensch in das Tageslicht des Lebens
ein"; die Freiheit, die der Grieche hierdurch dem Menschengeschlecht
erfocht, war nicht die politische -- er war und blieb ein Tyrann und
ein Sklavenhändler -- sondern die Freiheit der nicht bloss instinktiven,
sondern schöpferischen Gestaltung, die Freiheit zu dichten. Das ist
jene Freiheit von der Schiller sprach, ein kostbarstes Geschenk, für
welches den Hellenen ewige Dankbarkeit gebührt, würdig einer weit
höheren Civilisation als der ihrigen und einer weit lauteren als der
unserigen.

Dies Alles nur als eine nicht zu entbehrende Andeutung, welche
uns zu einer letzten Betrachtung hinübergeleiten soll.

Verfall der
Religion.

Erkennen wir deutlich, dass der Schulmann die Macht besitzt,
Leichen wieder zu beleben und einem rührigen, arbeitsamen Jahr-
hundert Mumien als Muster aufzudrängen, so müssen wir bei ge-
nauerem Untersuchen gewahr werden, dass Andere das in noch
höherem Masse vermögen, da zu den lebendigsten Teilen der helleni-
schen Erbschaft ein recht bedeutender Teil unseres kirchlichen Glaubens
gehört, nicht jedoch die Lichtseite desselben, sondern der tiefe Schatten
krauser und krasser Aberglauben, sowie der dürre, aller Blätter und
Blüten der Poesie entkleidete Dornenstrauch scholastischer Vernünftelei.
Die Engel und die Teufel, die grause Vorstellung der Hölle, die
Gespenster der Abgeschiedenen (die gerade in unserem angeblich auf-
geklärten Jahrhundert unsere Tische mit Klopfen und Drehen so viel
in Bewegung setzten!), den ekstatisch-religiösen Wahnsinn, die Hypo-
stasen des Demiurgos, des Logos, die Definition des Göttlichen, die
Vorstellung von der Trinität -- -- -- -- überhaupt den ganzen
eigentlichen Untergrund unserer Dogmatik verdanken wir zum grossen
Teil den Hellenen; zugleich verdanken wir ihnen die spitzfindige
Behandlung dieser Dinge: Aristoteles mit seiner Seelen- und Gottlehre
ist der erste und grösste aller Scholastiker; sein Prophet, Thomas von
Aquin, ist gegen Schluss unseres neunzehnten Jahrhunderts (1879) vom
unfehlbaren Papste zum offiziellen Philosophen der katholischen Kirche
ernannt worden; zugleich griff auf Aristoteles ein grosser Teil der
logisierenden Freigeister zurück, der Feinde aller Metaphysik und Ver-
künder einer "Vernunftreligion", wie John Stuart Mill und David
Strauss. Hier handelt es sich, wie man sieht, um eine recht lebendige

Das Erbe der alten Welt.
Wesen an ihnen war schon zu alt, zu raffiniert und verdorben, um
mit der Erleuchtung ihres Geistes Schritt zu halten; der hellenische
Geist jedoch errang einen Sieg, wie nie ein anderer; durch ihn —
und erst durch ihn — »trat der Mensch in das Tageslicht des Lebens
ein«; die Freiheit, die der Grieche hierdurch dem Menschengeschlecht
erfocht, war nicht die politische — er war und blieb ein Tyrann und
ein Sklavenhändler — sondern die Freiheit der nicht bloss instinktiven,
sondern schöpferischen Gestaltung, die Freiheit zu dichten. Das ist
jene Freiheit von der Schiller sprach, ein kostbarstes Geschenk, für
welches den Hellenen ewige Dankbarkeit gebührt, würdig einer weit
höheren Civilisation als der ihrigen und einer weit lauteren als der
unserigen.

Dies Alles nur als eine nicht zu entbehrende Andeutung, welche
uns zu einer letzten Betrachtung hinübergeleiten soll.

Verfall der
Religion.

Erkennen wir deutlich, dass der Schulmann die Macht besitzt,
Leichen wieder zu beleben und einem rührigen, arbeitsamen Jahr-
hundert Mumien als Muster aufzudrängen, so müssen wir bei ge-
nauerem Untersuchen gewahr werden, dass Andere das in noch
höherem Masse vermögen, da zu den lebendigsten Teilen der helleni-
schen Erbschaft ein recht bedeutender Teil unseres kirchlichen Glaubens
gehört, nicht jedoch die Lichtseite desselben, sondern der tiefe Schatten
krauser und krasser Aberglauben, sowie der dürre, aller Blätter und
Blüten der Poesie entkleidete Dornenstrauch scholastischer Vernünftelei.
Die Engel und die Teufel, die grause Vorstellung der Hölle, die
Gespenster der Abgeschiedenen (die gerade in unserem angeblich auf-
geklärten Jahrhundert unsere Tische mit Klopfen und Drehen so viel
in Bewegung setzten!), den ekstatisch-religiösen Wahnsinn, die Hypo-
stasen des Demiurgos, des Logos, die Definition des Göttlichen, die
Vorstellung von der Trinität — — — — überhaupt den ganzen
eigentlichen Untergrund unserer Dogmatik verdanken wir zum grossen
Teil den Hellenen; zugleich verdanken wir ihnen die spitzfindige
Behandlung dieser Dinge: Aristoteles mit seiner Seelen- und Gottlehre
ist der erste und grösste aller Scholastiker; sein Prophet, Thomas von
Aquin, ist gegen Schluss unseres neunzehnten Jahrhunderts (1879) vom
unfehlbaren Papste zum offiziellen Philosophen der katholischen Kirche
ernannt worden; zugleich griff auf Aristoteles ein grosser Teil der
logisierenden Freigeister zurück, der Feinde aller Metaphysik und Ver-
künder einer »Vernunftreligion«, wie John Stuart Mill und David
Strauss. Hier handelt es sich, wie man sieht, um eine recht lebendige

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[98/0121] Das Erbe der alten Welt. Wesen an ihnen war schon zu alt, zu raffiniert und verdorben, um mit der Erleuchtung ihres Geistes Schritt zu halten; der hellenische Geist jedoch errang einen Sieg, wie nie ein anderer; durch ihn — und erst durch ihn — »trat der Mensch in das Tageslicht des Lebens ein«; die Freiheit, die der Grieche hierdurch dem Menschengeschlecht erfocht, war nicht die politische — er war und blieb ein Tyrann und ein Sklavenhändler — sondern die Freiheit der nicht bloss instinktiven, sondern schöpferischen Gestaltung, die Freiheit zu dichten. Das ist jene Freiheit von der Schiller sprach, ein kostbarstes Geschenk, für welches den Hellenen ewige Dankbarkeit gebührt, würdig einer weit höheren Civilisation als der ihrigen und einer weit lauteren als der unserigen. Dies Alles nur als eine nicht zu entbehrende Andeutung, welche uns zu einer letzten Betrachtung hinübergeleiten soll. Erkennen wir deutlich, dass der Schulmann die Macht besitzt, Leichen wieder zu beleben und einem rührigen, arbeitsamen Jahr- hundert Mumien als Muster aufzudrängen, so müssen wir bei ge- nauerem Untersuchen gewahr werden, dass Andere das in noch höherem Masse vermögen, da zu den lebendigsten Teilen der helleni- schen Erbschaft ein recht bedeutender Teil unseres kirchlichen Glaubens gehört, nicht jedoch die Lichtseite desselben, sondern der tiefe Schatten krauser und krasser Aberglauben, sowie der dürre, aller Blätter und Blüten der Poesie entkleidete Dornenstrauch scholastischer Vernünftelei. Die Engel und die Teufel, die grause Vorstellung der Hölle, die Gespenster der Abgeschiedenen (die gerade in unserem angeblich auf- geklärten Jahrhundert unsere Tische mit Klopfen und Drehen so viel in Bewegung setzten!), den ekstatisch-religiösen Wahnsinn, die Hypo- stasen des Demiurgos, des Logos, die Definition des Göttlichen, die Vorstellung von der Trinität — — — — überhaupt den ganzen eigentlichen Untergrund unserer Dogmatik verdanken wir zum grossen Teil den Hellenen; zugleich verdanken wir ihnen die spitzfindige Behandlung dieser Dinge: Aristoteles mit seiner Seelen- und Gottlehre ist der erste und grösste aller Scholastiker; sein Prophet, Thomas von Aquin, ist gegen Schluss unseres neunzehnten Jahrhunderts (1879) vom unfehlbaren Papste zum offiziellen Philosophen der katholischen Kirche ernannt worden; zugleich griff auf Aristoteles ein grosser Teil der logisierenden Freigeister zurück, der Feinde aller Metaphysik und Ver- künder einer »Vernunftreligion«, wie John Stuart Mill und David Strauss. Hier handelt es sich, wie man sieht, um eine recht lebendige

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Zitationshilfe: Chamberlain, Houston Stewart: Die Grundlagen des Neunzehnten Jahrhunderts. Bd. 1. München 1899, S. 98. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/chamberlain_grundlagen01_1899/121>, abgerufen am 28.04.2024.