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Chamberlain, Houston Stewart: Die Grundlagen des Neunzehnten Jahrhunderts. Bd. 1. München 1899.

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Das Erbe der alten Welt.
keit eines in der Zeit entstandenen Individuums, war in Folge dessen
den Griechen als eine Eigenschaft ihrer Götter geläufig; die Dicht-
kunst hat ihn wahrscheinlich schon vorgefunden, jedenfalls aber durch
die Macht der poetischen Vorstellungskraft zu einer bestimmten
Wirklichkeit erst erhoben. Weiter reicht die Beteiligung der Kunst
nicht. Wir sehen sie im Gegenteil bestrebt, jenen "überall als ur-
sprünglich vorauszusetzenden Dämonenglauben",1) die Vorstellung
einer "Unterwelt", die Erzählung von "Inseln der Seligen" -- kurz,
alle jene Elemente, welche aus dem Untergrund des Aberglaubens
aufwachsend, sich der menschlichen Phantasie aufzwingen, möglichst
zu entfernen, zu mildern, auf ein Geringes zurückzuführen, um für
die gegebenen Thatsachen der Welt und des Lebens, und für ihre
poetisch-religiöse, schöpferische Bearbeitung freies, offenes Feld zu ge-
winnen. Anders der Volksglaube, der, wie wir soeben sahen, an einer so
hohen künstlerischen Religion nicht Genüge fand und sich lieber von
rohen Thrakiern unterweisen liess. Anders auch die Philosophie, welche
neben einer solchen Poesie ein Untergeordnetes blieb, bis der Tag kam,
wo sie sich im Stande wähnte, der Fabel Geschichte, dem Symbol aus-
führliche Erkenntnis entgegenzustellen: die Anregung jedoch hierzu
schöpfte die Philosophie nicht aus sich selbst, auch nicht aus den
Resultaten der empirischen Wissenschaft, die nirgends auf Seelen,
Entelechieen, Unsterblichkeit u. s. w. gestossen war, sondern sie er-
hielt sie aus dem Volke, teilweise aus Asien (durch Pythagoras),
teilweise aus dem nördlichen Europa (als orphischen, resp. dionysischen
Kult). Die Lehre von einer vom lebendigen Körper ablösbaren, mehr
oder weniger unabhängigen Seele, die daraus leicht gefolgerte Lehre
von körperlosen und doch lebendigen Seelen, z. B. der Gestorbenen,
nunmehr als blosse Seelen weiterlebend, sowie auch von einem "seelen-
haften" göttlichen Prinzip (ganz analog dem Nus des Anaxagoras,
d. h. der vom Stoff unterschiedenen Kraft), ferner die Lehre von der
Unsterblichkeit dieser Seele: das sind also zunächst nicht Ergebnisse
eines gesteigerten philosophischen Denkens, ebensowenig bilden sie in
irgend einem Sinne eine evolutive Fortentwickelung, eine Verklärung
jener hellenischen Nationalreligion, die in den Dichtern ihren höchsten
Ausdruck gefunden hatte; vielmehr stellen sich hier Volk und Denker
in Gegensatz zu Dichter und Religion. Und gehorchen sie auch ver-

den betreffenden Posten bekleidet, der führt den Titel Indra" (I, 3, 28; S. 170
der Übersetzung Deussen's).
1) Deussen: Allgemeine Geschichte der Philosophie, I, 39; siehe auch Tylor.

Das Erbe der alten Welt.
keit eines in der Zeit entstandenen Individuums, war in Folge dessen
den Griechen als eine Eigenschaft ihrer Götter geläufig; die Dicht-
kunst hat ihn wahrscheinlich schon vorgefunden, jedenfalls aber durch
die Macht der poetischen Vorstellungskraft zu einer bestimmten
Wirklichkeit erst erhoben. Weiter reicht die Beteiligung der Kunst
nicht. Wir sehen sie im Gegenteil bestrebt, jenen ȟberall als ur-
sprünglich vorauszusetzenden Dämonenglauben«,1) die Vorstellung
einer »Unterwelt«, die Erzählung von »Inseln der Seligen« — kurz,
alle jene Elemente, welche aus dem Untergrund des Aberglaubens
aufwachsend, sich der menschlichen Phantasie aufzwingen, möglichst
zu entfernen, zu mildern, auf ein Geringes zurückzuführen, um für
die gegebenen Thatsachen der Welt und des Lebens, und für ihre
poetisch-religiöse, schöpferische Bearbeitung freies, offenes Feld zu ge-
winnen. Anders der Volksglaube, der, wie wir soeben sahen, an einer so
hohen künstlerischen Religion nicht Genüge fand und sich lieber von
rohen Thrakiern unterweisen liess. Anders auch die Philosophie, welche
neben einer solchen Poesie ein Untergeordnetes blieb, bis der Tag kam,
wo sie sich im Stande wähnte, der Fabel Geschichte, dem Symbol aus-
führliche Erkenntnis entgegenzustellen: die Anregung jedoch hierzu
schöpfte die Philosophie nicht aus sich selbst, auch nicht aus den
Resultaten der empirischen Wissenschaft, die nirgends auf Seelen,
Entelechieen, Unsterblichkeit u. s. w. gestossen war, sondern sie er-
hielt sie aus dem Volke, teilweise aus Asien (durch Pythagoras),
teilweise aus dem nördlichen Europa (als orphischen, resp. dionysischen
Kult). Die Lehre von einer vom lebendigen Körper ablösbaren, mehr
oder weniger unabhängigen Seele, die daraus leicht gefolgerte Lehre
von körperlosen und doch lebendigen Seelen, z. B. der Gestorbenen,
nunmehr als blosse Seelen weiterlebend, sowie auch von einem »seelen-
haften« göttlichen Prinzip (ganz analog dem Nus des Anaxagoras,
d. h. der vom Stoff unterschiedenen Kraft), ferner die Lehre von der
Unsterblichkeit dieser Seele: das sind also zunächst nicht Ergebnisse
eines gesteigerten philosophischen Denkens, ebensowenig bilden sie in
irgend einem Sinne eine evolutive Fortentwickelung, eine Verklärung
jener hellenischen Nationalreligion, die in den Dichtern ihren höchsten
Ausdruck gefunden hatte; vielmehr stellen sich hier Volk und Denker
in Gegensatz zu Dichter und Religion. Und gehorchen sie auch ver-

den betreffenden Posten bekleidet, der führt den Titel Indra« (I, 3, 28; S. 170
der Übersetzung Deussen’s).
1) Deussen: Allgemeine Geschichte der Philosophie, I, 39; siehe auch Tylor.
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[104/0127] Das Erbe der alten Welt. keit eines in der Zeit entstandenen Individuums, war in Folge dessen den Griechen als eine Eigenschaft ihrer Götter geläufig; die Dicht- kunst hat ihn wahrscheinlich schon vorgefunden, jedenfalls aber durch die Macht der poetischen Vorstellungskraft zu einer bestimmten Wirklichkeit erst erhoben. Weiter reicht die Beteiligung der Kunst nicht. Wir sehen sie im Gegenteil bestrebt, jenen »überall als ur- sprünglich vorauszusetzenden Dämonenglauben«, 1) die Vorstellung einer »Unterwelt«, die Erzählung von »Inseln der Seligen« — kurz, alle jene Elemente, welche aus dem Untergrund des Aberglaubens aufwachsend, sich der menschlichen Phantasie aufzwingen, möglichst zu entfernen, zu mildern, auf ein Geringes zurückzuführen, um für die gegebenen Thatsachen der Welt und des Lebens, und für ihre poetisch-religiöse, schöpferische Bearbeitung freies, offenes Feld zu ge- winnen. Anders der Volksglaube, der, wie wir soeben sahen, an einer so hohen künstlerischen Religion nicht Genüge fand und sich lieber von rohen Thrakiern unterweisen liess. Anders auch die Philosophie, welche neben einer solchen Poesie ein Untergeordnetes blieb, bis der Tag kam, wo sie sich im Stande wähnte, der Fabel Geschichte, dem Symbol aus- führliche Erkenntnis entgegenzustellen: die Anregung jedoch hierzu schöpfte die Philosophie nicht aus sich selbst, auch nicht aus den Resultaten der empirischen Wissenschaft, die nirgends auf Seelen, Entelechieen, Unsterblichkeit u. s. w. gestossen war, sondern sie er- hielt sie aus dem Volke, teilweise aus Asien (durch Pythagoras), teilweise aus dem nördlichen Europa (als orphischen, resp. dionysischen Kult). Die Lehre von einer vom lebendigen Körper ablösbaren, mehr oder weniger unabhängigen Seele, die daraus leicht gefolgerte Lehre von körperlosen und doch lebendigen Seelen, z. B. der Gestorbenen, nunmehr als blosse Seelen weiterlebend, sowie auch von einem »seelen- haften« göttlichen Prinzip (ganz analog dem Nus des Anaxagoras, d. h. der vom Stoff unterschiedenen Kraft), ferner die Lehre von der Unsterblichkeit dieser Seele: das sind also zunächst nicht Ergebnisse eines gesteigerten philosophischen Denkens, ebensowenig bilden sie in irgend einem Sinne eine evolutive Fortentwickelung, eine Verklärung jener hellenischen Nationalreligion, die in den Dichtern ihren höchsten Ausdruck gefunden hatte; vielmehr stellen sich hier Volk und Denker in Gegensatz zu Dichter und Religion. Und gehorchen sie auch ver- 2) 1) Deussen: Allgemeine Geschichte der Philosophie, I, 39; siehe auch Tylor. 2) den betreffenden Posten bekleidet, der führt den Titel Indra« (I, 3, 28; S. 170 der Übersetzung Deussen’s).

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Zitationshilfe: Chamberlain, Houston Stewart: Die Grundlagen des Neunzehnten Jahrhunderts. Bd. 1. München 1899, S. 104. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/chamberlain_grundlagen01_1899/127>, abgerufen am 29.04.2024.