Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Chamberlain, Houston Stewart: Die Grundlagen des Neunzehnten Jahrhunderts. Bd. 1. München 1899.

Bild:
<< vorherige Seite

Hellenische Kunst und Philosophie.
schiedenen Impulsen, so arbeiten Volk und Denker doch einander in
die Hand; zusammen richteten sie denn auch Dichtkunst und Religion
zu Grunde. Und als die hierdurch hervorgerufene Krise vorbei war,
fand es sich, dass jetzt die Philosophen als Religionsverkünder an die
Stelle der Künstler getreten waren! Im Grunde hatten ja beide,
Dichter und Philosophen, ihr Material im Volke geschöpft; wer aber
von beiden, frage ich, hat es besser verwaltet und weiser? Wer hat
die Wege zu Freiheit und Schönheit, wer dagegen die zu Knecht-
schaft und Unschönheit gewiesen? Wer hat gesunde, empirische
Wissenschaft angebahnt, und wer Wissenschaft fast zwei Jahrtausende
gehemmt? Wenn nicht inzwischen aus einer ganz anderen Himmels-
richtung her, aus der Mitte eines Volkes, das weder Kunst noch
Philosophie besass, eine religiöse Macht in die Welt getreten wäre,
so stark, dass sie den zum Vernunftsystem erhobenen Wirbeltanz-
wahnsinn tragen konnte, ohne zusammenzubrechen, so lichtvoll, dass
selbst die finstere Nacht der anschauungsbaren Logik ihren Glanz
niemals ganz zu löschen vermochte, eine religiöse Macht schon durch
ihren Ursprung berufen, eher civilisatorisch als kulturell zu wirken, --
wenn das nicht gewesen wäre, da hätte sich dieses angebliche Empor-
steigen zu höheren Idealen gar jämmerlich bewährt, oder vielmehr,
seine thatsächliche Jämmerlichkeit wäre nicht verdeckt geblieben. Wer
dies bezweifelt, der sehe sich in der Litteratur der ersten Jahrhunderte
unserer Zeitrechnung um, wo die vom Staate besoldeten, antichrist-
lichen Philosophen ihre Wissenschaftslehre "Theologie" betitelten (Plotin,
Proklos u. s. w.), er sehe, wie diese Herren in den Mussestunden, die
ihnen das Zerpflücken des Homer, das Kommentieren des Aristoteles,
das Aufbauen von Trinitäten, die Diskussion darüber, ob Gott ausser
dem Sein auch das Leben zukomme, und über dergleichen subtile
Fragen mehr übrig liessen, er sehe, wie sie in ihren Mussestunden
von einem Ort zum andern wandern, um sich in Mysterien ein-
weihen, oder sich von orphischen Genossenschaften als Hierophanten
aufnehmen zu lassen, die ersten Denker dem krassesten Zauberglauben
ergeben. Oder, wenn eine derartige Lektüre erschreckt, so nehme man
den witzigen Heinrich Heine des zweiten Jahrhunderts, Lucian, zur
Hand, und ergänze seine Mitteilungen durch die ernsteren und ebenso
unterhaltenden Schriften seines Zeitgenossen Apulejus,1) -- und dann

1) Siehe namentlich im 11. Buch des Goldenen Esels die Einweihung in die
Mysterien der Isis, des Osiris, des Serapis und die Aufnahme in das Kollegium
der Pastophori. Man lese auch die Schrift Plutarch's: Über Isis und Osiris.

Hellenische Kunst und Philosophie.
schiedenen Impulsen, so arbeiten Volk und Denker doch einander in
die Hand; zusammen richteten sie denn auch Dichtkunst und Religion
zu Grunde. Und als die hierdurch hervorgerufene Krise vorbei war,
fand es sich, dass jetzt die Philosophen als Religionsverkünder an die
Stelle der Künstler getreten waren! Im Grunde hatten ja beide,
Dichter und Philosophen, ihr Material im Volke geschöpft; wer aber
von beiden, frage ich, hat es besser verwaltet und weiser? Wer hat
die Wege zu Freiheit und Schönheit, wer dagegen die zu Knecht-
schaft und Unschönheit gewiesen? Wer hat gesunde, empirische
Wissenschaft angebahnt, und wer Wissenschaft fast zwei Jahrtausende
gehemmt? Wenn nicht inzwischen aus einer ganz anderen Himmels-
richtung her, aus der Mitte eines Volkes, das weder Kunst noch
Philosophie besass, eine religiöse Macht in die Welt getreten wäre,
so stark, dass sie den zum Vernunftsystem erhobenen Wirbeltanz-
wahnsinn tragen konnte, ohne zusammenzubrechen, so lichtvoll, dass
selbst die finstere Nacht der anschauungsbaren Logik ihren Glanz
niemals ganz zu löschen vermochte, eine religiöse Macht schon durch
ihren Ursprung berufen, eher civilisatorisch als kulturell zu wirken, —
wenn das nicht gewesen wäre, da hätte sich dieses angebliche Empor-
steigen zu höheren Idealen gar jämmerlich bewährt, oder vielmehr,
seine thatsächliche Jämmerlichkeit wäre nicht verdeckt geblieben. Wer
dies bezweifelt, der sehe sich in der Litteratur der ersten Jahrhunderte
unserer Zeitrechnung um, wo die vom Staate besoldeten, antichrist-
lichen Philosophen ihre Wissenschaftslehre »Theologie« betitelten (Plotin,
Proklos u. s. w.), er sehe, wie diese Herren in den Mussestunden, die
ihnen das Zerpflücken des Homer, das Kommentieren des Aristoteles,
das Aufbauen von Trinitäten, die Diskussion darüber, ob Gott ausser
dem Sein auch das Leben zukomme, und über dergleichen subtile
Fragen mehr übrig liessen, er sehe, wie sie in ihren Mussestunden
von einem Ort zum andern wandern, um sich in Mysterien ein-
weihen, oder sich von orphischen Genossenschaften als Hierophanten
aufnehmen zu lassen, die ersten Denker dem krassesten Zauberglauben
ergeben. Oder, wenn eine derartige Lektüre erschreckt, so nehme man
den witzigen Heinrich Heine des zweiten Jahrhunderts, Lucian, zur
Hand, und ergänze seine Mitteilungen durch die ernsteren und ebenso
unterhaltenden Schriften seines Zeitgenossen Apulejus,1) — und dann

1) Siehe namentlich im 11. Buch des Goldenen Esels die Einweihung in die
Mysterien der Isis, des Osiris, des Serapis und die Aufnahme in das Kollegium
der Pastophori. Man lese auch die Schrift Plutarch’s: Über Isis und Osiris.
<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <div n="3">
            <p><pb facs="#f0128" n="105"/><fw place="top" type="header">Hellenische Kunst und Philosophie.</fw><lb/>
schiedenen Impulsen, so arbeiten Volk und Denker doch einander in<lb/>
die Hand; zusammen richteten sie denn auch Dichtkunst und Religion<lb/>
zu Grunde. Und als die hierdurch hervorgerufene Krise vorbei war,<lb/>
fand es sich, dass jetzt die Philosophen als Religionsverkünder an die<lb/>
Stelle der Künstler getreten waren! Im Grunde hatten ja beide,<lb/>
Dichter und Philosophen, ihr Material im Volke geschöpft; wer aber<lb/>
von beiden, frage ich, hat es besser verwaltet und weiser? Wer hat<lb/>
die Wege zu Freiheit und Schönheit, wer dagegen die zu Knecht-<lb/>
schaft und Unschönheit gewiesen? Wer hat gesunde, empirische<lb/>
Wissenschaft angebahnt, und wer Wissenschaft fast zwei Jahrtausende<lb/>
gehemmt? Wenn nicht inzwischen aus einer ganz anderen Himmels-<lb/>
richtung her, aus der Mitte eines Volkes, das weder Kunst noch<lb/>
Philosophie besass, eine religiöse Macht in die Welt getreten wäre,<lb/>
so stark, dass sie den zum Vernunftsystem erhobenen Wirbeltanz-<lb/>
wahnsinn tragen konnte, ohne zusammenzubrechen, so lichtvoll, dass<lb/>
selbst die finstere Nacht der anschauungsbaren Logik ihren Glanz<lb/>
niemals ganz zu löschen vermochte, eine religiöse Macht schon durch<lb/>
ihren Ursprung berufen, eher civilisatorisch als kulturell zu wirken, &#x2014;<lb/>
wenn das nicht gewesen wäre, da hätte sich dieses angebliche Empor-<lb/>
steigen zu höheren Idealen gar jämmerlich bewährt, oder vielmehr,<lb/>
seine thatsächliche Jämmerlichkeit wäre nicht verdeckt geblieben. Wer<lb/>
dies bezweifelt, der sehe sich in der Litteratur der ersten Jahrhunderte<lb/>
unserer Zeitrechnung um, wo die vom Staate besoldeten, antichrist-<lb/>
lichen Philosophen ihre Wissenschaftslehre »Theologie« betitelten (Plotin,<lb/>
Proklos u. s. w.), er sehe, wie diese Herren in den Mussestunden, die<lb/>
ihnen das Zerpflücken des Homer, das Kommentieren des Aristoteles,<lb/>
das Aufbauen von Trinitäten, die Diskussion darüber, ob Gott ausser<lb/>
dem Sein auch das Leben zukomme, und über dergleichen subtile<lb/>
Fragen mehr übrig liessen, er sehe, wie sie in ihren Mussestunden<lb/>
von einem Ort zum andern wandern, um sich in Mysterien ein-<lb/>
weihen, oder sich von orphischen Genossenschaften als Hierophanten<lb/>
aufnehmen zu lassen, die ersten Denker dem krassesten Zauberglauben<lb/>
ergeben. Oder, wenn eine derartige Lektüre erschreckt, so nehme man<lb/>
den witzigen Heinrich Heine des zweiten Jahrhunderts, <hi rendition="#g">Lucian,</hi> zur<lb/>
Hand, und ergänze seine Mitteilungen durch die ernsteren und ebenso<lb/>
unterhaltenden Schriften seines Zeitgenossen <hi rendition="#g">Apulejus,</hi><note place="foot" n="1)">Siehe namentlich im 11. Buch des <hi rendition="#i">Goldenen Esels</hi> die Einweihung in die<lb/>
Mysterien der Isis, des Osiris, des Serapis und die Aufnahme in das Kollegium<lb/>
der Pastophori. Man lese auch die Schrift <hi rendition="#g">Plutarch&#x2019;s:</hi> <hi rendition="#i">Über Isis und Osiris.</hi></note> &#x2014; und dann<lb/></p>
          </div>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[105/0128] Hellenische Kunst und Philosophie. schiedenen Impulsen, so arbeiten Volk und Denker doch einander in die Hand; zusammen richteten sie denn auch Dichtkunst und Religion zu Grunde. Und als die hierdurch hervorgerufene Krise vorbei war, fand es sich, dass jetzt die Philosophen als Religionsverkünder an die Stelle der Künstler getreten waren! Im Grunde hatten ja beide, Dichter und Philosophen, ihr Material im Volke geschöpft; wer aber von beiden, frage ich, hat es besser verwaltet und weiser? Wer hat die Wege zu Freiheit und Schönheit, wer dagegen die zu Knecht- schaft und Unschönheit gewiesen? Wer hat gesunde, empirische Wissenschaft angebahnt, und wer Wissenschaft fast zwei Jahrtausende gehemmt? Wenn nicht inzwischen aus einer ganz anderen Himmels- richtung her, aus der Mitte eines Volkes, das weder Kunst noch Philosophie besass, eine religiöse Macht in die Welt getreten wäre, so stark, dass sie den zum Vernunftsystem erhobenen Wirbeltanz- wahnsinn tragen konnte, ohne zusammenzubrechen, so lichtvoll, dass selbst die finstere Nacht der anschauungsbaren Logik ihren Glanz niemals ganz zu löschen vermochte, eine religiöse Macht schon durch ihren Ursprung berufen, eher civilisatorisch als kulturell zu wirken, — wenn das nicht gewesen wäre, da hätte sich dieses angebliche Empor- steigen zu höheren Idealen gar jämmerlich bewährt, oder vielmehr, seine thatsächliche Jämmerlichkeit wäre nicht verdeckt geblieben. Wer dies bezweifelt, der sehe sich in der Litteratur der ersten Jahrhunderte unserer Zeitrechnung um, wo die vom Staate besoldeten, antichrist- lichen Philosophen ihre Wissenschaftslehre »Theologie« betitelten (Plotin, Proklos u. s. w.), er sehe, wie diese Herren in den Mussestunden, die ihnen das Zerpflücken des Homer, das Kommentieren des Aristoteles, das Aufbauen von Trinitäten, die Diskussion darüber, ob Gott ausser dem Sein auch das Leben zukomme, und über dergleichen subtile Fragen mehr übrig liessen, er sehe, wie sie in ihren Mussestunden von einem Ort zum andern wandern, um sich in Mysterien ein- weihen, oder sich von orphischen Genossenschaften als Hierophanten aufnehmen zu lassen, die ersten Denker dem krassesten Zauberglauben ergeben. Oder, wenn eine derartige Lektüre erschreckt, so nehme man den witzigen Heinrich Heine des zweiten Jahrhunderts, Lucian, zur Hand, und ergänze seine Mitteilungen durch die ernsteren und ebenso unterhaltenden Schriften seines Zeitgenossen Apulejus, 1) — und dann 1) Siehe namentlich im 11. Buch des Goldenen Esels die Einweihung in die Mysterien der Isis, des Osiris, des Serapis und die Aufnahme in das Kollegium der Pastophori. Man lese auch die Schrift Plutarch’s: Über Isis und Osiris.

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
TCF (tokenisiert, serialisiert, lemmatisiert, normalisiert)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/chamberlain_grundlagen01_1899
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/chamberlain_grundlagen01_1899/128
Zitationshilfe: Chamberlain, Houston Stewart: Die Grundlagen des Neunzehnten Jahrhunderts. Bd. 1. München 1899, S. 105. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/chamberlain_grundlagen01_1899/128>, abgerufen am 29.04.2024.