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Chamberlain, Houston Stewart: Die Grundlagen des Neunzehnten Jahrhunderts. Bd. 1. München 1899.

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Das Erbe der alten Welt.
gründen konnten?1) Oder wirkten nicht vielmehr in Rom Blut-
mischungen innerhalb des gemeinsamen Mutterstammes, zugleich mit
der durch geographische und historische Verhältnisse bedingten Zucht-
wahl zur Hervorbringung abnormer Begabungen (natürlich mit be-

eigentümlichen Eheverbote" dieser elenden Rasse berichtete, wo "ein Mann kein
Weib heiraten darf, die denselben Namen trägt wie er, und sei sie mit ihm auch
gar nicht verwandt". Merkwürdig! Und wie konnten diese Menschen, deren
Pflicht es nach der Evolutionstheorie gewesen wäre, in unbeschränktester Geschlechts-
gemeinschaft zu leben, sich so unerklärliche Grillen gestatten? Nunmehr haben
zwei englische Beamte, die jahrelang unter diesen wilden Völkern lebten und ihr
Vertrauen sich erwarben, uns ausführlich über sie berichtet (Royal Society of
Victoria,
April 1897, Auszug in "Nature" vom 10. Juni 1897) und es stellt sich
heraus, dass ihr ganzes geistiges Leben, ihr "Vorstellungsleben" (wenn ich so
sagen darf), von einer so fabelhaften Kompliziertheit ist, dass unsereiner ihm schwer
folgen kann. So haben z. B. diese Menschen, die angeblich nicht bis 5 zählen
können, einen verwickelteren Seelenwanderungsglauben als Plato und dieser
Glaube giebt die Grundlage ihrer Religion ab! Nun aber ihre Ehegesetze. In
der besonderen Gegend, von der hier die Rede ist, wohnt ein ethnisch ein-
heitlicher Stamm, die Aruntas. Jede eheliche Verbindung mit fremden Stämmen
ist verboten; dadurch wird also die Rasse rein erhalten. Den so äusserst schäd-
lichen Folgen einer langanhaltenden Inzucht aber (Lamprecht's Germanen wären
ja längst, ehe sie in die Geschichte eintraten, alle Cretins gewesen!) begegnen
die Australneger durch folgende sinnreiche Kombination: den ganzen Stamm teilen
sie (in Gedanken) in vier Gruppen ein; ich bezeichne sie zur Vereinfachung als
a, b, c und d. Ein Jüngling aus der Gruppe a darf nur ein Mädchen aus der
Gruppe d heiraten, der männliche b nur die weibliche c, der männliche c nur die
weibliche b, der männliche d nur die weibliche a. Die Kinder von a und d
bilden wiederum die Gruppe b, die von b und c die Gruppe a, die von c
und b die Gruppe d, die von d und a die Gruppe c. Ich vereinfache sehr und
gebe nur das Gerippe, denn ich fürchte, mein europäischer Leser käme sonst bald
in die Lage, ebenfalls nicht bis 5 zählen zu können. Dass die Rechte des Herzens
bedeutende Einschränkungen nach diesem System sich gefallen lassen müssen, das
lässt sich nicht leugnen, aber ich frage, wie hätte ein wissenschaftlich gebildeter
Züchter etwas Sinnreicheres erdenken können, um den beiden, auf strenger Be-
obachtung fussenden Grundgesetzen der Züchtung zu entsprechen, die da sind:
1. die Rasse ist rein zu bewahren; 2. andauernde Inzucht ist zu vermeiden?
(siehe Kap. 4). Eine derartige Erscheinung fordert Ehrfurcht und Schweigen.
Bei ihrem Anblick schweigt man auch gern über solche Konstruktionen wie die
vorhin genannten aus dem Ende des 19. Jahrhunderts. Wie jedoch, wenn man
von den so unendlich mühsamen Versuchen dieser guten australischen Aruntas
den Blick auf Rom wirft und hier aus dem Herzen des Volkes (erst viel später
in eherne Tafeln gesetzlich eingegraben) die Heiligkeit der Ehe, die Rechtlichkeit
der Familie, die Freiheit des Hausherrn inmitten einer entsetzlichen Welt ent-
stehen sieht?
1) Thierry, Mommsen etc.

Das Erbe der alten Welt.
gründen konnten?1) Oder wirkten nicht vielmehr in Rom Blut-
mischungen innerhalb des gemeinsamen Mutterstammes, zugleich mit
der durch geographische und historische Verhältnisse bedingten Zucht-
wahl zur Hervorbringung abnormer Begabungen (natürlich mit be-

eigentümlichen Eheverbote« dieser elenden Rasse berichtete, wo »ein Mann kein
Weib heiraten darf, die denselben Namen trägt wie er, und sei sie mit ihm auch
gar nicht verwandt«. Merkwürdig! Und wie konnten diese Menschen, deren
Pflicht es nach der Evolutionstheorie gewesen wäre, in unbeschränktester Geschlechts-
gemeinschaft zu leben, sich so unerklärliche Grillen gestatten? Nunmehr haben
zwei englische Beamte, die jahrelang unter diesen wilden Völkern lebten und ihr
Vertrauen sich erwarben, uns ausführlich über sie berichtet (Royal Society of
Victoria,
April 1897, Auszug in »Nature« vom 10. Juni 1897) und es stellt sich
heraus, dass ihr ganzes geistiges Leben, ihr »Vorstellungsleben« (wenn ich so
sagen darf), von einer so fabelhaften Kompliziertheit ist, dass unsereiner ihm schwer
folgen kann. So haben z. B. diese Menschen, die angeblich nicht bis 5 zählen
können, einen verwickelteren Seelenwanderungsglauben als Plato und dieser
Glaube giebt die Grundlage ihrer Religion ab! Nun aber ihre Ehegesetze. In
der besonderen Gegend, von der hier die Rede ist, wohnt ein ethnisch ein-
heitlicher Stamm, die Aruntas. Jede eheliche Verbindung mit fremden Stämmen
ist verboten; dadurch wird also die Rasse rein erhalten. Den so äusserst schäd-
lichen Folgen einer langanhaltenden Inzucht aber (Lamprecht’s Germanen wären
ja längst, ehe sie in die Geschichte eintraten, alle Cretins gewesen!) begegnen
die Australneger durch folgende sinnreiche Kombination: den ganzen Stamm teilen
sie (in Gedanken) in vier Gruppen ein; ich bezeichne sie zur Vereinfachung als
a, b, c und d. Ein Jüngling aus der Gruppe a darf nur ein Mädchen aus der
Gruppe d heiraten, der männliche b nur die weibliche c, der männliche c nur die
weibliche b, der männliche d nur die weibliche a. Die Kinder von a und d
bilden wiederum die Gruppe b, die von b und c die Gruppe a, die von c
und b die Gruppe d, die von d und a die Gruppe c. Ich vereinfache sehr und
gebe nur das Gerippe, denn ich fürchte, mein europäischer Leser käme sonst bald
in die Lage, ebenfalls nicht bis 5 zählen zu können. Dass die Rechte des Herzens
bedeutende Einschränkungen nach diesem System sich gefallen lassen müssen, das
lässt sich nicht leugnen, aber ich frage, wie hätte ein wissenschaftlich gebildeter
Züchter etwas Sinnreicheres erdenken können, um den beiden, auf strenger Be-
obachtung fussenden Grundgesetzen der Züchtung zu entsprechen, die da sind:
1. die Rasse ist rein zu bewahren; 2. andauernde Inzucht ist zu vermeiden?
(siehe Kap. 4). Eine derartige Erscheinung fordert Ehrfurcht und Schweigen.
Bei ihrem Anblick schweigt man auch gern über solche Konstruktionen wie die
vorhin genannten aus dem Ende des 19. Jahrhunderts. Wie jedoch, wenn man
von den so unendlich mühsamen Versuchen dieser guten australischen Aruntas
den Blick auf Rom wirft und hier aus dem Herzen des Volkes (erst viel später
in eherne Tafeln gesetzlich eingegraben) die Heiligkeit der Ehe, die Rechtlichkeit
der Familie, die Freiheit des Hausherrn inmitten einer entsetzlichen Welt ent-
stehen sieht?
1) Thierry, Mommsen etc.
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[134/0157] Das Erbe der alten Welt. gründen konnten? 1) Oder wirkten nicht vielmehr in Rom Blut- mischungen innerhalb des gemeinsamen Mutterstammes, zugleich mit der durch geographische und historische Verhältnisse bedingten Zucht- wahl zur Hervorbringung abnormer Begabungen (natürlich mit be- 1) 1) Thierry, Mommsen etc. 1) eigentümlichen Eheverbote« dieser elenden Rasse berichtete, wo »ein Mann kein Weib heiraten darf, die denselben Namen trägt wie er, und sei sie mit ihm auch gar nicht verwandt«. Merkwürdig! Und wie konnten diese Menschen, deren Pflicht es nach der Evolutionstheorie gewesen wäre, in unbeschränktester Geschlechts- gemeinschaft zu leben, sich so unerklärliche Grillen gestatten? Nunmehr haben zwei englische Beamte, die jahrelang unter diesen wilden Völkern lebten und ihr Vertrauen sich erwarben, uns ausführlich über sie berichtet (Royal Society of Victoria, April 1897, Auszug in »Nature« vom 10. Juni 1897) und es stellt sich heraus, dass ihr ganzes geistiges Leben, ihr »Vorstellungsleben« (wenn ich so sagen darf), von einer so fabelhaften Kompliziertheit ist, dass unsereiner ihm schwer folgen kann. So haben z. B. diese Menschen, die angeblich nicht bis 5 zählen können, einen verwickelteren Seelenwanderungsglauben als Plato und dieser Glaube giebt die Grundlage ihrer Religion ab! Nun aber ihre Ehegesetze. In der besonderen Gegend, von der hier die Rede ist, wohnt ein ethnisch ein- heitlicher Stamm, die Aruntas. Jede eheliche Verbindung mit fremden Stämmen ist verboten; dadurch wird also die Rasse rein erhalten. Den so äusserst schäd- lichen Folgen einer langanhaltenden Inzucht aber (Lamprecht’s Germanen wären ja längst, ehe sie in die Geschichte eintraten, alle Cretins gewesen!) begegnen die Australneger durch folgende sinnreiche Kombination: den ganzen Stamm teilen sie (in Gedanken) in vier Gruppen ein; ich bezeichne sie zur Vereinfachung als a, b, c und d. Ein Jüngling aus der Gruppe a darf nur ein Mädchen aus der Gruppe d heiraten, der männliche b nur die weibliche c, der männliche c nur die weibliche b, der männliche d nur die weibliche a. Die Kinder von a und d bilden wiederum die Gruppe b, die von b und c die Gruppe a, die von c und b die Gruppe d, die von d und a die Gruppe c. Ich vereinfache sehr und gebe nur das Gerippe, denn ich fürchte, mein europäischer Leser käme sonst bald in die Lage, ebenfalls nicht bis 5 zählen zu können. Dass die Rechte des Herzens bedeutende Einschränkungen nach diesem System sich gefallen lassen müssen, das lässt sich nicht leugnen, aber ich frage, wie hätte ein wissenschaftlich gebildeter Züchter etwas Sinnreicheres erdenken können, um den beiden, auf strenger Be- obachtung fussenden Grundgesetzen der Züchtung zu entsprechen, die da sind: 1. die Rasse ist rein zu bewahren; 2. andauernde Inzucht ist zu vermeiden? (siehe Kap. 4). Eine derartige Erscheinung fordert Ehrfurcht und Schweigen. Bei ihrem Anblick schweigt man auch gern über solche Konstruktionen wie die vorhin genannten aus dem Ende des 19. Jahrhunderts. Wie jedoch, wenn man von den so unendlich mühsamen Versuchen dieser guten australischen Aruntas den Blick auf Rom wirft und hier aus dem Herzen des Volkes (erst viel später in eherne Tafeln gesetzlich eingegraben) die Heiligkeit der Ehe, die Rechtlichkeit der Familie, die Freiheit des Hausherrn inmitten einer entsetzlichen Welt ent- stehen sieht?

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Zitationshilfe: Chamberlain, Houston Stewart: Die Grundlagen des Neunzehnten Jahrhunderts. Bd. 1. München 1899, S. 134. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/chamberlain_grundlagen01_1899/157>, abgerufen am 27.04.2024.