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Chamberlain, Houston Stewart: Die Grundlagen des Neunzehnten Jahrhunderts. Bd. 1. München 1899.

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Römisches Recht.
gleitendenden Rückbildungserscheinungen)?1) Ich weiss es nicht.
Sicher ist aber, dass es vor der römischen keine heilige, würdige und
zugleich praktische Regelung der Ehe- und Familienverhältnisse gab;
ebensowenig ein rationelles Recht auf sicherer, ausbildungsfähiger Grund-
lage ruhend, und eine den Stürmen einer chaotischen Zeit gewachsene
staatliche Organisation. Mochte das einfach gezimmerte Räderwerk
des alten römischen Staates häufig noch unbeholfen arbeiten und
gründliche Reparaturen erfordern, es war ein prächtiges, zeit- und
zweckgemässes Gebäude. Das Recht war dort von Anfang an un-
endlich fein empfunden und gedacht, und seine Beschränkung ent-
sprach den Verhältnissen. Und endlich die Familie! die gab es einzig
und allein in Rom, und zwar so schön, wie sie die Welt nie wieder
gesehen hat! Jeder römische Bürger, gleichviel ob Patrizier oder Plebejer,

1) Bis vor Kurzem war es sehr beliebt, die Bevölkerung Roms als eine Art
von Plaid nebeneinander lebender Völkerschaften darzustellen: von hellenischen
Bestandteilen hätte sie ihre Traditionen, von etruskischen ihre Verwaltung, von
sabinischen ihr Recht, von samenitischen ihren Geist u. s. w. Rom wäre gewisser-
massen also ein blosses Wort gewesen, ein Name, die gemeinsame Bezeichnung
für ein internationales Stelldichein. Auch diese Seifenblase, aufgestiegen aus dem
Gehirnschaum blasser Gelehrten, ist, wie so manche andere, in Mommsen's Händen
zerplatzt. Thatsachen und Vernunft, beide beweisen die Widersinnigkeit einer
derartigen Hypothese, "die sich bemüht, das Volk, das wie wenig andere seine
Sprache, seinen Staat und seine Religion rein und volkstümlich entwickelt hat, in
ein wüstes Gerölle etruskischer und sabinischer, hellenischer und leider sogar
pelasgischer Trümmer zu verwandeln" (Röm. Gesch. I, 43). Dass aber dieses durch-
aus einheitliche, eigenartige Volk aus einer ursprünglichen Kreuzung verschiedener
verwandter Stämme hervorging, ist sicher und wird von Mommsen selber klar
entwickelt; er nimmt zwei latinische und einen sabellischen Stamm an; später trat
noch allerhand dazu, aber erst, als der römische Nationalcharakter fest ausgebildet
war, so dass er sich das Fremde assimilierte. Es wäre jedoch lächerlich, "Rom
darum den Mischvölkern beizuzählen" (a. a. O., S. 44). -- Etwas ganz anderes ist
es, festzustellen, dass die ausserordentlichsten, individuellsten Begabungen und die
stämmigste Kraft aus Kreuzungen hervorgehen: Athen war ein glänzendes Beispiel,
Rom ein zweites, das Italien und Spanien des Mittelalters weitere, wie es heute
Preussen und England sind. (Näheres bringt Kap. 4.) In dieser Beziehung ist
wohl die hellenische Mythe, die Latiner entstammten einer Verbindung zwischen
Hercules und einem hyperboräischen Mädchen, sehr bemerkenswert, als einer jener
unbegreiflichen Züge angeborener Weisheit; wogegen die verzweifelten Versuche
des Dionysius von Halikarnass (der zur Zeit von Christi Geburt lebte), die
Abstammung der Römer von Hellenen nachzuweisen, "da sie doch unmöglich
barbarischen Ursprungs sein könnten", in recht rührend naiver Art zeigen, wie
gefährlich eine Verbindung von grosser Gelehrsamkeit mit vorgefassten Meinungen
und Vernunftschlüssen werden kann!

Römisches Recht.
gleitendenden Rückbildungserscheinungen)?1) Ich weiss es nicht.
Sicher ist aber, dass es vor der römischen keine heilige, würdige und
zugleich praktische Regelung der Ehe- und Familienverhältnisse gab;
ebensowenig ein rationelles Recht auf sicherer, ausbildungsfähiger Grund-
lage ruhend, und eine den Stürmen einer chaotischen Zeit gewachsene
staatliche Organisation. Mochte das einfach gezimmerte Räderwerk
des alten römischen Staates häufig noch unbeholfen arbeiten und
gründliche Reparaturen erfordern, es war ein prächtiges, zeit- und
zweckgemässes Gebäude. Das Recht war dort von Anfang an un-
endlich fein empfunden und gedacht, und seine Beschränkung ent-
sprach den Verhältnissen. Und endlich die Familie! die gab es einzig
und allein in Rom, und zwar so schön, wie sie die Welt nie wieder
gesehen hat! Jeder römische Bürger, gleichviel ob Patrizier oder Plebejer,

1) Bis vor Kurzem war es sehr beliebt, die Bevölkerung Roms als eine Art
von Plaid nebeneinander lebender Völkerschaften darzustellen: von hellenischen
Bestandteilen hätte sie ihre Traditionen, von etruskischen ihre Verwaltung, von
sabinischen ihr Recht, von samenitischen ihren Geist u. s. w. Rom wäre gewisser-
massen also ein blosses Wort gewesen, ein Name, die gemeinsame Bezeichnung
für ein internationales Stelldichein. Auch diese Seifenblase, aufgestiegen aus dem
Gehirnschaum blasser Gelehrten, ist, wie so manche andere, in Mommsen’s Händen
zerplatzt. Thatsachen und Vernunft, beide beweisen die Widersinnigkeit einer
derartigen Hypothese, »die sich bemüht, das Volk, das wie wenig andere seine
Sprache, seinen Staat und seine Religion rein und volkstümlich entwickelt hat, in
ein wüstes Gerölle etruskischer und sabinischer, hellenischer und leider sogar
pelasgischer Trümmer zu verwandeln« (Röm. Gesch. I, 43). Dass aber dieses durch-
aus einheitliche, eigenartige Volk aus einer ursprünglichen Kreuzung verschiedener
verwandter Stämme hervorging, ist sicher und wird von Mommsen selber klar
entwickelt; er nimmt zwei latinische und einen sabellischen Stamm an; später trat
noch allerhand dazu, aber erst, als der römische Nationalcharakter fest ausgebildet
war, so dass er sich das Fremde assimilierte. Es wäre jedoch lächerlich, »Rom
darum den Mischvölkern beizuzählen« (a. a. O., S. 44). — Etwas ganz anderes ist
es, festzustellen, dass die ausserordentlichsten, individuellsten Begabungen und die
stämmigste Kraft aus Kreuzungen hervorgehen: Athen war ein glänzendes Beispiel,
Rom ein zweites, das Italien und Spanien des Mittelalters weitere, wie es heute
Preussen und England sind. (Näheres bringt Kap. 4.) In dieser Beziehung ist
wohl die hellenische Mythe, die Latiner entstammten einer Verbindung zwischen
Hercules und einem hyperboräischen Mädchen, sehr bemerkenswert, als einer jener
unbegreiflichen Züge angeborener Weisheit; wogegen die verzweifelten Versuche
des Dionysius von Halikarnass (der zur Zeit von Christi Geburt lebte), die
Abstammung der Römer von Hellenen nachzuweisen, »da sie doch unmöglich
barbarischen Ursprungs sein könnten«, in recht rührend naiver Art zeigen, wie
gefährlich eine Verbindung von grosser Gelehrsamkeit mit vorgefassten Meinungen
und Vernunftschlüssen werden kann!
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[135/0158] Römisches Recht. gleitendenden Rückbildungserscheinungen)? 1) Ich weiss es nicht. Sicher ist aber, dass es vor der römischen keine heilige, würdige und zugleich praktische Regelung der Ehe- und Familienverhältnisse gab; ebensowenig ein rationelles Recht auf sicherer, ausbildungsfähiger Grund- lage ruhend, und eine den Stürmen einer chaotischen Zeit gewachsene staatliche Organisation. Mochte das einfach gezimmerte Räderwerk des alten römischen Staates häufig noch unbeholfen arbeiten und gründliche Reparaturen erfordern, es war ein prächtiges, zeit- und zweckgemässes Gebäude. Das Recht war dort von Anfang an un- endlich fein empfunden und gedacht, und seine Beschränkung ent- sprach den Verhältnissen. Und endlich die Familie! die gab es einzig und allein in Rom, und zwar so schön, wie sie die Welt nie wieder gesehen hat! Jeder römische Bürger, gleichviel ob Patrizier oder Plebejer, 1) Bis vor Kurzem war es sehr beliebt, die Bevölkerung Roms als eine Art von Plaid nebeneinander lebender Völkerschaften darzustellen: von hellenischen Bestandteilen hätte sie ihre Traditionen, von etruskischen ihre Verwaltung, von sabinischen ihr Recht, von samenitischen ihren Geist u. s. w. Rom wäre gewisser- massen also ein blosses Wort gewesen, ein Name, die gemeinsame Bezeichnung für ein internationales Stelldichein. Auch diese Seifenblase, aufgestiegen aus dem Gehirnschaum blasser Gelehrten, ist, wie so manche andere, in Mommsen’s Händen zerplatzt. Thatsachen und Vernunft, beide beweisen die Widersinnigkeit einer derartigen Hypothese, »die sich bemüht, das Volk, das wie wenig andere seine Sprache, seinen Staat und seine Religion rein und volkstümlich entwickelt hat, in ein wüstes Gerölle etruskischer und sabinischer, hellenischer und leider sogar pelasgischer Trümmer zu verwandeln« (Röm. Gesch. I, 43). Dass aber dieses durch- aus einheitliche, eigenartige Volk aus einer ursprünglichen Kreuzung verschiedener verwandter Stämme hervorging, ist sicher und wird von Mommsen selber klar entwickelt; er nimmt zwei latinische und einen sabellischen Stamm an; später trat noch allerhand dazu, aber erst, als der römische Nationalcharakter fest ausgebildet war, so dass er sich das Fremde assimilierte. Es wäre jedoch lächerlich, »Rom darum den Mischvölkern beizuzählen« (a. a. O., S. 44). — Etwas ganz anderes ist es, festzustellen, dass die ausserordentlichsten, individuellsten Begabungen und die stämmigste Kraft aus Kreuzungen hervorgehen: Athen war ein glänzendes Beispiel, Rom ein zweites, das Italien und Spanien des Mittelalters weitere, wie es heute Preussen und England sind. (Näheres bringt Kap. 4.) In dieser Beziehung ist wohl die hellenische Mythe, die Latiner entstammten einer Verbindung zwischen Hercules und einem hyperboräischen Mädchen, sehr bemerkenswert, als einer jener unbegreiflichen Züge angeborener Weisheit; wogegen die verzweifelten Versuche des Dionysius von Halikarnass (der zur Zeit von Christi Geburt lebte), die Abstammung der Römer von Hellenen nachzuweisen, »da sie doch unmöglich barbarischen Ursprungs sein könnten«, in recht rührend naiver Art zeigen, wie gefährlich eine Verbindung von grosser Gelehrsamkeit mit vorgefassten Meinungen und Vernunftschlüssen werden kann!

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Zitationshilfe: Chamberlain, Houston Stewart: Die Grundlagen des Neunzehnten Jahrhunderts. Bd. 1. München 1899, S. 135. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/chamberlain_grundlagen01_1899/158>, abgerufen am 28.04.2024.