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Chamberlain, Houston Stewart: Die Grundlagen des Neunzehnten Jahrhunderts. Bd. 1. München 1899.

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Das Erbe der alten Welt.
rechtliche und Ideelle, ehe wir zu der Betrachtung des Privatrechts
übergehen.

So lange Rom positiv schöpferisch wirksam war -- über ein
halbes Jahrtausend bis zu Caesar, und dann noch über ein Jahrhundert
in der Agonie1) -- könnte es uns als gänzlich ideenlos erscheinen;
es schafft nur, es denkt nicht. Es schafft Europa, und es vernichtet,
so weit möglich, die nächsten und gefährlichsten Feinde Europas.
Das ist die positive Erbschaft dieser Zeit. Auch die Länder, die Rom
niemals unterjocht hat, wie z. B. der grösste Teil Germaniens, haben
doch alle Keime staatlicher Ordnung -- als Grundbedingung jeder
Civilisation -- von ihm empfangen. Unsere Sprachen zeigen noch
heute, wie alle Verwaltung auf römische Belehrung oder Anregung
zurückgeht. Wir leben heute in so fest geordneten Zuständen, dass
wir uns kaum vorstellen können, es sei jemals anders gewesen; nicht
ein Mensch von zehntausend unter uns hat die geringste Ahnung von
der Organisation der Staatsmaschine; alles dünkt uns notwendig und
angeboren: das Recht, die Moral, die Religion, im Grunde auch der
Staat. Und doch war der geordnete, feste und zugleich freier Menschen
würdige Staat -- die gesamte Geschichte der Menschheit beweist es --
das schwierigste aller Werke zu erfinden und durchzuführen; die
herrlichste Religion hatte man in Indien, eine vollendete Kunst in
Athen, erstaunliche Civilisation in Babylonien, alles, ohne dass es
gelungen wäre, einen freien und zugleich stabilen, rechtliche Zustände
verbürgenden Staat zu gründen; für diese Heraklesarbeit reichte nicht
ein einzelner Held, nur ein ganzes Volk von Helden konnte sie voll-
bringen, ein jeder stark genug zum befehlen, ein jeder stolz genug
zum gehorchen, alle einig im Wollen, ein jeder sein eigenes persön-
liches Recht verfechtend. Lese ich römische Geschichte, so muss ich
schaudernd mich abwenden; betrachte ich die zwei unvergleichlichen
Schöpfungen dieses Volkes, den geordneten Staat und das Privatrecht,
so kann ich nur in stummer Verehrung mich vor einer solchen
geistigen Grösse verneigen.

Dieses Heldenvolk jedoch starb aus, und nach seinem gänzlichen
Erlöschen kam, wie wir sahen, eine zweite Periode römischer Politik.
Fremde Herrscher regierten und fremde Rechtsgelehrte bemächtigten
sich, wie des unvergleichlichen, lebendig gewachsenen Privatrechts

1) Der Erlass des Edictum perpetuum durch Hadrian ist vielleicht die letzte
grosse schöpferische Wohlthat?

Das Erbe der alten Welt.
rechtliche und Ideelle, ehe wir zu der Betrachtung des Privatrechts
übergehen.

So lange Rom positiv schöpferisch wirksam war — über ein
halbes Jahrtausend bis zu Caesar, und dann noch über ein Jahrhundert
in der Agonie1) — könnte es uns als gänzlich ideenlos erscheinen;
es schafft nur, es denkt nicht. Es schafft Europa, und es vernichtet,
so weit möglich, die nächsten und gefährlichsten Feinde Europas.
Das ist die positive Erbschaft dieser Zeit. Auch die Länder, die Rom
niemals unterjocht hat, wie z. B. der grösste Teil Germaniens, haben
doch alle Keime staatlicher Ordnung — als Grundbedingung jeder
Civilisation — von ihm empfangen. Unsere Sprachen zeigen noch
heute, wie alle Verwaltung auf römische Belehrung oder Anregung
zurückgeht. Wir leben heute in so fest geordneten Zuständen, dass
wir uns kaum vorstellen können, es sei jemals anders gewesen; nicht
ein Mensch von zehntausend unter uns hat die geringste Ahnung von
der Organisation der Staatsmaschine; alles dünkt uns notwendig und
angeboren: das Recht, die Moral, die Religion, im Grunde auch der
Staat. Und doch war der geordnete, feste und zugleich freier Menschen
würdige Staat — die gesamte Geschichte der Menschheit beweist es —
das schwierigste aller Werke zu erfinden und durchzuführen; die
herrlichste Religion hatte man in Indien, eine vollendete Kunst in
Athen, erstaunliche Civilisation in Babylonien, alles, ohne dass es
gelungen wäre, einen freien und zugleich stabilen, rechtliche Zustände
verbürgenden Staat zu gründen; für diese Heraklesarbeit reichte nicht
ein einzelner Held, nur ein ganzes Volk von Helden konnte sie voll-
bringen, ein jeder stark genug zum befehlen, ein jeder stolz genug
zum gehorchen, alle einig im Wollen, ein jeder sein eigenes persön-
liches Recht verfechtend. Lese ich römische Geschichte, so muss ich
schaudernd mich abwenden; betrachte ich die zwei unvergleichlichen
Schöpfungen dieses Volkes, den geordneten Staat und das Privatrecht,
so kann ich nur in stummer Verehrung mich vor einer solchen
geistigen Grösse verneigen.

Dieses Heldenvolk jedoch starb aus, und nach seinem gänzlichen
Erlöschen kam, wie wir sahen, eine zweite Periode römischer Politik.
Fremde Herrscher regierten und fremde Rechtsgelehrte bemächtigten
sich, wie des unvergleichlichen, lebendig gewachsenen Privatrechts

1) Der Erlass des Edictum perpetuum durch Hadrian ist vielleicht die letzte
grosse schöpferische Wohlthat?
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[150/0173] Das Erbe der alten Welt. rechtliche und Ideelle, ehe wir zu der Betrachtung des Privatrechts übergehen. So lange Rom positiv schöpferisch wirksam war — über ein halbes Jahrtausend bis zu Caesar, und dann noch über ein Jahrhundert in der Agonie 1) — könnte es uns als gänzlich ideenlos erscheinen; es schafft nur, es denkt nicht. Es schafft Europa, und es vernichtet, so weit möglich, die nächsten und gefährlichsten Feinde Europas. Das ist die positive Erbschaft dieser Zeit. Auch die Länder, die Rom niemals unterjocht hat, wie z. B. der grösste Teil Germaniens, haben doch alle Keime staatlicher Ordnung — als Grundbedingung jeder Civilisation — von ihm empfangen. Unsere Sprachen zeigen noch heute, wie alle Verwaltung auf römische Belehrung oder Anregung zurückgeht. Wir leben heute in so fest geordneten Zuständen, dass wir uns kaum vorstellen können, es sei jemals anders gewesen; nicht ein Mensch von zehntausend unter uns hat die geringste Ahnung von der Organisation der Staatsmaschine; alles dünkt uns notwendig und angeboren: das Recht, die Moral, die Religion, im Grunde auch der Staat. Und doch war der geordnete, feste und zugleich freier Menschen würdige Staat — die gesamte Geschichte der Menschheit beweist es — das schwierigste aller Werke zu erfinden und durchzuführen; die herrlichste Religion hatte man in Indien, eine vollendete Kunst in Athen, erstaunliche Civilisation in Babylonien, alles, ohne dass es gelungen wäre, einen freien und zugleich stabilen, rechtliche Zustände verbürgenden Staat zu gründen; für diese Heraklesarbeit reichte nicht ein einzelner Held, nur ein ganzes Volk von Helden konnte sie voll- bringen, ein jeder stark genug zum befehlen, ein jeder stolz genug zum gehorchen, alle einig im Wollen, ein jeder sein eigenes persön- liches Recht verfechtend. Lese ich römische Geschichte, so muss ich schaudernd mich abwenden; betrachte ich die zwei unvergleichlichen Schöpfungen dieses Volkes, den geordneten Staat und das Privatrecht, so kann ich nur in stummer Verehrung mich vor einer solchen geistigen Grösse verneigen. Dieses Heldenvolk jedoch starb aus, und nach seinem gänzlichen Erlöschen kam, wie wir sahen, eine zweite Periode römischer Politik. Fremde Herrscher regierten und fremde Rechtsgelehrte bemächtigten sich, wie des unvergleichlichen, lebendig gewachsenen Privatrechts 1) Der Erlass des Edictum perpetuum durch Hadrian ist vielleicht die letzte grosse schöpferische Wohlthat?

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Zitationshilfe: Chamberlain, Houston Stewart: Die Grundlagen des Neunzehnten Jahrhunderts. Bd. 1. München 1899, S. 150. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/chamberlain_grundlagen01_1899/173>, abgerufen am 28.04.2024.