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Chamberlain, Houston Stewart: Die Grundlagen des Neunzehnten Jahrhunderts. Bd. 1. München 1899.

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Das Erbe der alten Welt.
nach einem Naturrecht (oder natürlichen Recht) nicht zerhauen,
sondern lösen. Diese grosse Frage, über welche seit Jahrhunderten
gestritten wird, entsteht überhaupt lediglich aus dem Missverständnis
über die Natur des Rechtes; ob man sie dann mit ja oder mit nein
beantwortet, man kommt nie aus der Verwirrung heraus. Crcero
hat, in der ihm eigentümlichen konfusen Art, allerhand oratorische
Floskeln über diesen Gegenstand gemacht; das eine Mal schreibt er:
um das Recht zu erklären, müsse man die Natur des Menschen unter-
suchen, -- da schien er auf der rechten Spur zu sein; gleich darauf
heisst es, das Recht sei "eine allerhöchste Vernunft", die ausserhalb
von uns existiere und uns "eingepflanzt" werde; dann hören wir
wieder, das Recht "gehe aus der Natur der Dinge hervor"; schliess-
lich, es sei "zugleich mit Gott geboren, älter als die Menschen". 1)
Warum man überall diese rechtsanwältlichen Platitüden citiert, weiss
ich nicht; ich thue es bloss, um dem Vorwurf vorzubeugen, dass ich
unaufmerksam an solchem berühmten Weisheitsborn vorübergegangen
wäre; im übrigen errinnere ich an Mommsen's Urteil: "Cicero
war eine Journalistennatur im schlechtesten Sinne des Wortes, an
Worten, wie er selber sagt, überreich, an Gedanken über alle Begriffe
arm". 2) Schlimmer war es, als ihre asiatische Vorliebe für Prinzipien-
reiterei und Dogmatik die hochbedeutenden Rechtslehrer der soge-
nannten "klassischen Jurisprudenz" dazu bestimmte, den durchaus
unrömischen Begriff eines Naturrechtes klar zu formulieren und grund-
sätzlich einzuführen. Ulpian nennt das Naturrecht dasjenige, "welches
Tieren und Menschen gemeinsam ist". Ein monströser Gedanke!
Nicht einzig in der Kunst ist der Mensch ein freier Schöpfer, auch
im Recht bewährt er sich als herrlicher Erfinder, als unvergleichlich
geschickter, besonnener Werkmann, als seines Glückes Schmied. Das
römische Recht ist eine ebenso charakteristische Schöpfung des einen
einzigen menschlichen Geistes, wie die hellenische Kunst. Was
würde das heissen, wenn ich von einer "natürlichen Kunst" sprechen,
und somit irgend eine, wenn auch noch so entfernte Parallele zwischen
dem naturnotwendigen Zirpen eines Vogels und einer Tragödie des
Sophokles ziehen wollte? Weil die Juristen eine technische Gilde
bilden, haben viele von ihnen solchen Unsinn, ohne dass die Welt
es merkte, Jahrhunderte lang reden dürfen. Gaius, eine andere

1) De legibus I, 5 u. 6, II, 4 u. s. w.
2) Römische Geschichte, III, 620.

Das Erbe der alten Welt.
nach einem Naturrecht (oder natürlichen Recht) nicht zerhauen,
sondern lösen. Diese grosse Frage, über welche seit Jahrhunderten
gestritten wird, entsteht überhaupt lediglich aus dem Missverständnis
über die Natur des Rechtes; ob man sie dann mit ja oder mit nein
beantwortet, man kommt nie aus der Verwirrung heraus. Crcero
hat, in der ihm eigentümlichen konfusen Art, allerhand oratorische
Floskeln über diesen Gegenstand gemacht; das eine Mal schreibt er:
um das Recht zu erklären, müsse man die Natur des Menschen unter-
suchen, — da schien er auf der rechten Spur zu sein; gleich darauf
heisst es, das Recht sei »eine allerhöchste Vernunft«, die ausserhalb
von uns existiere und uns »eingepflanzt« werde; dann hören wir
wieder, das Recht »gehe aus der Natur der Dinge hervor«; schliess-
lich, es sei »zugleich mit Gott geboren, älter als die Menschen«. 1)
Warum man überall diese rechtsanwältlichen Platitüden citiert, weiss
ich nicht; ich thue es bloss, um dem Vorwurf vorzubeugen, dass ich
unaufmerksam an solchem berühmten Weisheitsborn vorübergegangen
wäre; im übrigen errinnere ich an Mommsen’s Urteil: »Cicero
war eine Journalistennatur im schlechtesten Sinne des Wortes, an
Worten, wie er selber sagt, überreich, an Gedanken über alle Begriffe
arm«. 2) Schlimmer war es, als ihre asiatische Vorliebe für Prinzipien-
reiterei und Dogmatik die hochbedeutenden Rechtslehrer der soge-
nannten »klassischen Jurisprudenz« dazu bestimmte, den durchaus
unrömischen Begriff eines Naturrechtes klar zu formulieren und grund-
sätzlich einzuführen. Ulpian nennt das Naturrecht dasjenige, »welches
Tieren und Menschen gemeinsam ist«. Ein monströser Gedanke!
Nicht einzig in der Kunst ist der Mensch ein freier Schöpfer, auch
im Recht bewährt er sich als herrlicher Erfinder, als unvergleichlich
geschickter, besonnener Werkmann, als seines Glückes Schmied. Das
römische Recht ist eine ebenso charakteristische Schöpfung des einen
einzigen menschlichen Geistes, wie die hellenische Kunst. Was
würde das heissen, wenn ich von einer »natürlichen Kunst« sprechen,
und somit irgend eine, wenn auch noch so entfernte Parallele zwischen
dem naturnotwendigen Zirpen eines Vogels und einer Tragödie des
Sophokles ziehen wollte? Weil die Juristen eine technische Gilde
bilden, haben viele von ihnen solchen Unsinn, ohne dass die Welt
es merkte, Jahrhunderte lang reden dürfen. Gaius, eine andere

1) De legibus I, 5 u. 6, II, 4 u. s. w.
2) Römische Geschichte, III, 620.
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[160/0183] Das Erbe der alten Welt. nach einem Naturrecht (oder natürlichen Recht) nicht zerhauen, sondern lösen. Diese grosse Frage, über welche seit Jahrhunderten gestritten wird, entsteht überhaupt lediglich aus dem Missverständnis über die Natur des Rechtes; ob man sie dann mit ja oder mit nein beantwortet, man kommt nie aus der Verwirrung heraus. Crcero hat, in der ihm eigentümlichen konfusen Art, allerhand oratorische Floskeln über diesen Gegenstand gemacht; das eine Mal schreibt er: um das Recht zu erklären, müsse man die Natur des Menschen unter- suchen, — da schien er auf der rechten Spur zu sein; gleich darauf heisst es, das Recht sei »eine allerhöchste Vernunft«, die ausserhalb von uns existiere und uns »eingepflanzt« werde; dann hören wir wieder, das Recht »gehe aus der Natur der Dinge hervor«; schliess- lich, es sei »zugleich mit Gott geboren, älter als die Menschen«. 1) Warum man überall diese rechtsanwältlichen Platitüden citiert, weiss ich nicht; ich thue es bloss, um dem Vorwurf vorzubeugen, dass ich unaufmerksam an solchem berühmten Weisheitsborn vorübergegangen wäre; im übrigen errinnere ich an Mommsen’s Urteil: »Cicero war eine Journalistennatur im schlechtesten Sinne des Wortes, an Worten, wie er selber sagt, überreich, an Gedanken über alle Begriffe arm«. 2) Schlimmer war es, als ihre asiatische Vorliebe für Prinzipien- reiterei und Dogmatik die hochbedeutenden Rechtslehrer der soge- nannten »klassischen Jurisprudenz« dazu bestimmte, den durchaus unrömischen Begriff eines Naturrechtes klar zu formulieren und grund- sätzlich einzuführen. Ulpian nennt das Naturrecht dasjenige, »welches Tieren und Menschen gemeinsam ist«. Ein monströser Gedanke! Nicht einzig in der Kunst ist der Mensch ein freier Schöpfer, auch im Recht bewährt er sich als herrlicher Erfinder, als unvergleichlich geschickter, besonnener Werkmann, als seines Glückes Schmied. Das römische Recht ist eine ebenso charakteristische Schöpfung des einen einzigen menschlichen Geistes, wie die hellenische Kunst. Was würde das heissen, wenn ich von einer »natürlichen Kunst« sprechen, und somit irgend eine, wenn auch noch so entfernte Parallele zwischen dem naturnotwendigen Zirpen eines Vogels und einer Tragödie des Sophokles ziehen wollte? Weil die Juristen eine technische Gilde bilden, haben viele von ihnen solchen Unsinn, ohne dass die Welt es merkte, Jahrhunderte lang reden dürfen. Gaius, eine andere 1) De legibus I, 5 u. 6, II, 4 u. s. w. 2) Römische Geschichte, III, 620.

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Zitationshilfe: Chamberlain, Houston Stewart: Die Grundlagen des Neunzehnten Jahrhunderts. Bd. 1. München 1899, S. 160. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/chamberlain_grundlagen01_1899/183>, abgerufen am 28.04.2024.