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Chamberlain, Houston Stewart: Die Grundlagen des Neunzehnten Jahrhunderts. Bd. 1. München 1899.

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Römisches Recht.
Künstlerisches, eine Anwendung des Wissens, nicht eigentlich selbst
ein Wissen, ein Können, nicht ein Schaffen, und daher kann erst das
von ihr Erzeugte allgemeines Interesse fordern, der fertige Gegenstand,
heisst das, von dem sich die Technik nunmehr zurückgezogen hat.

Genau ebenso verhält es sich mit der Jurisprudenz, bis auf den
Unterschied, dass der zu bearbeitende Stoff ein rein geistiger ist.
Prinzipiell ist und bleibt die Jurisprudenz eine Technik, und manches
fast unausrottbare Missverständnis wäre vermieden worden, wenn auch
die Fachgelehrten diese einfache Grundwahrheit nicht aus den Augen
verloren hätten. Von Cicero an bis zum heutigen Tage 1) haben
tüchtige Juristen nur zu oft es für ihre Pflicht gehalten, ihrem Fach,
koste was es wolle, die Bezeichnung "Wissenschaft" zu sichern; sie
scheinen eine Herabsetzung zu fürchten, wenn man die Nichtigkeit
ihrer Ansprüche behauptet. Natürlich wird man fortfahren, von einer
"Rechtswissenschaft" zu reden; nur aber im abgeleiteten Sinne; die
Masse des Materials über Recht, Rechtsgeschichte u. s. w. ist so riesig
gross, dass sie gewissermassen eine kleine Welt für sich bildet, in
welcher geforscht wird, und diese Forschung heisst dann Wissenschaft.
Offenbar ist dies jedoch ein uneigentlicher Gebrauch des Wortes. Die
Wurzel "vid" bedeutet im Sanskrit finden; soll die Sprache nicht
zu farbloser Mehrdeutigkeit verblassen, so müssen wir dafür sorgen,
dass ein Wissen immer ein Finden bezeichne. Ein Finden setzt nun
zweierlei voraus: erstens einen Gegenstand, der da ist und besteht,
ehe wir ihn finden, zweitens die Thatsache, dass dieser Gegenstand
noch nicht gefunden und aufgedeckt wurde; beides trifft für die
Jurisprudenz nicht zu; denn "Recht" giebt es erst, wenn die Menschen
es machen, es existiert nicht als Gegenstand ausserhalb unseres Be-
wusstseins, ausserdem deckt die Rechtswissenschaft nichts anderes auf,
findet sie nichts anderes, als sich selbst. Daher hatten diejenigen unter
den Alten vollkommen Recht, die anstatt von einer juris scientia zu
reden, lieber juris notitia, juris peritia, juris prudentia sagten, also
etwa: Kenntnisse, Geschick, Erfahrung in der Handhabung des Rechtes.

Diese Unterscheidung ist von grosser Tragweite. Denn erstNaturrecht.
wenn man sich Klarheit darüber verschafft hat, was Recht seiner
Natur nach ist, kann man mit Verständnis dessen Geschichte verfolgen
und begreifen, welche Rolle Rom in der Entwickelung dieser Technik
gespielt hat. Jetzt erst kann man jenen gordischen Knoten, die Frage

1) Siehe z. B. Holland: Jurisprudence, 6. Aufl., S. 5.

Römisches Recht.
Künstlerisches, eine Anwendung des Wissens, nicht eigentlich selbst
ein Wissen, ein Können, nicht ein Schaffen, und daher kann erst das
von ihr Erzeugte allgemeines Interesse fordern, der fertige Gegenstand,
heisst das, von dem sich die Technik nunmehr zurückgezogen hat.

Genau ebenso verhält es sich mit der Jurisprudenz, bis auf den
Unterschied, dass der zu bearbeitende Stoff ein rein geistiger ist.
Prinzipiell ist und bleibt die Jurisprudenz eine Technik, und manches
fast unausrottbare Missverständnis wäre vermieden worden, wenn auch
die Fachgelehrten diese einfache Grundwahrheit nicht aus den Augen
verloren hätten. Von Cicero an bis zum heutigen Tage 1) haben
tüchtige Juristen nur zu oft es für ihre Pflicht gehalten, ihrem Fach,
koste was es wolle, die Bezeichnung »Wissenschaft« zu sichern; sie
scheinen eine Herabsetzung zu fürchten, wenn man die Nichtigkeit
ihrer Ansprüche behauptet. Natürlich wird man fortfahren, von einer
»Rechtswissenschaft« zu reden; nur aber im abgeleiteten Sinne; die
Masse des Materials über Recht, Rechtsgeschichte u. s. w. ist so riesig
gross, dass sie gewissermassen eine kleine Welt für sich bildet, in
welcher geforscht wird, und diese Forschung heisst dann Wissenschaft.
Offenbar ist dies jedoch ein uneigentlicher Gebrauch des Wortes. Die
Wurzel »vid« bedeutet im Sanskrit finden; soll die Sprache nicht
zu farbloser Mehrdeutigkeit verblassen, so müssen wir dafür sorgen,
dass ein Wissen immer ein Finden bezeichne. Ein Finden setzt nun
zweierlei voraus: erstens einen Gegenstand, der da ist und besteht,
ehe wir ihn finden, zweitens die Thatsache, dass dieser Gegenstand
noch nicht gefunden und aufgedeckt wurde; beides trifft für die
Jurisprudenz nicht zu; denn »Recht« giebt es erst, wenn die Menschen
es machen, es existiert nicht als Gegenstand ausserhalb unseres Be-
wusstseins, ausserdem deckt die Rechtswissenschaft nichts anderes auf,
findet sie nichts anderes, als sich selbst. Daher hatten diejenigen unter
den Alten vollkommen Recht, die anstatt von einer juris scientia zu
reden, lieber juris notitia, juris peritia, juris prudentia sagten, also
etwa: Kenntnisse, Geschick, Erfahrung in der Handhabung des Rechtes.

Diese Unterscheidung ist von grosser Tragweite. Denn erstNaturrecht.
wenn man sich Klarheit darüber verschafft hat, was Recht seiner
Natur nach ist, kann man mit Verständnis dessen Geschichte verfolgen
und begreifen, welche Rolle Rom in der Entwickelung dieser Technik
gespielt hat. Jetzt erst kann man jenen gordischen Knoten, die Frage

1) Siehe z. B. Holland: Jurisprudence, 6. Aufl., S. 5.
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[159/0182] Römisches Recht. Künstlerisches, eine Anwendung des Wissens, nicht eigentlich selbst ein Wissen, ein Können, nicht ein Schaffen, und daher kann erst das von ihr Erzeugte allgemeines Interesse fordern, der fertige Gegenstand, heisst das, von dem sich die Technik nunmehr zurückgezogen hat. Genau ebenso verhält es sich mit der Jurisprudenz, bis auf den Unterschied, dass der zu bearbeitende Stoff ein rein geistiger ist. Prinzipiell ist und bleibt die Jurisprudenz eine Technik, und manches fast unausrottbare Missverständnis wäre vermieden worden, wenn auch die Fachgelehrten diese einfache Grundwahrheit nicht aus den Augen verloren hätten. Von Cicero an bis zum heutigen Tage 1) haben tüchtige Juristen nur zu oft es für ihre Pflicht gehalten, ihrem Fach, koste was es wolle, die Bezeichnung »Wissenschaft« zu sichern; sie scheinen eine Herabsetzung zu fürchten, wenn man die Nichtigkeit ihrer Ansprüche behauptet. Natürlich wird man fortfahren, von einer »Rechtswissenschaft« zu reden; nur aber im abgeleiteten Sinne; die Masse des Materials über Recht, Rechtsgeschichte u. s. w. ist so riesig gross, dass sie gewissermassen eine kleine Welt für sich bildet, in welcher geforscht wird, und diese Forschung heisst dann Wissenschaft. Offenbar ist dies jedoch ein uneigentlicher Gebrauch des Wortes. Die Wurzel »vid« bedeutet im Sanskrit finden; soll die Sprache nicht zu farbloser Mehrdeutigkeit verblassen, so müssen wir dafür sorgen, dass ein Wissen immer ein Finden bezeichne. Ein Finden setzt nun zweierlei voraus: erstens einen Gegenstand, der da ist und besteht, ehe wir ihn finden, zweitens die Thatsache, dass dieser Gegenstand noch nicht gefunden und aufgedeckt wurde; beides trifft für die Jurisprudenz nicht zu; denn »Recht« giebt es erst, wenn die Menschen es machen, es existiert nicht als Gegenstand ausserhalb unseres Be- wusstseins, ausserdem deckt die Rechtswissenschaft nichts anderes auf, findet sie nichts anderes, als sich selbst. Daher hatten diejenigen unter den Alten vollkommen Recht, die anstatt von einer juris scientia zu reden, lieber juris notitia, juris peritia, juris prudentia sagten, also etwa: Kenntnisse, Geschick, Erfahrung in der Handhabung des Rechtes. Diese Unterscheidung ist von grosser Tragweite. Denn erst wenn man sich Klarheit darüber verschafft hat, was Recht seiner Natur nach ist, kann man mit Verständnis dessen Geschichte verfolgen und begreifen, welche Rolle Rom in der Entwickelung dieser Technik gespielt hat. Jetzt erst kann man jenen gordischen Knoten, die Frage Naturrecht. 1) Siehe z. B. Holland: Jurisprudence, 6. Aufl., S. 5.

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Zitationshilfe: Chamberlain, Houston Stewart: Die Grundlagen des Neunzehnten Jahrhunderts. Bd. 1. München 1899, S. 159. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/chamberlain_grundlagen01_1899/182>, abgerufen am 28.04.2024.