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Chamberlain, Houston Stewart: Die Grundlagen des Neunzehnten Jahrhunderts. Bd. 1. München 1899.

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Das Erbe der alten Welt.
liches Abkommen giebt -- es braucht durchaus kein schriftliches zu
sein, eine mündliche oder auch eine stillschweigende Konvention ist
prinzipiell dasselbe, wie ein dickleibiges bürgerliches Gesetzbuch --
so hat der Naturzustand aufgehört; herrscht aber der reine Natur-
trieb, so giebt es eo ipso kein Recht. Denn lebten auch solche Natur-
menschen in Gruppen zusammen, und wären sie gegeneinander mild
und human, das wäre noch immer kein Recht, kein jus; es wäre
genau ebensowenig ein Recht, wie wenn die brutale Faustgewalt bei
ihnen allein den Ausschlag gäbe. Recht ist eine künstlich geordnete
und zwangsweise von der Gesamtheit dem Einzelnen auferlegte Regelung
seiner Beziehungen zu Anderen. Es ist eine Nutzbarmachung jener
Instinkte, welche den Menschen zum gesellschaftlichen Zusammenleben
treiben, zugleich jener Not, welche ihn nolens volens zwingt, mit
seinesgleichen sich zu verbinden: Liebe und Furcht, Geselligkeit und
Feindseligkeit. Lesen wir bei den dogmatischen Metaphysikern: "Das
Recht ist der abstrakte Ausdruck des allgemeinen, an und für sich
seienden Willens", 1) so fühlen wir, dass man uns Luft statt Brot zu
essen giebt; sagt uns der grosse Kant: "Das Recht ist der Inbegriff
der Bedingungen, unter denen die Willkür des Einen mit der Willkür
des Anderen nach einem allgemeinen Gesetze der Freiheit zusammen
vereinigt werden kann", 2) so müssen wir gleich einsehen: das ist die
Definition eines Ideals, die Definition eines möglichen, oder wenigstens
denkbaren Rechtszustandes, nicht aber eine umfassende Definition des
Rechtes im allgemeinen, wie es uns vor Augen liegt; ausserdem ent-
hält sie einen bedenklichen Irrtum. Es ist nämlich ein eigentümlicher
Denkfehler, die Willkür in die Seele des Einzelnen zu verlegen und
das Recht als eine Gegenwirkung hiergegen herauszukonstruieren;
vielmehr handelt offenbar jedes Individuum nach der Notwendigkeit
seiner Natur und tritt das Element der Willkür erst mit den Ver-
fügungen ein, wodurch dieses natürliche Handeln eingedämmt wird;
nicht der Naturmensch ist willkürlich, der Rechtsmensch ist es.
Wollten wir eine Definition mit Zugrundelegung von Kant's Begriffen
versuchen, wir müssten sagen: Recht ist der Inbegriff der willkür-
lichen Bedingungen, welche in eine menschliche Gesellschaft einge-
führt werden, damit das notwendige Handeln des Einen mit dem
notwendigen Handeln des Anderen ausgeglichen und zu einem mög-

1) Hegel: Propädeutik, Kursus I, § 26.
2) Metaphysische Anfangsgründe der Rechtslehre, Einleitung, § B.

Das Erbe der alten Welt.
liches Abkommen giebt — es braucht durchaus kein schriftliches zu
sein, eine mündliche oder auch eine stillschweigende Konvention ist
prinzipiell dasselbe, wie ein dickleibiges bürgerliches Gesetzbuch —
so hat der Naturzustand aufgehört; herrscht aber der reine Natur-
trieb, so giebt es eo ipso kein Recht. Denn lebten auch solche Natur-
menschen in Gruppen zusammen, und wären sie gegeneinander mild
und human, das wäre noch immer kein Recht, kein jus; es wäre
genau ebensowenig ein Recht, wie wenn die brutale Faustgewalt bei
ihnen allein den Ausschlag gäbe. Recht ist eine künstlich geordnete
und zwangsweise von der Gesamtheit dem Einzelnen auferlegte Regelung
seiner Beziehungen zu Anderen. Es ist eine Nutzbarmachung jener
Instinkte, welche den Menschen zum gesellschaftlichen Zusammenleben
treiben, zugleich jener Not, welche ihn nolens volens zwingt, mit
seinesgleichen sich zu verbinden: Liebe und Furcht, Geselligkeit und
Feindseligkeit. Lesen wir bei den dogmatischen Metaphysikern: »Das
Recht ist der abstrakte Ausdruck des allgemeinen, an und für sich
seienden Willens«, 1) so fühlen wir, dass man uns Luft statt Brot zu
essen giebt; sagt uns der grosse Kant: »Das Recht ist der Inbegriff
der Bedingungen, unter denen die Willkür des Einen mit der Willkür
des Anderen nach einem allgemeinen Gesetze der Freiheit zusammen
vereinigt werden kann«, 2) so müssen wir gleich einsehen: das ist die
Definition eines Ideals, die Definition eines möglichen, oder wenigstens
denkbaren Rechtszustandes, nicht aber eine umfassende Definition des
Rechtes im allgemeinen, wie es uns vor Augen liegt; ausserdem ent-
hält sie einen bedenklichen Irrtum. Es ist nämlich ein eigentümlicher
Denkfehler, die Willkür in die Seele des Einzelnen zu verlegen und
das Recht als eine Gegenwirkung hiergegen herauszukonstruieren;
vielmehr handelt offenbar jedes Individuum nach der Notwendigkeit
seiner Natur und tritt das Element der Willkür erst mit den Ver-
fügungen ein, wodurch dieses natürliche Handeln eingedämmt wird;
nicht der Naturmensch ist willkürlich, der Rechtsmensch ist es.
Wollten wir eine Definition mit Zugrundelegung von Kant’s Begriffen
versuchen, wir müssten sagen: Recht ist der Inbegriff der willkür-
lichen Bedingungen, welche in eine menschliche Gesellschaft einge-
führt werden, damit das notwendige Handeln des Einen mit dem
notwendigen Handeln des Anderen ausgeglichen und zu einem mög-

1) Hegel: Propädeutik, Kursus I, § 26.
2) Metaphysische Anfangsgründe der Rechtslehre, Einleitung, § B.
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[162/0185] Das Erbe der alten Welt. liches Abkommen giebt — es braucht durchaus kein schriftliches zu sein, eine mündliche oder auch eine stillschweigende Konvention ist prinzipiell dasselbe, wie ein dickleibiges bürgerliches Gesetzbuch — so hat der Naturzustand aufgehört; herrscht aber der reine Natur- trieb, so giebt es eo ipso kein Recht. Denn lebten auch solche Natur- menschen in Gruppen zusammen, und wären sie gegeneinander mild und human, das wäre noch immer kein Recht, kein jus; es wäre genau ebensowenig ein Recht, wie wenn die brutale Faustgewalt bei ihnen allein den Ausschlag gäbe. Recht ist eine künstlich geordnete und zwangsweise von der Gesamtheit dem Einzelnen auferlegte Regelung seiner Beziehungen zu Anderen. Es ist eine Nutzbarmachung jener Instinkte, welche den Menschen zum gesellschaftlichen Zusammenleben treiben, zugleich jener Not, welche ihn nolens volens zwingt, mit seinesgleichen sich zu verbinden: Liebe und Furcht, Geselligkeit und Feindseligkeit. Lesen wir bei den dogmatischen Metaphysikern: »Das Recht ist der abstrakte Ausdruck des allgemeinen, an und für sich seienden Willens«, 1) so fühlen wir, dass man uns Luft statt Brot zu essen giebt; sagt uns der grosse Kant: »Das Recht ist der Inbegriff der Bedingungen, unter denen die Willkür des Einen mit der Willkür des Anderen nach einem allgemeinen Gesetze der Freiheit zusammen vereinigt werden kann«, 2) so müssen wir gleich einsehen: das ist die Definition eines Ideals, die Definition eines möglichen, oder wenigstens denkbaren Rechtszustandes, nicht aber eine umfassende Definition des Rechtes im allgemeinen, wie es uns vor Augen liegt; ausserdem ent- hält sie einen bedenklichen Irrtum. Es ist nämlich ein eigentümlicher Denkfehler, die Willkür in die Seele des Einzelnen zu verlegen und das Recht als eine Gegenwirkung hiergegen herauszukonstruieren; vielmehr handelt offenbar jedes Individuum nach der Notwendigkeit seiner Natur und tritt das Element der Willkür erst mit den Ver- fügungen ein, wodurch dieses natürliche Handeln eingedämmt wird; nicht der Naturmensch ist willkürlich, der Rechtsmensch ist es. Wollten wir eine Definition mit Zugrundelegung von Kant’s Begriffen versuchen, wir müssten sagen: Recht ist der Inbegriff der willkür- lichen Bedingungen, welche in eine menschliche Gesellschaft einge- führt werden, damit das notwendige Handeln des Einen mit dem notwendigen Handeln des Anderen ausgeglichen und zu einem mög- 1) Hegel: Propädeutik, Kursus I, § 26. 2) Metaphysische Anfangsgründe der Rechtslehre, Einleitung, § B.

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Zitationshilfe: Chamberlain, Houston Stewart: Die Grundlagen des Neunzehnten Jahrhunderts. Bd. 1. München 1899, S. 162. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/chamberlain_grundlagen01_1899/185>, abgerufen am 28.04.2024.