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Chamberlain, Houston Stewart: Die Grundlagen des Neunzehnten Jahrhunderts. Bd. 1. München 1899.

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Römisches Recht.
lichen Masse der Freiheit vereinigt werde. Die einfachste Begriffs-
formulierung wäre: Willkür an Stelle von Instinkt in den
Beziehungen zwischen den Menschen ist Recht.
Wozu
erläuternd hinzugefügt werden müsste, das non plus ultra der Willkür
bestehe darin, dass man eine willkürlich festgesetzte Form (für Strafe,
Kauf, Ehe, Testieren u. s. w.) für nunmehr ewig unveränderlich er-
klärt, so dass alle betreffenden Handlungen ungültig und ohne recht-
lichen Schutz sind, sobald die vorgeschriebene Form nicht innege-
halten wurde. Recht ist also die dauernde Herrschaft bestimmter
willkürlicher Beziehungen zwischen den Menschen. Wir brauchen
übrigens nicht über gänzlich unbekannte Vorzeiten Spekulationen an-
zustellen, um Jus in einfachen Gestaltungen zu erblicken, wo dann
dieses zentrale Element der Willkür deutlich hervortritt; man sehe nur
die heutigen Bewohner des Kongogebietes an. Jedes Völkchen hat
seinen Häuptling; er allein entscheidet unwiderruflich über alle Rechts-
fälle; diese sind bei so einfachen Verhältnissen sehr einfacher Natur,
sie betreffen zumeist Vergehen am Leben oder am Eigentum; die
Strafe ist Tod, selten Sklaverei; hat der Häuptling durch eine Hand-
bewegung das Urteil gegen den Angeklagten gefällt, so wird dieser
von den Umstehenden in hundert Stücke zerhackt und aufgegessen.
Die Rechtsbegriffe sind, wie man sieht, am Kongo sehr elementar;
dennoch sind es Rechtsbegriffe; der natürliche Mensch, d. h. der un-
willkürlich handelnde, würde den vermeintlichen Mörder oder Dieb
selber umbringen; hier thut er das nicht, der Verbrecher wird zum
Hauptort geschleppt und gerichtet. Ebenso entscheidet der Häuptling
über Erbschaftsstreitigkeiten und Grenzregulierungen. Die unbe-
schränkte Willkür des Häuptlings ist also das "Recht" des Landes, 1)
ist der Kitt, wodurch die Gesellschaft zusammengehalten wird, anstatt
dass sie in einem regellosen Naturzustand auseinanderstiebe. Der Fort-
schritt des Rechtes besteht in dem praktischen Ausbau und in der
sittlichen Verklärung dieses willkürlichen Elementes.

Jetzt haben wir, glaube ich, alles beisammen, was nötig ist, umRömisches
Recht.

ohne technische Erörterungen und zugleich ohne Phrasenmacherei die
besonderen Verdienste des römischen Volkes um das Recht zu ver-

1) Dass auch dort gewisse Sätze durch den Gebrauch geheiligt und insofern
auch für den Häuptling bindend sind, bezweifle ich nicht, juristisch ist er aber voll-
kommen frei; nur die Furcht, selber gebraten und aufgegessen zu werden, kann
ihn von jeder beliebigen Willkür abhalten.
11*

Römisches Recht.
lichen Masse der Freiheit vereinigt werde. Die einfachste Begriffs-
formulierung wäre: Willkür an Stelle von Instinkt in den
Beziehungen zwischen den Menschen ist Recht.
Wozu
erläuternd hinzugefügt werden müsste, das non plus ultra der Willkür
bestehe darin, dass man eine willkürlich festgesetzte Form (für Strafe,
Kauf, Ehe, Testieren u. s. w.) für nunmehr ewig unveränderlich er-
klärt, so dass alle betreffenden Handlungen ungültig und ohne recht-
lichen Schutz sind, sobald die vorgeschriebene Form nicht innege-
halten wurde. Recht ist also die dauernde Herrschaft bestimmter
willkürlicher Beziehungen zwischen den Menschen. Wir brauchen
übrigens nicht über gänzlich unbekannte Vorzeiten Spekulationen an-
zustellen, um Jus in einfachen Gestaltungen zu erblicken, wo dann
dieses zentrale Element der Willkür deutlich hervortritt; man sehe nur
die heutigen Bewohner des Kongogebietes an. Jedes Völkchen hat
seinen Häuptling; er allein entscheidet unwiderruflich über alle Rechts-
fälle; diese sind bei so einfachen Verhältnissen sehr einfacher Natur,
sie betreffen zumeist Vergehen am Leben oder am Eigentum; die
Strafe ist Tod, selten Sklaverei; hat der Häuptling durch eine Hand-
bewegung das Urteil gegen den Angeklagten gefällt, so wird dieser
von den Umstehenden in hundert Stücke zerhackt und aufgegessen.
Die Rechtsbegriffe sind, wie man sieht, am Kongo sehr elementar;
dennoch sind es Rechtsbegriffe; der natürliche Mensch, d. h. der un-
willkürlich handelnde, würde den vermeintlichen Mörder oder Dieb
selber umbringen; hier thut er das nicht, der Verbrecher wird zum
Hauptort geschleppt und gerichtet. Ebenso entscheidet der Häuptling
über Erbschaftsstreitigkeiten und Grenzregulierungen. Die unbe-
schränkte Willkür des Häuptlings ist also das »Recht« des Landes, 1)
ist der Kitt, wodurch die Gesellschaft zusammengehalten wird, anstatt
dass sie in einem regellosen Naturzustand auseinanderstiebe. Der Fort-
schritt des Rechtes besteht in dem praktischen Ausbau und in der
sittlichen Verklärung dieses willkürlichen Elementes.

Jetzt haben wir, glaube ich, alles beisammen, was nötig ist, umRömisches
Recht.

ohne technische Erörterungen und zugleich ohne Phrasenmacherei die
besonderen Verdienste des römischen Volkes um das Recht zu ver-

1) Dass auch dort gewisse Sätze durch den Gebrauch geheiligt und insofern
auch für den Häuptling bindend sind, bezweifle ich nicht, juristisch ist er aber voll-
kommen frei; nur die Furcht, selber gebraten und aufgegessen zu werden, kann
ihn von jeder beliebigen Willkür abhalten.
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[163/0186] Römisches Recht. lichen Masse der Freiheit vereinigt werde. Die einfachste Begriffs- formulierung wäre: Willkür an Stelle von Instinkt in den Beziehungen zwischen den Menschen ist Recht. Wozu erläuternd hinzugefügt werden müsste, das non plus ultra der Willkür bestehe darin, dass man eine willkürlich festgesetzte Form (für Strafe, Kauf, Ehe, Testieren u. s. w.) für nunmehr ewig unveränderlich er- klärt, so dass alle betreffenden Handlungen ungültig und ohne recht- lichen Schutz sind, sobald die vorgeschriebene Form nicht innege- halten wurde. Recht ist also die dauernde Herrschaft bestimmter willkürlicher Beziehungen zwischen den Menschen. Wir brauchen übrigens nicht über gänzlich unbekannte Vorzeiten Spekulationen an- zustellen, um Jus in einfachen Gestaltungen zu erblicken, wo dann dieses zentrale Element der Willkür deutlich hervortritt; man sehe nur die heutigen Bewohner des Kongogebietes an. Jedes Völkchen hat seinen Häuptling; er allein entscheidet unwiderruflich über alle Rechts- fälle; diese sind bei so einfachen Verhältnissen sehr einfacher Natur, sie betreffen zumeist Vergehen am Leben oder am Eigentum; die Strafe ist Tod, selten Sklaverei; hat der Häuptling durch eine Hand- bewegung das Urteil gegen den Angeklagten gefällt, so wird dieser von den Umstehenden in hundert Stücke zerhackt und aufgegessen. Die Rechtsbegriffe sind, wie man sieht, am Kongo sehr elementar; dennoch sind es Rechtsbegriffe; der natürliche Mensch, d. h. der un- willkürlich handelnde, würde den vermeintlichen Mörder oder Dieb selber umbringen; hier thut er das nicht, der Verbrecher wird zum Hauptort geschleppt und gerichtet. Ebenso entscheidet der Häuptling über Erbschaftsstreitigkeiten und Grenzregulierungen. Die unbe- schränkte Willkür des Häuptlings ist also das »Recht« des Landes, 1) ist der Kitt, wodurch die Gesellschaft zusammengehalten wird, anstatt dass sie in einem regellosen Naturzustand auseinanderstiebe. Der Fort- schritt des Rechtes besteht in dem praktischen Ausbau und in der sittlichen Verklärung dieses willkürlichen Elementes. Jetzt haben wir, glaube ich, alles beisammen, was nötig ist, um ohne technische Erörterungen und zugleich ohne Phrasenmacherei die besonderen Verdienste des römischen Volkes um das Recht zu ver- Römisches Recht. 1) Dass auch dort gewisse Sätze durch den Gebrauch geheiligt und insofern auch für den Häuptling bindend sind, bezweifle ich nicht, juristisch ist er aber voll- kommen frei; nur die Furcht, selber gebraten und aufgegessen zu werden, kann ihn von jeder beliebigen Willkür abhalten. 11*

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Zitationshilfe: Chamberlain, Houston Stewart: Die Grundlagen des Neunzehnten Jahrhunderts. Bd. 1. München 1899, S. 163. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/chamberlain_grundlagen01_1899/186>, abgerufen am 28.04.2024.