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Chamberlain, Houston Stewart: Die Grundlagen des Neunzehnten Jahrhunderts. Bd. 1. München 1899.

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Das Erbe der alten Welt.
stehen, wenigstens die besondere Art dieser Verdienste; zugleich wird
damit die Natur der Erbschaft genau bezeichnet.

Ist das Recht nicht ein eingeborenes Prinzip, nicht eine erforsch-
bare, sichere Wissenschaft, sondern eine zweckdienliche Verwendung
menschlicher Anlagen zum Ausbau einer civilisationsfähigen Gesell-
schaft, so ist es von vornherein klar, dass es sehr verschiedenwertige
Rechte geben wird und muss. Im letzten Grunde wird ein Recht
hauptsächlich von zwei Dingen beeinflusst werden, und somit von ihnen
seine bezeichnende Farbe erhalten: von dem moralischen Charakter
des Volkes, in welchem es entsteht, und von dessen analytischem
Scharfsinn. Aus einem glücklichen Gemisch beider, wie es bisher
nur einmal in der Weltgeschichte vorkam, 1) ergab sich für das
römische Volk die Möglichkeit, ein rechtliches Gebäude von grosser
Vollkommenheit aufzuführen. Der blosse Egoismus, die Gier nach
Besitz, wird niemals hinreichen, um ein dauerhaftes Recht zu be-
gründen; vielmehr haben wir durch die Römer erfahren, dass die
unverbrüchliche Achtung vor den Ansprüchen Anderer auf Freiheit
und Besitz die moralische Grundlage ist, auf der allein für die Ewigkeit
gebaut werden kann. Einer der bedeutendsten Kenner des römischen
Rechtes und Volkes, Karl Esmarch, schreibt: "Das Gewissen für
Recht und Unrecht ist bei den italischen Ariern ein starkes, un-
verfälschtes; in der Selbstbeherrschung und, wenn es sein muss,
Selbstaufopferung gipfelt sich ihre innerem Drang entquellende
und durch innerstes Wesen getragene Tugend". Dadurch, dass er
sich selbst zu beherrschen wusste, war der Römer berufen, die Welt
zu beherrschen und die Idee des Staates kraftvoll zu entwickeln;

1) Die Behauptung, die Geschichte wiederhole sich stets, gehört zu den
unzähligen Unwahrheiten, die als Weisheit unter uns "Nonocentisten" im Umlauf
sind. Nie hat sich in der Geschichte etwas wiederholt, niemals! Wo ist die
Wiederholung von Athen und Sparta? von Rom? von Ägypten? wo hat der zweite
Alexander geblüht? wo ein neuer Homer? Weder die Völker, noch ihre grossen
Männer kehren wieder. Darum wird auch die Menschheit nicht "aus Erfahrung"
weiser; für die Gegenwart besitzt sie in der Vergangenheit kein Paradigma, an
dem sie ihr Urteil bilden könnte; besser oder schlechter, weiser oder dümmer
wird sie einzig durch das, was auf ihren Geist und ihren Charakter gewirkt hat.
Gutzkow's Ben Akiba täuschte sich gründlich mit seinem berühmten: "Alles
schon dagewesen!" -- so ein Esel wie er selber war noch nicht da, und wird
hoffentlich nie wiederkommen. Und wenn auch, es wäre nur die Wiederholung
des Individuums, das unter neuen Verhältnissen andere Dummheiten zum Besten
geben würde.

Das Erbe der alten Welt.
stehen, wenigstens die besondere Art dieser Verdienste; zugleich wird
damit die Natur der Erbschaft genau bezeichnet.

Ist das Recht nicht ein eingeborenes Prinzip, nicht eine erforsch-
bare, sichere Wissenschaft, sondern eine zweckdienliche Verwendung
menschlicher Anlagen zum Ausbau einer civilisationsfähigen Gesell-
schaft, so ist es von vornherein klar, dass es sehr verschiedenwertige
Rechte geben wird und muss. Im letzten Grunde wird ein Recht
hauptsächlich von zwei Dingen beeinflusst werden, und somit von ihnen
seine bezeichnende Farbe erhalten: von dem moralischen Charakter
des Volkes, in welchem es entsteht, und von dessen analytischem
Scharfsinn. Aus einem glücklichen Gemisch beider, wie es bisher
nur einmal in der Weltgeschichte vorkam, 1) ergab sich für das
römische Volk die Möglichkeit, ein rechtliches Gebäude von grosser
Vollkommenheit aufzuführen. Der blosse Egoismus, die Gier nach
Besitz, wird niemals hinreichen, um ein dauerhaftes Recht zu be-
gründen; vielmehr haben wir durch die Römer erfahren, dass die
unverbrüchliche Achtung vor den Ansprüchen Anderer auf Freiheit
und Besitz die moralische Grundlage ist, auf der allein für die Ewigkeit
gebaut werden kann. Einer der bedeutendsten Kenner des römischen
Rechtes und Volkes, Karl Esmarch, schreibt: »Das Gewissen für
Recht und Unrecht ist bei den italischen Ariern ein starkes, un-
verfälschtes; in der Selbstbeherrschung und, wenn es sein muss,
Selbstaufopferung gipfelt sich ihre innerem Drang entquellende
und durch innerstes Wesen getragene Tugend«. Dadurch, dass er
sich selbst zu beherrschen wusste, war der Römer berufen, die Welt
zu beherrschen und die Idee des Staates kraftvoll zu entwickeln;

1) Die Behauptung, die Geschichte wiederhole sich stets, gehört zu den
unzähligen Unwahrheiten, die als Weisheit unter uns »Nonocentisten« im Umlauf
sind. Nie hat sich in der Geschichte etwas wiederholt, niemals! Wo ist die
Wiederholung von Athen und Sparta? von Rom? von Ägypten? wo hat der zweite
Alexander geblüht? wo ein neuer Homer? Weder die Völker, noch ihre grossen
Männer kehren wieder. Darum wird auch die Menschheit nicht »aus Erfahrung«
weiser; für die Gegenwart besitzt sie in der Vergangenheit kein Paradigma, an
dem sie ihr Urteil bilden könnte; besser oder schlechter, weiser oder dümmer
wird sie einzig durch das, was auf ihren Geist und ihren Charakter gewirkt hat.
Gutzkow’s Ben Akiba täuschte sich gründlich mit seinem berühmten: »Alles
schon dagewesen!« — so ein Esel wie er selber war noch nicht da, und wird
hoffentlich nie wiederkommen. Und wenn auch, es wäre nur die Wiederholung
des Individuums, das unter neuen Verhältnissen andere Dummheiten zum Besten
geben würde.
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[164/0187] Das Erbe der alten Welt. stehen, wenigstens die besondere Art dieser Verdienste; zugleich wird damit die Natur der Erbschaft genau bezeichnet. Ist das Recht nicht ein eingeborenes Prinzip, nicht eine erforsch- bare, sichere Wissenschaft, sondern eine zweckdienliche Verwendung menschlicher Anlagen zum Ausbau einer civilisationsfähigen Gesell- schaft, so ist es von vornherein klar, dass es sehr verschiedenwertige Rechte geben wird und muss. Im letzten Grunde wird ein Recht hauptsächlich von zwei Dingen beeinflusst werden, und somit von ihnen seine bezeichnende Farbe erhalten: von dem moralischen Charakter des Volkes, in welchem es entsteht, und von dessen analytischem Scharfsinn. Aus einem glücklichen Gemisch beider, wie es bisher nur einmal in der Weltgeschichte vorkam, 1) ergab sich für das römische Volk die Möglichkeit, ein rechtliches Gebäude von grosser Vollkommenheit aufzuführen. Der blosse Egoismus, die Gier nach Besitz, wird niemals hinreichen, um ein dauerhaftes Recht zu be- gründen; vielmehr haben wir durch die Römer erfahren, dass die unverbrüchliche Achtung vor den Ansprüchen Anderer auf Freiheit und Besitz die moralische Grundlage ist, auf der allein für die Ewigkeit gebaut werden kann. Einer der bedeutendsten Kenner des römischen Rechtes und Volkes, Karl Esmarch, schreibt: »Das Gewissen für Recht und Unrecht ist bei den italischen Ariern ein starkes, un- verfälschtes; in der Selbstbeherrschung und, wenn es sein muss, Selbstaufopferung gipfelt sich ihre innerem Drang entquellende und durch innerstes Wesen getragene Tugend«. Dadurch, dass er sich selbst zu beherrschen wusste, war der Römer berufen, die Welt zu beherrschen und die Idee des Staates kraftvoll zu entwickeln; 1) Die Behauptung, die Geschichte wiederhole sich stets, gehört zu den unzähligen Unwahrheiten, die als Weisheit unter uns »Nonocentisten« im Umlauf sind. Nie hat sich in der Geschichte etwas wiederholt, niemals! Wo ist die Wiederholung von Athen und Sparta? von Rom? von Ägypten? wo hat der zweite Alexander geblüht? wo ein neuer Homer? Weder die Völker, noch ihre grossen Männer kehren wieder. Darum wird auch die Menschheit nicht »aus Erfahrung« weiser; für die Gegenwart besitzt sie in der Vergangenheit kein Paradigma, an dem sie ihr Urteil bilden könnte; besser oder schlechter, weiser oder dümmer wird sie einzig durch das, was auf ihren Geist und ihren Charakter gewirkt hat. Gutzkow’s Ben Akiba täuschte sich gründlich mit seinem berühmten: »Alles schon dagewesen!« — so ein Esel wie er selber war noch nicht da, und wird hoffentlich nie wiederkommen. Und wenn auch, es wäre nur die Wiederholung des Individuums, das unter neuen Verhältnissen andere Dummheiten zum Besten geben würde.

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Zitationshilfe: Chamberlain, Houston Stewart: Die Grundlagen des Neunzehnten Jahrhunderts. Bd. 1. München 1899, S. 164. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/chamberlain_grundlagen01_1899/187>, abgerufen am 28.04.2024.