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Chamberlain, Houston Stewart: Die Grundlagen des Neunzehnten Jahrhunderts. Bd. 1. München 1899.

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Das Erbe der alten Welt.
Männern als Schöpfung ihres eigenen Geistes geschaffen wurde. Denn
das darf nicht übergangen werden: zu den Fähigkeiten der Selbst-
beherrschung, der Abstraktion und der feinsten Analyse kommt als
drittes bei den Römern eine besondere Gabe der plastischen Gestaltung.
Hierin zeigt sich die Verwandtschaft mit dem Hellenentum, nach der
man sonst vergeblich Umschau hält. Auch der Römer ist ein ge-
staltungsmächtiger Künstler: er ist es in der klaren, plastischen Ge-
staltung der verwickelten Staatsmaschine -- kein Theoretiker der
Welt hätte sich einen solchen Staatsorganismus erdacht, der vielleicht
eher als Kunstwerk, denn als Werk der Vernunft zu deuten wäre;
er ist noch mehr Künstler in der plastischen Ausbildung seiner Rechts-
begriffe. Und höchst charakteristisch ist ebenfalls die Art, wie der
Römer darnach strebt, seiner Begriffsplastik auch in den rechtlichen
Handlungen sichtbaren Ausdruck zu geben, überall "die innerliche
Verschiedenheit äusserlich darzustellen, das Innere gewissermassen an
die Oberfläche zu rücken".1) Das ist ein ausgesprochen künstlerischer
Instinkt, der Ausfluss spezifisch indoeuropäischer Anlagen. In diesem
künstlerischen Element liegt auch die magische Kraft der römischen
Erbschaft; das ist das Unverwüstliche und das ewig Unvergleichliche.

Denn darüber müssen wir uns klar werden: römisches Recht
ist ebenso unvergleichlich und unnachahmlich, wie hellenische Kunst.
Daran wird die lächerliche Deutschtümelei nichts ändern. Man erzählt
Wunder von einem "deutschen Recht", welches uns durch die Ein-
führung des römischen geraubt worden sei; es hat aber nie ein
deutsches Recht gegeben, sondern lediglich ein Chaos von wider-
streitenden, rohen Rechten, ein besonderes für jeden Stamm. Es ist
auch durchaus ungenau, wenn man von einer "Recipierung" des
römischen Rechtes zwischen dem 13. und dem 16. Jahrhundert
spricht, denn die Germanen haben von ihrer ersten Berührung
mit dem römischen Reich an ununterbrochen "recipiert". Bur-
gunder und Ostgoten haben bereits im 5. christlichen Jahrhundert
(oder ganz zu Anfang des 6.) Bearbeitungen (Verrohungen) des

1) Behufs Beispiele lese man den prächtigen Abschnitt "Plastik des Rechtes"
in Jhering's: Geist des römischen Rechtes § 23. Von dem modernen undramatischen
Rechtsleben meint Jhering: "Man hätte unserer Justiz statt des Schwertes eine
Feder zum Attribut geben mögen, denn einem Vogel waren die Federn kaum
nötiger als ihr, nur dass sie bei ihr die entgegengesetzten Wirkungen hervor-
brachten, die Schnelligkeit im umgekehrten Verhältnis zum Federnaufwand stand."

Das Erbe der alten Welt.
Männern als Schöpfung ihres eigenen Geistes geschaffen wurde. Denn
das darf nicht übergangen werden: zu den Fähigkeiten der Selbst-
beherrschung, der Abstraktion und der feinsten Analyse kommt als
drittes bei den Römern eine besondere Gabe der plastischen Gestaltung.
Hierin zeigt sich die Verwandtschaft mit dem Hellenentum, nach der
man sonst vergeblich Umschau hält. Auch der Römer ist ein ge-
staltungsmächtiger Künstler: er ist es in der klaren, plastischen Ge-
staltung der verwickelten Staatsmaschine — kein Theoretiker der
Welt hätte sich einen solchen Staatsorganismus erdacht, der vielleicht
eher als Kunstwerk, denn als Werk der Vernunft zu deuten wäre;
er ist noch mehr Künstler in der plastischen Ausbildung seiner Rechts-
begriffe. Und höchst charakteristisch ist ebenfalls die Art, wie der
Römer darnach strebt, seiner Begriffsplastik auch in den rechtlichen
Handlungen sichtbaren Ausdruck zu geben, überall »die innerliche
Verschiedenheit äusserlich darzustellen, das Innere gewissermassen an
die Oberfläche zu rücken«.1) Das ist ein ausgesprochen künstlerischer
Instinkt, der Ausfluss spezifisch indoeuropäischer Anlagen. In diesem
künstlerischen Element liegt auch die magische Kraft der römischen
Erbschaft; das ist das Unverwüstliche und das ewig Unvergleichliche.

Denn darüber müssen wir uns klar werden: römisches Recht
ist ebenso unvergleichlich und unnachahmlich, wie hellenische Kunst.
Daran wird die lächerliche Deutschtümelei nichts ändern. Man erzählt
Wunder von einem »deutschen Recht«, welches uns durch die Ein-
führung des römischen geraubt worden sei; es hat aber nie ein
deutsches Recht gegeben, sondern lediglich ein Chaos von wider-
streitenden, rohen Rechten, ein besonderes für jeden Stamm. Es ist
auch durchaus ungenau, wenn man von einer »Recipierung« des
römischen Rechtes zwischen dem 13. und dem 16. Jahrhundert
spricht, denn die Germanen haben von ihrer ersten Berührung
mit dem römischen Reich an ununterbrochen »recipiert«. Bur-
gunder und Ostgoten haben bereits im 5. christlichen Jahrhundert
(oder ganz zu Anfang des 6.) Bearbeitungen (Verrohungen) des

1) Behufs Beispiele lese man den prächtigen Abschnitt »Plastik des Rechtes«
in Jhering’s: Geist des römischen Rechtes § 23. Von dem modernen undramatischen
Rechtsleben meint Jhering: »Man hätte unserer Justiz statt des Schwertes eine
Feder zum Attribut geben mögen, denn einem Vogel waren die Federn kaum
nötiger als ihr, nur dass sie bei ihr die entgegengesetzten Wirkungen hervor-
brachten, die Schnelligkeit im umgekehrten Verhältnis zum Federnaufwand stand.«
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[166/0189] Das Erbe der alten Welt. Männern als Schöpfung ihres eigenen Geistes geschaffen wurde. Denn das darf nicht übergangen werden: zu den Fähigkeiten der Selbst- beherrschung, der Abstraktion und der feinsten Analyse kommt als drittes bei den Römern eine besondere Gabe der plastischen Gestaltung. Hierin zeigt sich die Verwandtschaft mit dem Hellenentum, nach der man sonst vergeblich Umschau hält. Auch der Römer ist ein ge- staltungsmächtiger Künstler: er ist es in der klaren, plastischen Ge- staltung der verwickelten Staatsmaschine — kein Theoretiker der Welt hätte sich einen solchen Staatsorganismus erdacht, der vielleicht eher als Kunstwerk, denn als Werk der Vernunft zu deuten wäre; er ist noch mehr Künstler in der plastischen Ausbildung seiner Rechts- begriffe. Und höchst charakteristisch ist ebenfalls die Art, wie der Römer darnach strebt, seiner Begriffsplastik auch in den rechtlichen Handlungen sichtbaren Ausdruck zu geben, überall »die innerliche Verschiedenheit äusserlich darzustellen, das Innere gewissermassen an die Oberfläche zu rücken«. 1) Das ist ein ausgesprochen künstlerischer Instinkt, der Ausfluss spezifisch indoeuropäischer Anlagen. In diesem künstlerischen Element liegt auch die magische Kraft der römischen Erbschaft; das ist das Unverwüstliche und das ewig Unvergleichliche. Denn darüber müssen wir uns klar werden: römisches Recht ist ebenso unvergleichlich und unnachahmlich, wie hellenische Kunst. Daran wird die lächerliche Deutschtümelei nichts ändern. Man erzählt Wunder von einem »deutschen Recht«, welches uns durch die Ein- führung des römischen geraubt worden sei; es hat aber nie ein deutsches Recht gegeben, sondern lediglich ein Chaos von wider- streitenden, rohen Rechten, ein besonderes für jeden Stamm. Es ist auch durchaus ungenau, wenn man von einer »Recipierung« des römischen Rechtes zwischen dem 13. und dem 16. Jahrhundert spricht, denn die Germanen haben von ihrer ersten Berührung mit dem römischen Reich an ununterbrochen »recipiert«. Bur- gunder und Ostgoten haben bereits im 5. christlichen Jahrhundert (oder ganz zu Anfang des 6.) Bearbeitungen (Verrohungen) des 1) Behufs Beispiele lese man den prächtigen Abschnitt »Plastik des Rechtes« in Jhering’s: Geist des römischen Rechtes § 23. Von dem modernen undramatischen Rechtsleben meint Jhering: »Man hätte unserer Justiz statt des Schwertes eine Feder zum Attribut geben mögen, denn einem Vogel waren die Federn kaum nötiger als ihr, nur dass sie bei ihr die entgegengesetzten Wirkungen hervor- brachten, die Schnelligkeit im umgekehrten Verhältnis zum Federnaufwand stand.«

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Zitationshilfe: Chamberlain, Houston Stewart: Die Grundlagen des Neunzehnten Jahrhunderts. Bd. 1. München 1899, S. 166. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/chamberlain_grundlagen01_1899/189>, abgerufen am 28.04.2024.