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Chamberlain, Houston Stewart: Die Grundlagen des Neunzehnten Jahrhunderts. Bd. 1. München 1899.

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Römisches Recht.
römischen Rechtes eingeführt 1) und die ältesten Quellen zu sächsischem,
fränkischem, bayerischem, alemannischem Recht u. s. w. sind so ge-
spickt mit lateinischen Wörtern und halbverstandenen Begriffen, dass
das Bedürfnis nach vernünftigerer Rechtsgestaltung sich in ihnen
deutlich ausspricht. Wohl könnte man ein deutsches Recht als Ideal
in die Zukunft verlegen, es aber in der Vergangenheit suchen, ist
unredliches Geschwätz.2) -- Ein anderes Hindernis für die gerechte
Würdigung des römischen Rechtes bietet der Taumel des Entwicke-
lungsdogmas, der in unserm Jahrhundert die Begriffe so arg verwirrte.
Der Sinn für das Individuelle, die Einsicht, dass das Individuelle allein
ewige Bedeutung besitzt, ist hierdurch sehr beeinträchtigt worden.
Obwohl die Geschichte uns als wirkende Mächte lauter durch und
durch individualisierte Völker und grosse, nie wiederkehrende Persön-
lichkeiten zeigt, führt die Evolutionstheorie zu der Vorstellung, die
Anlagen und Anfänge seien überall identische, und es müssten sich
aus diesen selben Keimen wesentlich analoge Gebilde "entwickeln".
Dass das nirgends geschieht und dass z. B. römisches Recht nur ein
einziges Mal entstand, geniert unsere Dogmatiker nicht im Geringsten.
Damit hängt die weitere Vorstellung der unaufhörlichen "Vervoll-
kommnung" zusammen, in Folge welcher unser Recht ohne weiteres
das römische überragen muss, weil es ein späteres ist, und doch bietet
die Natur nirgends ein Beispiel dafür, dass an irgend etwas Lebendigem
eine Entwickelung stattfände, ohne durch entsprechende Einbusse
erkauft zu werden. 3) Unsere Civilisation steht hoch über der römischen;
in Bezug auf lebendiges Rechtsgefühl kann sich dagegen ein gebildeter
Mann des 19. Jahrhunderts mit einem römischen Bauern aus dem
Jahre 500 vor Christus gewiss nicht vergleichen. Keiner, der Denk-
kraft und Wissen besitzt, wird das in Abrede stellen. Ich sagte in
Bezug auf Recht, nicht auf Gerechtigkeit. Wenn Leist schreibt:
"Der unbefangen Prüfende wird nicht finden, als habe unsere Gegen-

1) Savigny: Geschichte des römischen Rechtes im Mittelalter, Kap. 1.
2) Ich weiss keinen schlagenderen Beweis von der ursprünglichen Unfähig-
keit der Germanen, in Rechtsfragen scharf zu urteilen, als dass noch ein solcher
Mann, wie Otto der Grosse, die prinzipielle Frage, ob Enkel erben oder nicht,
nicht anders als durch einen Waffenkampf zu entscheiden wusste; dieses Gottes-
urteil wurde dann durch ein pactum sempiternum ins bleibende Recht aufgenommen!
(Siehe Grimm: Rechtsaltertümer, 3. Ausg., S. 471).
3) Den ausführlichen Beweis, dass den Begriffen eines Fortschrittes und eines
Verfalles der Menschheit keine konkrete Bedeutung zukomme, bringt das neunte
Kapitel.

Römisches Recht.
römischen Rechtes eingeführt 1) und die ältesten Quellen zu sächsischem,
fränkischem, bayerischem, alemannischem Recht u. s. w. sind so ge-
spickt mit lateinischen Wörtern und halbverstandenen Begriffen, dass
das Bedürfnis nach vernünftigerer Rechtsgestaltung sich in ihnen
deutlich ausspricht. Wohl könnte man ein deutsches Recht als Ideal
in die Zukunft verlegen, es aber in der Vergangenheit suchen, ist
unredliches Geschwätz.2) — Ein anderes Hindernis für die gerechte
Würdigung des römischen Rechtes bietet der Taumel des Entwicke-
lungsdogmas, der in unserm Jahrhundert die Begriffe so arg verwirrte.
Der Sinn für das Individuelle, die Einsicht, dass das Individuelle allein
ewige Bedeutung besitzt, ist hierdurch sehr beeinträchtigt worden.
Obwohl die Geschichte uns als wirkende Mächte lauter durch und
durch individualisierte Völker und grosse, nie wiederkehrende Persön-
lichkeiten zeigt, führt die Evolutionstheorie zu der Vorstellung, die
Anlagen und Anfänge seien überall identische, und es müssten sich
aus diesen selben Keimen wesentlich analoge Gebilde »entwickeln«.
Dass das nirgends geschieht und dass z. B. römisches Recht nur ein
einziges Mal entstand, geniert unsere Dogmatiker nicht im Geringsten.
Damit hängt die weitere Vorstellung der unaufhörlichen »Vervoll-
kommnung« zusammen, in Folge welcher unser Recht ohne weiteres
das römische überragen muss, weil es ein späteres ist, und doch bietet
die Natur nirgends ein Beispiel dafür, dass an irgend etwas Lebendigem
eine Entwickelung stattfände, ohne durch entsprechende Einbusse
erkauft zu werden. 3) Unsere Civilisation steht hoch über der römischen;
in Bezug auf lebendiges Rechtsgefühl kann sich dagegen ein gebildeter
Mann des 19. Jahrhunderts mit einem römischen Bauern aus dem
Jahre 500 vor Christus gewiss nicht vergleichen. Keiner, der Denk-
kraft und Wissen besitzt, wird das in Abrede stellen. Ich sagte in
Bezug auf Recht, nicht auf Gerechtigkeit. Wenn Leist schreibt:
»Der unbefangen Prüfende wird nicht finden, als habe unsere Gegen-

1) Savigny: Geschichte des römischen Rechtes im Mittelalter, Kap. 1.
2) Ich weiss keinen schlagenderen Beweis von der ursprünglichen Unfähig-
keit der Germanen, in Rechtsfragen scharf zu urteilen, als dass noch ein solcher
Mann, wie Otto der Grosse, die prinzipielle Frage, ob Enkel erben oder nicht,
nicht anders als durch einen Waffenkampf zu entscheiden wusste; dieses Gottes-
urteil wurde dann durch ein pactum sempiternum ins bleibende Recht aufgenommen!
(Siehe Grimm: Rechtsaltertümer, 3. Ausg., S. 471).
3) Den ausführlichen Beweis, dass den Begriffen eines Fortschrittes und eines
Verfalles der Menschheit keine konkrete Bedeutung zukomme, bringt das neunte
Kapitel.
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[167/0190] Römisches Recht. römischen Rechtes eingeführt 1) und die ältesten Quellen zu sächsischem, fränkischem, bayerischem, alemannischem Recht u. s. w. sind so ge- spickt mit lateinischen Wörtern und halbverstandenen Begriffen, dass das Bedürfnis nach vernünftigerer Rechtsgestaltung sich in ihnen deutlich ausspricht. Wohl könnte man ein deutsches Recht als Ideal in die Zukunft verlegen, es aber in der Vergangenheit suchen, ist unredliches Geschwätz. 2) — Ein anderes Hindernis für die gerechte Würdigung des römischen Rechtes bietet der Taumel des Entwicke- lungsdogmas, der in unserm Jahrhundert die Begriffe so arg verwirrte. Der Sinn für das Individuelle, die Einsicht, dass das Individuelle allein ewige Bedeutung besitzt, ist hierdurch sehr beeinträchtigt worden. Obwohl die Geschichte uns als wirkende Mächte lauter durch und durch individualisierte Völker und grosse, nie wiederkehrende Persön- lichkeiten zeigt, führt die Evolutionstheorie zu der Vorstellung, die Anlagen und Anfänge seien überall identische, und es müssten sich aus diesen selben Keimen wesentlich analoge Gebilde »entwickeln«. Dass das nirgends geschieht und dass z. B. römisches Recht nur ein einziges Mal entstand, geniert unsere Dogmatiker nicht im Geringsten. Damit hängt die weitere Vorstellung der unaufhörlichen »Vervoll- kommnung« zusammen, in Folge welcher unser Recht ohne weiteres das römische überragen muss, weil es ein späteres ist, und doch bietet die Natur nirgends ein Beispiel dafür, dass an irgend etwas Lebendigem eine Entwickelung stattfände, ohne durch entsprechende Einbusse erkauft zu werden. 3) Unsere Civilisation steht hoch über der römischen; in Bezug auf lebendiges Rechtsgefühl kann sich dagegen ein gebildeter Mann des 19. Jahrhunderts mit einem römischen Bauern aus dem Jahre 500 vor Christus gewiss nicht vergleichen. Keiner, der Denk- kraft und Wissen besitzt, wird das in Abrede stellen. Ich sagte in Bezug auf Recht, nicht auf Gerechtigkeit. Wenn Leist schreibt: »Der unbefangen Prüfende wird nicht finden, als habe unsere Gegen- 1) Savigny: Geschichte des römischen Rechtes im Mittelalter, Kap. 1. 2) Ich weiss keinen schlagenderen Beweis von der ursprünglichen Unfähig- keit der Germanen, in Rechtsfragen scharf zu urteilen, als dass noch ein solcher Mann, wie Otto der Grosse, die prinzipielle Frage, ob Enkel erben oder nicht, nicht anders als durch einen Waffenkampf zu entscheiden wusste; dieses Gottes- urteil wurde dann durch ein pactum sempiternum ins bleibende Recht aufgenommen! (Siehe Grimm: Rechtsaltertümer, 3. Ausg., S. 471). 3) Den ausführlichen Beweis, dass den Begriffen eines Fortschrittes und eines Verfalles der Menschheit keine konkrete Bedeutung zukomme, bringt das neunte Kapitel.

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Zitationshilfe: Chamberlain, Houston Stewart: Die Grundlagen des Neunzehnten Jahrhunderts. Bd. 1. München 1899, S. 167. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/chamberlain_grundlagen01_1899/190>, abgerufen am 27.04.2024.