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Chamberlain, Houston Stewart: Die Grundlagen des Neunzehnten Jahrhunderts. Bd. 1. München 1899.

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Das Erbe der alten Welt.
und aufführen, das hätte kein anderes Volk vermocht, denn nirgends
war die nötige Verbindung von Charaktereigenschaften und Geistes-
gaben vorhanden, und dieses Recht musste gelebt werden, ehe es
gedacht wurde, ehe die Herren kamen, welche von einem "natürlichen
Recht" so erbauliches zu melden wussten und vermeinten, es sei der
Geometrie vergleichbar, die der einsame Gelehrte in seiner Kammer
ausklügelt.

Später haben sich Hellenen und Semiten als Dogmatiker und
Advokaten grosse Verdienste erworben, Italiener als Rechtslehrer,
Franzosen als Systematiker, Deutsche als Historiker; bei keinem der
genannten Volksstämme wäre jedoch der Boden zu finden gewesen,
fähig jenen Baum zur Reife zu bringen. Bei den Semiten z. B. fehlte
der moralische Untergrund, bei den Deutschen der Scharfsinn. Die
Semiten haben grosse moralische Eigenschaften, nicht aber diejenigen,
aus denen ein Recht für civilisierte Völker hätte hervorgehen können.
Denn die Missachtung der rechtlichen Ansprüche und der Freiheit
Anderer ist ein in allen mit semitischem Blute stark durchsetzten
Völkern wiederkehrender Zug. Schon im uralten Babylonien hatten
sie ein feinausgearbeitetes Handels- und Obligationsrecht; aber selbst auf
diesem beschränkten Gebiet geschah nichts, um dem grässlichen Zins-
wucher zu steuern, und an die Wahrung menschlicher Rechte,
etwa der Freiheit, hat man dort nie auch nur gedacht. 1) Aber auch
unter günstigeren Bedingungen, z. B. bei den Juden, hat sich nie auch
nur ein Ansatz zu einer echten Rechtsbildung gezeigt; das scheint
sonderbar; ein einziger Blick auf die Rechtssätze des grössten jüdischen
Denkers, Spinoza, löst das Rätsel. Im politischen Traktat (II, 4 und 8)
lesen wir: "Ein Jeder hat soviel Recht, als er Macht besitzt": hier
könnte man allenfalls glauben, es handle sich lediglich um eine Fest-
stellung thatsächlicher Verhältnisse, denn dieses zweite Kapitel ist über-

1) Vergleiche die sehr eingehenden Mitteilungen in Jhering's Vorgeschichte
der Indoeuropäer,
S. 233 ff. Der gewöhnliche Zinssatz betrug in Babylon 20 % bis 25 %.
Jhering behauptet, die Zinsen seien eine babylonische, semitische (nicht turanische)
Erfindung; er sagt: "Alle anderen Völker verdanken ihre Bekanntschaft damit den
Babyloniern". Ehre wem Ehre gebührt! Auch die raffiniertesten Formen des Wuchers,
z. B. der noch heute beliebte Ausweg, Geld ohne Zinsen zu leihen, sie dafür aber
gleich vom Kapital abzuziehen, waren im alten Babylon, noch ehe Homer Verse
zu dichten begonnen hatte, wohl bekannt. Wann wird man uns denn endlich mit
der alten erlogenen Märe in Ruhe lassen, die Semiten seien erst in den letzten
Jahrhunderten infolge christlicher Bedrückungen zu Zinswucherern geworden?

Das Erbe der alten Welt.
und aufführen, das hätte kein anderes Volk vermocht, denn nirgends
war die nötige Verbindung von Charaktereigenschaften und Geistes-
gaben vorhanden, und dieses Recht musste gelebt werden, ehe es
gedacht wurde, ehe die Herren kamen, welche von einem »natürlichen
Recht« so erbauliches zu melden wussten und vermeinten, es sei der
Geometrie vergleichbar, die der einsame Gelehrte in seiner Kammer
ausklügelt.

Später haben sich Hellenen und Semiten als Dogmatiker und
Advokaten grosse Verdienste erworben, Italiener als Rechtslehrer,
Franzosen als Systematiker, Deutsche als Historiker; bei keinem der
genannten Volksstämme wäre jedoch der Boden zu finden gewesen,
fähig jenen Baum zur Reife zu bringen. Bei den Semiten z. B. fehlte
der moralische Untergrund, bei den Deutschen der Scharfsinn. Die
Semiten haben grosse moralische Eigenschaften, nicht aber diejenigen,
aus denen ein Recht für civilisierte Völker hätte hervorgehen können.
Denn die Missachtung der rechtlichen Ansprüche und der Freiheit
Anderer ist ein in allen mit semitischem Blute stark durchsetzten
Völkern wiederkehrender Zug. Schon im uralten Babylonien hatten
sie ein feinausgearbeitetes Handels- und Obligationsrecht; aber selbst auf
diesem beschränkten Gebiet geschah nichts, um dem grässlichen Zins-
wucher zu steuern, und an die Wahrung menschlicher Rechte,
etwa der Freiheit, hat man dort nie auch nur gedacht. 1) Aber auch
unter günstigeren Bedingungen, z. B. bei den Juden, hat sich nie auch
nur ein Ansatz zu einer echten Rechtsbildung gezeigt; das scheint
sonderbar; ein einziger Blick auf die Rechtssätze des grössten jüdischen
Denkers, Spinoza, löst das Rätsel. Im politischen Traktat (II, 4 und 8)
lesen wir: »Ein Jeder hat soviel Recht, als er Macht besitzt«: hier
könnte man allenfalls glauben, es handle sich lediglich um eine Fest-
stellung thatsächlicher Verhältnisse, denn dieses zweite Kapitel ist über-

1) Vergleiche die sehr eingehenden Mitteilungen in Jhering’s Vorgeschichte
der Indoeuropäer,
S. 233 ff. Der gewöhnliche Zinssatz betrug in Babylon 20 % bis 25 %.
Jhering behauptet, die Zinsen seien eine babylonische, semitische (nicht turanische)
Erfindung; er sagt: »Alle anderen Völker verdanken ihre Bekanntschaft damit den
Babyloniern«. Ehre wem Ehre gebührt! Auch die raffiniertesten Formen des Wuchers,
z. B. der noch heute beliebte Ausweg, Geld ohne Zinsen zu leihen, sie dafür aber
gleich vom Kapital abzuziehen, waren im alten Babylon, noch ehe Homer Verse
zu dichten begonnen hatte, wohl bekannt. Wann wird man uns denn endlich mit
der alten erlogenen Märe in Ruhe lassen, die Semiten seien erst in den letzten
Jahrhunderten infolge christlicher Bedrückungen zu Zinswucherern geworden?
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[170/0193] Das Erbe der alten Welt. und aufführen, das hätte kein anderes Volk vermocht, denn nirgends war die nötige Verbindung von Charaktereigenschaften und Geistes- gaben vorhanden, und dieses Recht musste gelebt werden, ehe es gedacht wurde, ehe die Herren kamen, welche von einem »natürlichen Recht« so erbauliches zu melden wussten und vermeinten, es sei der Geometrie vergleichbar, die der einsame Gelehrte in seiner Kammer ausklügelt. Später haben sich Hellenen und Semiten als Dogmatiker und Advokaten grosse Verdienste erworben, Italiener als Rechtslehrer, Franzosen als Systematiker, Deutsche als Historiker; bei keinem der genannten Volksstämme wäre jedoch der Boden zu finden gewesen, fähig jenen Baum zur Reife zu bringen. Bei den Semiten z. B. fehlte der moralische Untergrund, bei den Deutschen der Scharfsinn. Die Semiten haben grosse moralische Eigenschaften, nicht aber diejenigen, aus denen ein Recht für civilisierte Völker hätte hervorgehen können. Denn die Missachtung der rechtlichen Ansprüche und der Freiheit Anderer ist ein in allen mit semitischem Blute stark durchsetzten Völkern wiederkehrender Zug. Schon im uralten Babylonien hatten sie ein feinausgearbeitetes Handels- und Obligationsrecht; aber selbst auf diesem beschränkten Gebiet geschah nichts, um dem grässlichen Zins- wucher zu steuern, und an die Wahrung menschlicher Rechte, etwa der Freiheit, hat man dort nie auch nur gedacht. 1) Aber auch unter günstigeren Bedingungen, z. B. bei den Juden, hat sich nie auch nur ein Ansatz zu einer echten Rechtsbildung gezeigt; das scheint sonderbar; ein einziger Blick auf die Rechtssätze des grössten jüdischen Denkers, Spinoza, löst das Rätsel. Im politischen Traktat (II, 4 und 8) lesen wir: »Ein Jeder hat soviel Recht, als er Macht besitzt«: hier könnte man allenfalls glauben, es handle sich lediglich um eine Fest- stellung thatsächlicher Verhältnisse, denn dieses zweite Kapitel ist über- 1) Vergleiche die sehr eingehenden Mitteilungen in Jhering’s Vorgeschichte der Indoeuropäer, S. 233 ff. Der gewöhnliche Zinssatz betrug in Babylon 20 % bis 25 %. Jhering behauptet, die Zinsen seien eine babylonische, semitische (nicht turanische) Erfindung; er sagt: »Alle anderen Völker verdanken ihre Bekanntschaft damit den Babyloniern«. Ehre wem Ehre gebührt! Auch die raffiniertesten Formen des Wuchers, z. B. der noch heute beliebte Ausweg, Geld ohne Zinsen zu leihen, sie dafür aber gleich vom Kapital abzuziehen, waren im alten Babylon, noch ehe Homer Verse zu dichten begonnen hatte, wohl bekannt. Wann wird man uns denn endlich mit der alten erlogenen Märe in Ruhe lassen, die Semiten seien erst in den letzten Jahrhunderten infolge christlicher Bedrückungen zu Zinswucherern geworden?

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Zitationshilfe: Chamberlain, Houston Stewart: Die Grundlagen des Neunzehnten Jahrhunderts. Bd. 1. München 1899, S. 170. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/chamberlain_grundlagen01_1899/193>, abgerufen am 27.04.2024.