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Chamberlain, Houston Stewart: Die Grundlagen des Neunzehnten Jahrhunderts. Bd. 1. München 1899.

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Römisches Recht.
mit der Zeit führen musste. Mit vollem Recht sagt einmal Giordano
Bruno (wo, ist mir entfallen): "Der allergeringste Irrtum in der Art
und Weise, eine Sache anzufassen, verursacht schliesslich die erheb-
lichsten irrtümlichen Abweichungen; da kann das kleinste Versehen
in der Verzweigung des Gedankenganges heranwachsen, wie eine
Eichel zur Eiche." Und das war hier kein "allergeringster Irrtum",
sondern ein gewaltiger; hier liegt alles Elend der hellenischen Völker
eingeschlossen; hier ist der Grund zu suchen, warum sie weder Staat
noch Recht in dauerhafter, mustergültiger Weise auszubauen ver-
mochten. Nimmt man eine sorgfältige Einzeldarstellung zur Hand,
z. B. die vor wenigen Jahren aufgefundene Schrift des Aristoteles:
Vom Staatswesen der Athener, man wird von dieser Aufeinanderfolge
verschiedener Verfassungen, die jede einen wesentlich verschiedenen
Geist atmen, schwindlig: die vordrakonische Verfassung, die Ver-
fassungen Drako's, Solon's, des Kleisthenes, des Aristeides, des
Perikles, der Vierhundert u. s. w., u. s. w., alles innerhalb zwei-
einhalb Jahrhunderte! Bei festgefügtem Familienleben wäre das un-
denkbar gewesen. Ohne dieses gelangten die Hellenen leicht zu ihrer
so charakteristisch unhistorischen Auffassung: das Recht sei ein
Gegenstand der freien Spekulation; und so verloren sie das Gefühl
dafür, dass es, um leben zu können, aus thatsächlichen Verhältnissen
hervorwachsen muss. 1) Und wie auffallend ist es, dass gerade die
wichtigsten Fragen des Familienrechtes als ein Nebensächliches be-
handelt werden, Solon z. B., der bedeutendste Athenienser auf recht-
lichem Gebiet, das Erbrecht so dunkel lässt, dass die Auslegung der
Willkür der Gerichte überlassen bleibt (Aristoteles, a. a. O., Ab-
schnitt 9). -- Ganz anders Rom. Der starke Drang nach Disciplin
findet einen Ausdruck hier zunächst in der festen Organisation der
Familie. Die Söhne bleiben nicht bloss bis zum 14. Lebensjahre,
wie bei den Griechen, unter väterlicher Gewalt, sondern bis zum
Tod des Vaters; durch Ausschliessung der Verwandtschaft auf mütter-
licher Seite, durch rechtliche Anerkennung der unbegrenzten Gewalt
des Paterfamilias, selbst über Leben und Tod der Seinigen (und
wäre sein Sohn inzwischen auch zu den höchsten Staatsämtern hinauf-
gestiegen), durch grösste Freiheit und genaueste Einzelbestimmungen
in Bezug auf das Testier- und das Erbrecht, durch striktesten Schutz

1) Trefflich ist in dieser Beziehung eine Bemerkung Jean Jacques Rousseau's:
"Si quelquefois les lois influent sur les moeurs, c'est quand elles en tirent leur force"
(Lettre a d'Alembert).

Römisches Recht.
mit der Zeit führen musste. Mit vollem Recht sagt einmal Giordano
Bruno (wo, ist mir entfallen): »Der allergeringste Irrtum in der Art
und Weise, eine Sache anzufassen, verursacht schliesslich die erheb-
lichsten irrtümlichen Abweichungen; da kann das kleinste Versehen
in der Verzweigung des Gedankenganges heranwachsen, wie eine
Eichel zur Eiche.« Und das war hier kein »allergeringster Irrtum«,
sondern ein gewaltiger; hier liegt alles Elend der hellenischen Völker
eingeschlossen; hier ist der Grund zu suchen, warum sie weder Staat
noch Recht in dauerhafter, mustergültiger Weise auszubauen ver-
mochten. Nimmt man eine sorgfältige Einzeldarstellung zur Hand,
z. B. die vor wenigen Jahren aufgefundene Schrift des Aristoteles:
Vom Staatswesen der Athener, man wird von dieser Aufeinanderfolge
verschiedener Verfassungen, die jede einen wesentlich verschiedenen
Geist atmen, schwindlig: die vordrakonische Verfassung, die Ver-
fassungen Drako’s, Solon’s, des Kleisthenes, des Aristeides, des
Perikles, der Vierhundert u. s. w., u. s. w., alles innerhalb zwei-
einhalb Jahrhunderte! Bei festgefügtem Familienleben wäre das un-
denkbar gewesen. Ohne dieses gelangten die Hellenen leicht zu ihrer
so charakteristisch unhistorischen Auffassung: das Recht sei ein
Gegenstand der freien Spekulation; und so verloren sie das Gefühl
dafür, dass es, um leben zu können, aus thatsächlichen Verhältnissen
hervorwachsen muss. 1) Und wie auffallend ist es, dass gerade die
wichtigsten Fragen des Familienrechtes als ein Nebensächliches be-
handelt werden, Solon z. B., der bedeutendste Athenienser auf recht-
lichem Gebiet, das Erbrecht so dunkel lässt, dass die Auslegung der
Willkür der Gerichte überlassen bleibt (Aristoteles, a. a. O., Ab-
schnitt 9). — Ganz anders Rom. Der starke Drang nach Disciplin
findet einen Ausdruck hier zunächst in der festen Organisation der
Familie. Die Söhne bleiben nicht bloss bis zum 14. Lebensjahre,
wie bei den Griechen, unter väterlicher Gewalt, sondern bis zum
Tod des Vaters; durch Ausschliessung der Verwandtschaft auf mütter-
licher Seite, durch rechtliche Anerkennung der unbegrenzten Gewalt
des Paterfamilias, selbst über Leben und Tod der Seinigen (und
wäre sein Sohn inzwischen auch zu den höchsten Staatsämtern hinauf-
gestiegen), durch grösste Freiheit und genaueste Einzelbestimmungen
in Bezug auf das Testier- und das Erbrecht, durch striktesten Schutz

1) Trefflich ist in dieser Beziehung eine Bemerkung Jean Jacques Rousseau’s:
»Si quelquefois les lois influent sur les moeurs, c’est quand elles en tirent leur force«
(Lettre à d’Alembert).
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[175/0198] Römisches Recht. mit der Zeit führen musste. Mit vollem Recht sagt einmal Giordano Bruno (wo, ist mir entfallen): »Der allergeringste Irrtum in der Art und Weise, eine Sache anzufassen, verursacht schliesslich die erheb- lichsten irrtümlichen Abweichungen; da kann das kleinste Versehen in der Verzweigung des Gedankenganges heranwachsen, wie eine Eichel zur Eiche.« Und das war hier kein »allergeringster Irrtum«, sondern ein gewaltiger; hier liegt alles Elend der hellenischen Völker eingeschlossen; hier ist der Grund zu suchen, warum sie weder Staat noch Recht in dauerhafter, mustergültiger Weise auszubauen ver- mochten. Nimmt man eine sorgfältige Einzeldarstellung zur Hand, z. B. die vor wenigen Jahren aufgefundene Schrift des Aristoteles: Vom Staatswesen der Athener, man wird von dieser Aufeinanderfolge verschiedener Verfassungen, die jede einen wesentlich verschiedenen Geist atmen, schwindlig: die vordrakonische Verfassung, die Ver- fassungen Drako’s, Solon’s, des Kleisthenes, des Aristeides, des Perikles, der Vierhundert u. s. w., u. s. w., alles innerhalb zwei- einhalb Jahrhunderte! Bei festgefügtem Familienleben wäre das un- denkbar gewesen. Ohne dieses gelangten die Hellenen leicht zu ihrer so charakteristisch unhistorischen Auffassung: das Recht sei ein Gegenstand der freien Spekulation; und so verloren sie das Gefühl dafür, dass es, um leben zu können, aus thatsächlichen Verhältnissen hervorwachsen muss. 1) Und wie auffallend ist es, dass gerade die wichtigsten Fragen des Familienrechtes als ein Nebensächliches be- handelt werden, Solon z. B., der bedeutendste Athenienser auf recht- lichem Gebiet, das Erbrecht so dunkel lässt, dass die Auslegung der Willkür der Gerichte überlassen bleibt (Aristoteles, a. a. O., Ab- schnitt 9). — Ganz anders Rom. Der starke Drang nach Disciplin findet einen Ausdruck hier zunächst in der festen Organisation der Familie. Die Söhne bleiben nicht bloss bis zum 14. Lebensjahre, wie bei den Griechen, unter väterlicher Gewalt, sondern bis zum Tod des Vaters; durch Ausschliessung der Verwandtschaft auf mütter- licher Seite, durch rechtliche Anerkennung der unbegrenzten Gewalt des Paterfamilias, selbst über Leben und Tod der Seinigen (und wäre sein Sohn inzwischen auch zu den höchsten Staatsämtern hinauf- gestiegen), durch grösste Freiheit und genaueste Einzelbestimmungen in Bezug auf das Testier- und das Erbrecht, durch striktesten Schutz 1) Trefflich ist in dieser Beziehung eine Bemerkung Jean Jacques Rousseau’s: »Si quelquefois les lois influent sur les moeurs, c’est quand elles en tirent leur force« (Lettre à d’Alembert).

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Zitationshilfe: Chamberlain, Houston Stewart: Die Grundlagen des Neunzehnten Jahrhunderts. Bd. 1. München 1899, S. 175. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/chamberlain_grundlagen01_1899/198>, abgerufen am 27.04.2024.