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Chamberlain, Houston Stewart: Die Grundlagen des Neunzehnten Jahrhunderts. Bd. 1. München 1899.

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Das Erbe der alten Welt.
semitischer Abstammung) begründet und durchgeführt. Es herrscht
merkwürdiges Dunkel über Herkunft und Geschichte der berühmtesten
Rechtslehrer der späteren römischen Zeit; sie sind auf einmal da, in
Amt und Würden, niemand weiss, woher sie kamen. Wahrhaft er-
greifend ist aber am Beginn des kaiserlichen Regimentes und seines
unausbleiblichen Einflusses auf das Rechtsleben der leidenschaftliche
Kampf zwischen Labeo, dem unbändig freien Altplebejer, und Capito,
dem nach Geld und Ehren strebenden Neuling, der Kampf für organische
freie Weiterentwickelung gegen Autoritätenglauben und Dogma. Das
Dogma siegte, wie auf religiösem, so auch auf rechtlichem Gebiete. --
Inzwischen hatten aber, wie gesagt, die praktischen Römer gar viel
in Griechenland gelernt, namentlich von Solon, der als Staatenbildner
wenig Dauerhaftes geleistet hatte, umsomehr aber auf dem Gebiete
des Rechtes. Ob Solon die schriftliche Rechtsgesetzgebung und das
folgenreiche Prinzip der actiones (der Einteilung der Klagen nach be-
stimmten Grundsätzen) erfunden oder ob er sie nur systematisiert
und fixiert hat, weiss ich nicht, jedenfalls stammt beides aus Athen.1)
Dies nur als Beispiel der grossen Bedeutung Griechenland's für
den Ausbau des römischen Rechtes. Später, als alle hellenischen
Länder unter römischer Verwaltung standen, trugen die griechischen
Städte zur Ausbildung des jus gentium (und somit auch zur Vervoll-
kommnung des römischen Rechtes) das Meiste bei. Und da fragt
man sich: wie kommt es denn, dass die Hellenen, den Römern
geistig so sehr überlegen, nichts Dauerhaftes und auch nichts Vollendetes
auf diesem Gebiete schufen, sondern lediglich durch Vermittelung
der Römer an dem grossen Civilisationswerke der Ausgestaltung des
Rechtes teilnahmen?

Hier lag ein einziger, jedoch ein folgenschwerer Fehler zu
Grunde: der Römer ging von der Familie aus, auf Grundlage der
Familie errichtete er Staat und Recht; der Grieche dagegen nahm
als Ausgangspunkt den Staat, immer ist die Organisation der "Polis"
sein Ideal, ihm bleiben Familie und Recht untergeordnet. Die ge-
samte griechische Geschichte und Litteratur beweist die Richtigkeit
dieser Behauptung, und die Thatsache, dass der grösste aller Hellenen
nachhomerischer Zeiten, Plato, die gänzliche Abschaffung der Familie
in den leitenden Kreisen) für ein erstrebenswertes Ziel erachtete,
zeigt, zu welchen heillosen Verirrungen ein solcher Fundamentalirrtum

1) Leist: Gräco-italische Rechtsgeschichte, S. 585.

Das Erbe der alten Welt.
semitischer Abstammung) begründet und durchgeführt. Es herrscht
merkwürdiges Dunkel über Herkunft und Geschichte der berühmtesten
Rechtslehrer der späteren römischen Zeit; sie sind auf einmal da, in
Amt und Würden, niemand weiss, woher sie kamen. Wahrhaft er-
greifend ist aber am Beginn des kaiserlichen Regimentes und seines
unausbleiblichen Einflusses auf das Rechtsleben der leidenschaftliche
Kampf zwischen Labeo, dem unbändig freien Altplebejer, und Capito,
dem nach Geld und Ehren strebenden Neuling, der Kampf für organische
freie Weiterentwickelung gegen Autoritätenglauben und Dogma. Das
Dogma siegte, wie auf religiösem, so auch auf rechtlichem Gebiete. —
Inzwischen hatten aber, wie gesagt, die praktischen Römer gar viel
in Griechenland gelernt, namentlich von Solon, der als Staatenbildner
wenig Dauerhaftes geleistet hatte, umsomehr aber auf dem Gebiete
des Rechtes. Ob Solon die schriftliche Rechtsgesetzgebung und das
folgenreiche Prinzip der actiones (der Einteilung der Klagen nach be-
stimmten Grundsätzen) erfunden oder ob er sie nur systematisiert
und fixiert hat, weiss ich nicht, jedenfalls stammt beides aus Athen.1)
Dies nur als Beispiel der grossen Bedeutung Griechenland’s für
den Ausbau des römischen Rechtes. Später, als alle hellenischen
Länder unter römischer Verwaltung standen, trugen die griechischen
Städte zur Ausbildung des jus gentium (und somit auch zur Vervoll-
kommnung des römischen Rechtes) das Meiste bei. Und da fragt
man sich: wie kommt es denn, dass die Hellenen, den Römern
geistig so sehr überlegen, nichts Dauerhaftes und auch nichts Vollendetes
auf diesem Gebiete schufen, sondern lediglich durch Vermittelung
der Römer an dem grossen Civilisationswerke der Ausgestaltung des
Rechtes teilnahmen?

Hier lag ein einziger, jedoch ein folgenschwerer Fehler zu
Grunde: der Römer ging von der Familie aus, auf Grundlage der
Familie errichtete er Staat und Recht; der Grieche dagegen nahm
als Ausgangspunkt den Staat, immer ist die Organisation der »Polis«
sein Ideal, ihm bleiben Familie und Recht untergeordnet. Die ge-
samte griechische Geschichte und Litteratur beweist die Richtigkeit
dieser Behauptung, und die Thatsache, dass der grösste aller Hellenen
nachhomerischer Zeiten, Plato, die gänzliche Abschaffung der Familie
in den leitenden Kreisen) für ein erstrebenswertes Ziel erachtete,
zeigt, zu welchen heillosen Verirrungen ein solcher Fundamentalirrtum

1) Leist: Gräco-italische Rechtsgeschichte, S. 585.
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[174/0197] Das Erbe der alten Welt. semitischer Abstammung) begründet und durchgeführt. Es herrscht merkwürdiges Dunkel über Herkunft und Geschichte der berühmtesten Rechtslehrer der späteren römischen Zeit; sie sind auf einmal da, in Amt und Würden, niemand weiss, woher sie kamen. Wahrhaft er- greifend ist aber am Beginn des kaiserlichen Regimentes und seines unausbleiblichen Einflusses auf das Rechtsleben der leidenschaftliche Kampf zwischen Labeo, dem unbändig freien Altplebejer, und Capito, dem nach Geld und Ehren strebenden Neuling, der Kampf für organische freie Weiterentwickelung gegen Autoritätenglauben und Dogma. Das Dogma siegte, wie auf religiösem, so auch auf rechtlichem Gebiete. — Inzwischen hatten aber, wie gesagt, die praktischen Römer gar viel in Griechenland gelernt, namentlich von Solon, der als Staatenbildner wenig Dauerhaftes geleistet hatte, umsomehr aber auf dem Gebiete des Rechtes. Ob Solon die schriftliche Rechtsgesetzgebung und das folgenreiche Prinzip der actiones (der Einteilung der Klagen nach be- stimmten Grundsätzen) erfunden oder ob er sie nur systematisiert und fixiert hat, weiss ich nicht, jedenfalls stammt beides aus Athen. 1) Dies nur als Beispiel der grossen Bedeutung Griechenland’s für den Ausbau des römischen Rechtes. Später, als alle hellenischen Länder unter römischer Verwaltung standen, trugen die griechischen Städte zur Ausbildung des jus gentium (und somit auch zur Vervoll- kommnung des römischen Rechtes) das Meiste bei. Und da fragt man sich: wie kommt es denn, dass die Hellenen, den Römern geistig so sehr überlegen, nichts Dauerhaftes und auch nichts Vollendetes auf diesem Gebiete schufen, sondern lediglich durch Vermittelung der Römer an dem grossen Civilisationswerke der Ausgestaltung des Rechtes teilnahmen? Hier lag ein einziger, jedoch ein folgenschwerer Fehler zu Grunde: der Römer ging von der Familie aus, auf Grundlage der Familie errichtete er Staat und Recht; der Grieche dagegen nahm als Ausgangspunkt den Staat, immer ist die Organisation der »Polis« sein Ideal, ihm bleiben Familie und Recht untergeordnet. Die ge- samte griechische Geschichte und Litteratur beweist die Richtigkeit dieser Behauptung, und die Thatsache, dass der grösste aller Hellenen nachhomerischer Zeiten, Plato, die gänzliche Abschaffung der Familie in den leitenden Kreisen) für ein erstrebenswertes Ziel erachtete, zeigt, zu welchen heillosen Verirrungen ein solcher Fundamentalirrtum 1) Leist: Gräco-italische Rechtsgeschichte, S. 585.

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Zitationshilfe: Chamberlain, Houston Stewart: Die Grundlagen des Neunzehnten Jahrhunderts. Bd. 1. München 1899, S. 174. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/chamberlain_grundlagen01_1899/197>, abgerufen am 27.04.2024.