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Chamberlain, Houston Stewart: Die Grundlagen des Neunzehnten Jahrhunderts. Bd. 1. München 1899.

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Das Völkerchaos.
physischen Anlagen in Folge von "Engzucht" beobachten können.1)
Die geringste Entfernung im Verwandtschaftsgrade der sich ehelich
Verbindenden (auch innerhalb genau desselben Typus) genügt, um die
hohen Vorzüge der Inzucht mit Ausschluss dieser Nachteile zu sichern.
Doch sieht Jeder, dass hier irgend ein geheimnisvolles Lebensgesetz
sich kund thut, ein so dringendes Lebensgesetz, dass im Pflanzenreich,
wo die Befruchtung innerhalb einer und derselben Blüte auf den
ersten Blick das Natürliche und Unvermeidliche dünkt, meistens die
kompliziertesten Einrichtungen getroffen sind, um dies zu verhindern
und um zugleich dafür zu sorgen, dass, wenn der männliche Pollen-
staub nicht im Winde fliegt, er durch Insekten von einem Individuum
zum anderen getragen werde.2) Die Einsicht in ein offenbar so
grundlegendes Naturgesetz lässt vermuten, dass die Entstehung aus-
gezeichnetster Rassen aus einer ursprünglichen Durchdringung ver-
schiedener Stämme, wie wir sie in der Geschichte beobachteten, nicht
ein Zufall war; vielmehr bilden diese historischen Thatsachen weitere
Belege dafür, dass Blutvermischung für die Entstehung edler Rassen
besonders günstige physiologische Bedingungen schafft.

5. Noch ein fünftes Gesetz muss namhaft gemacht werden,
wenngleich es eigentlich mehr einschränkend und erläuternd ist, als

1) Hierher gehören allerdings auch die allbekannten schlimmen Folgen der
Ehen zwischen Nächstverwandten; die Sinnesorgane (sowie überhaupt das Nerven-
system) und die Geschlechtsorgane haben am häufigsten darunter zu leiden. (Siehe
George H. Darwin's Vorträge: Die Ehen zwischen Geschwisterkindern und ihre Folgen,
Leipzig 1876.)
2) Die leider noch zahlreichen Menschen, die der Naturforschung fernstehen,
mache ich auf Christian Konrad Sprengel's: Das entdeckte Geheimnis der Natur
im Bau und in der Befruchtung der Blumen
, 1793, aufmerksam. Dieses Werk sollte
ein Stolz der ganzen deutschen Nation sein; es liegt seit 1893 in einem Facsimile-
druck (Berlin bei Mayer & Müller) vor und kann vom Ungelehrtesten gelesen
werden. Von neueren Publikationen ist namentlich Hermann Müller's: Alpen-
blumen, ihre Befruchtung durch Insekten und ihre Anpassungen an dieselben
(Engel-
mann 1881) anregend, durch die vielen Illustrationen anschaulich, auch vollständig.
Zusammenfassend und die aussereuropäischen Pflanzen berücksichtigend ist desselben
Verfassers: Blumen und Insekten in der Trewendt'schen Encyklopädie der Natur-
wissenschaften. Es giebt wohl wenige Betrachtungen, die uns auf so kurzem
Wege unmittelbar in die geheimnisvollsten Wunder der Natur hineinführen wie
diese Aufdeckung der gegenseitigen Lebensbeziehungen zwischen Pflanzen- und
Tierwelt. Was heisst unser Wissen, was bedeuten unsere Hypothesen solchen
Erscheinungen gegenüber? Diese lehren uns treu beobachten und uns im Kreise
des Erreichbaren bescheiden. (Während der Drucklegung dieses Buches hat Knuth's:
Handbuch der Blütenbiologie bei Engelmann zu erscheinen begonnen.)

Das Völkerchaos.
physischen Anlagen in Folge von »Engzucht« beobachten können.1)
Die geringste Entfernung im Verwandtschaftsgrade der sich ehelich
Verbindenden (auch innerhalb genau desselben Typus) genügt, um die
hohen Vorzüge der Inzucht mit Ausschluss dieser Nachteile zu sichern.
Doch sieht Jeder, dass hier irgend ein geheimnisvolles Lebensgesetz
sich kund thut, ein so dringendes Lebensgesetz, dass im Pflanzenreich,
wo die Befruchtung innerhalb einer und derselben Blüte auf den
ersten Blick das Natürliche und Unvermeidliche dünkt, meistens die
kompliziertesten Einrichtungen getroffen sind, um dies zu verhindern
und um zugleich dafür zu sorgen, dass, wenn der männliche Pollen-
staub nicht im Winde fliegt, er durch Insekten von einem Individuum
zum anderen getragen werde.2) Die Einsicht in ein offenbar so
grundlegendes Naturgesetz lässt vermuten, dass die Entstehung aus-
gezeichnetster Rassen aus einer ursprünglichen Durchdringung ver-
schiedener Stämme, wie wir sie in der Geschichte beobachteten, nicht
ein Zufall war; vielmehr bilden diese historischen Thatsachen weitere
Belege dafür, dass Blutvermischung für die Entstehung edler Rassen
besonders günstige physiologische Bedingungen schafft.

5. Noch ein fünftes Gesetz muss namhaft gemacht werden,
wenngleich es eigentlich mehr einschränkend und erläuternd ist, als

1) Hierher gehören allerdings auch die allbekannten schlimmen Folgen der
Ehen zwischen Nächstverwandten; die Sinnesorgane (sowie überhaupt das Nerven-
system) und die Geschlechtsorgane haben am häufigsten darunter zu leiden. (Siehe
George H. Darwin’s Vorträge: Die Ehen zwischen Geschwisterkindern und ihre Folgen,
Leipzig 1876.)
2) Die leider noch zahlreichen Menschen, die der Naturforschung fernstehen,
mache ich auf Christian Konrad Sprengel’s: Das entdeckte Geheimnis der Natur
im Bau und in der Befruchtung der Blumen
, 1793, aufmerksam. Dieses Werk sollte
ein Stolz der ganzen deutschen Nation sein; es liegt seit 1893 in einem Facsimile-
druck (Berlin bei Mayer & Müller) vor und kann vom Ungelehrtesten gelesen
werden. Von neueren Publikationen ist namentlich Hermann Müller’s: Alpen-
blumen, ihre Befruchtung durch Insekten und ihre Anpassungen an dieselben
(Engel-
mann 1881) anregend, durch die vielen Illustrationen anschaulich, auch vollständig.
Zusammenfassend und die aussereuropäischen Pflanzen berücksichtigend ist desselben
Verfassers: Blumen und Insekten in der Trewendt’schen Encyklopädie der Natur-
wissenschaften. Es giebt wohl wenige Betrachtungen, die uns auf so kurzem
Wege unmittelbar in die geheimnisvollsten Wunder der Natur hineinführen wie
diese Aufdeckung der gegenseitigen Lebensbeziehungen zwischen Pflanzen- und
Tierwelt. Was heisst unser Wissen, was bedeuten unsere Hypothesen solchen
Erscheinungen gegenüber? Diese lehren uns treu beobachten und uns im Kreise
des Erreichbaren bescheiden. (Während der Drucklegung dieses Buches hat Knuth’s:
Handbuch der Blütenbiologie bei Engelmann zu erscheinen begonnen.)
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[283/0306] Das Völkerchaos. physischen Anlagen in Folge von »Engzucht« beobachten können. 1) Die geringste Entfernung im Verwandtschaftsgrade der sich ehelich Verbindenden (auch innerhalb genau desselben Typus) genügt, um die hohen Vorzüge der Inzucht mit Ausschluss dieser Nachteile zu sichern. Doch sieht Jeder, dass hier irgend ein geheimnisvolles Lebensgesetz sich kund thut, ein so dringendes Lebensgesetz, dass im Pflanzenreich, wo die Befruchtung innerhalb einer und derselben Blüte auf den ersten Blick das Natürliche und Unvermeidliche dünkt, meistens die kompliziertesten Einrichtungen getroffen sind, um dies zu verhindern und um zugleich dafür zu sorgen, dass, wenn der männliche Pollen- staub nicht im Winde fliegt, er durch Insekten von einem Individuum zum anderen getragen werde. 2) Die Einsicht in ein offenbar so grundlegendes Naturgesetz lässt vermuten, dass die Entstehung aus- gezeichnetster Rassen aus einer ursprünglichen Durchdringung ver- schiedener Stämme, wie wir sie in der Geschichte beobachteten, nicht ein Zufall war; vielmehr bilden diese historischen Thatsachen weitere Belege dafür, dass Blutvermischung für die Entstehung edler Rassen besonders günstige physiologische Bedingungen schafft. 5. Noch ein fünftes Gesetz muss namhaft gemacht werden, wenngleich es eigentlich mehr einschränkend und erläuternd ist, als 1) Hierher gehören allerdings auch die allbekannten schlimmen Folgen der Ehen zwischen Nächstverwandten; die Sinnesorgane (sowie überhaupt das Nerven- system) und die Geschlechtsorgane haben am häufigsten darunter zu leiden. (Siehe George H. Darwin’s Vorträge: Die Ehen zwischen Geschwisterkindern und ihre Folgen, Leipzig 1876.) 2) Die leider noch zahlreichen Menschen, die der Naturforschung fernstehen, mache ich auf Christian Konrad Sprengel’s: Das entdeckte Geheimnis der Natur im Bau und in der Befruchtung der Blumen, 1793, aufmerksam. Dieses Werk sollte ein Stolz der ganzen deutschen Nation sein; es liegt seit 1893 in einem Facsimile- druck (Berlin bei Mayer & Müller) vor und kann vom Ungelehrtesten gelesen werden. Von neueren Publikationen ist namentlich Hermann Müller’s: Alpen- blumen, ihre Befruchtung durch Insekten und ihre Anpassungen an dieselben (Engel- mann 1881) anregend, durch die vielen Illustrationen anschaulich, auch vollständig. Zusammenfassend und die aussereuropäischen Pflanzen berücksichtigend ist desselben Verfassers: Blumen und Insekten in der Trewendt’schen Encyklopädie der Natur- wissenschaften. Es giebt wohl wenige Betrachtungen, die uns auf so kurzem Wege unmittelbar in die geheimnisvollsten Wunder der Natur hineinführen wie diese Aufdeckung der gegenseitigen Lebensbeziehungen zwischen Pflanzen- und Tierwelt. Was heisst unser Wissen, was bedeuten unsere Hypothesen solchen Erscheinungen gegenüber? Diese lehren uns treu beobachten und uns im Kreise des Erreichbaren bescheiden. (Während der Drucklegung dieses Buches hat Knuth’s: Handbuch der Blütenbiologie bei Engelmann zu erscheinen begonnen.)

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Zitationshilfe: Chamberlain, Houston Stewart: Die Grundlagen des Neunzehnten Jahrhunderts. Bd. 1. München 1899, S. 283. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/chamberlain_grundlagen01_1899/306>, abgerufen am 12.05.2024.