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Chamberlain, Houston Stewart: Die Grundlagen des Neunzehnten Jahrhunderts. Bd. 1. München 1899.

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Viel Geistvolles ist gesagt worden, um den Unterschied zwischenDas
Menschwerden.

Mensch und Tier drastisch zu kennzeichnen; wichtiger, weil eine
bedeutungsvollere Erkenntnis anbahnend, dünkt mich die Unter-
scheidung zwischen Mensch und Mensch. In dem Augenblick, wo
der Mensch zum Bewusstsein freischöpferischer Kraft erwacht, über-
schreitet er einen bestimmten Grenzkreis und zerstört den Bann, der
ihn, trotz aller seiner Begabung und allen seinen Leistungen, in
engster -- auch geistiger -- Zugehörigkeit zu den übrigen Lebewesen
erscheinen liess. Durch die Kunst tritt ein neues Element, eine
neue Daseinsform in den Kosmos ein.

Mit diesem Ausspruch stelle ich mich auf denselben Boden wie
etliche der grössten unter Deutschlands Söhnen. Diese Anschauung
von der Bedeutung der Kunst entspricht auch, wenn ich nicht irre,
einer spezifischen Anlage des deutschen Geistes, wenigstens dürfte
eine so klare, scharfe Formulierung jenes Gedankens, wie wir sie bei
Lessing und Winckelmann, bei Schiller und Goethe, bei Hölderlin,
Jean Paul und Novalis, bei Beethoven und Richard Wagner finden,
bei den anderen Mitgliedern der verwandten indogermanischen Völker-
gruppe kaum anzutreffen sein. Um dem Gedanken gerecht zu werden,
muss man zunächst genau wissen, was hier unter "Kunst" zu ver-
stehen ist. Wenn Schiller schreibt: "Die Natur hat nur Geschöpfe,
die Kunst hat Menschen gemacht", wird man doch nicht glauben,
er habe hier das Flötenspielen oder das Verseschreiben im Sinne?
Wer Schiller's Schriften (vor allen natürlich seine Briefe über die
ästhetische Erziehung des Menschen) sorgfältig und wiederholt liest,
wird immer mehr einsehen, dass der Begriff "Kunst" für den
Dichter-Philosophen ein sehr lebendiger, ihn gewissermassen durch-
glühender, dennoch aber ein recht subtiler ist, der sich schwer in
eine kurze Definition einzwängen lässt. Nur wer sie nicht verstanden
hat, kann eine derartige Einsicht überwunden zu haben wähnen.
Man höre, was Schiller sagt, denn für den Zweck des vorliegenden

Viel Geistvolles ist gesagt worden, um den Unterschied zwischenDas
Menschwerden.

Mensch und Tier drastisch zu kennzeichnen; wichtiger, weil eine
bedeutungsvollere Erkenntnis anbahnend, dünkt mich die Unter-
scheidung zwischen Mensch und Mensch. In dem Augenblick, wo
der Mensch zum Bewusstsein freischöpferischer Kraft erwacht, über-
schreitet er einen bestimmten Grenzkreis und zerstört den Bann, der
ihn, trotz aller seiner Begabung und allen seinen Leistungen, in
engster — auch geistiger — Zugehörigkeit zu den übrigen Lebewesen
erscheinen liess. Durch die Kunst tritt ein neues Element, eine
neue Daseinsform in den Kosmos ein.

Mit diesem Ausspruch stelle ich mich auf denselben Boden wie
etliche der grössten unter Deutschlands Söhnen. Diese Anschauung
von der Bedeutung der Kunst entspricht auch, wenn ich nicht irre,
einer spezifischen Anlage des deutschen Geistes, wenigstens dürfte
eine so klare, scharfe Formulierung jenes Gedankens, wie wir sie bei
Lessing und Winckelmann, bei Schiller und Goethe, bei Hölderlin,
Jean Paul und Novalis, bei Beethoven und Richard Wagner finden,
bei den anderen Mitgliedern der verwandten indogermanischen Völker-
gruppe kaum anzutreffen sein. Um dem Gedanken gerecht zu werden,
muss man zunächst genau wissen, was hier unter »Kunst« zu ver-
stehen ist. Wenn Schiller schreibt: »Die Natur hat nur Geschöpfe,
die Kunst hat Menschen gemacht«, wird man doch nicht glauben,
er habe hier das Flötenspielen oder das Verseschreiben im Sinne?
Wer Schiller’s Schriften (vor allen natürlich seine Briefe über die
ästhetische Erziehung des Menschen) sorgfältig und wiederholt liest,
wird immer mehr einsehen, dass der Begriff »Kunst« für den
Dichter-Philosophen ein sehr lebendiger, ihn gewissermassen durch-
glühender, dennoch aber ein recht subtiler ist, der sich schwer in
eine kurze Definition einzwängen lässt. Nur wer sie nicht verstanden
hat, kann eine derartige Einsicht überwunden zu haben wähnen.
Man höre, was Schiller sagt, denn für den Zweck des vorliegenden

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[[53]/0076] Viel Geistvolles ist gesagt worden, um den Unterschied zwischen Mensch und Tier drastisch zu kennzeichnen; wichtiger, weil eine bedeutungsvollere Erkenntnis anbahnend, dünkt mich die Unter- scheidung zwischen Mensch und Mensch. In dem Augenblick, wo der Mensch zum Bewusstsein freischöpferischer Kraft erwacht, über- schreitet er einen bestimmten Grenzkreis und zerstört den Bann, der ihn, trotz aller seiner Begabung und allen seinen Leistungen, in engster — auch geistiger — Zugehörigkeit zu den übrigen Lebewesen erscheinen liess. Durch die Kunst tritt ein neues Element, eine neue Daseinsform in den Kosmos ein. Das Menschwerden. Mit diesem Ausspruch stelle ich mich auf denselben Boden wie etliche der grössten unter Deutschlands Söhnen. Diese Anschauung von der Bedeutung der Kunst entspricht auch, wenn ich nicht irre, einer spezifischen Anlage des deutschen Geistes, wenigstens dürfte eine so klare, scharfe Formulierung jenes Gedankens, wie wir sie bei Lessing und Winckelmann, bei Schiller und Goethe, bei Hölderlin, Jean Paul und Novalis, bei Beethoven und Richard Wagner finden, bei den anderen Mitgliedern der verwandten indogermanischen Völker- gruppe kaum anzutreffen sein. Um dem Gedanken gerecht zu werden, muss man zunächst genau wissen, was hier unter »Kunst« zu ver- stehen ist. Wenn Schiller schreibt: »Die Natur hat nur Geschöpfe, die Kunst hat Menschen gemacht«, wird man doch nicht glauben, er habe hier das Flötenspielen oder das Verseschreiben im Sinne? Wer Schiller’s Schriften (vor allen natürlich seine Briefe über die ästhetische Erziehung des Menschen) sorgfältig und wiederholt liest, wird immer mehr einsehen, dass der Begriff »Kunst« für den Dichter-Philosophen ein sehr lebendiger, ihn gewissermassen durch- glühender, dennoch aber ein recht subtiler ist, der sich schwer in eine kurze Definition einzwängen lässt. Nur wer sie nicht verstanden hat, kann eine derartige Einsicht überwunden zu haben wähnen. Man höre, was Schiller sagt, denn für den Zweck des vorliegenden

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Zitationshilfe: Chamberlain, Houston Stewart: Die Grundlagen des Neunzehnten Jahrhunderts. Bd. 1. München 1899, S. [53]. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/chamberlain_grundlagen01_1899/76>, abgerufen am 30.04.2024.