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Chamberlain, Houston Stewart: Die Grundlagen des Neunzehnten Jahrhunderts. Bd. 1. München 1899.

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Das Erbe der alten Welt.
Kapitels, sowie des ganzen Buches ist ein Verständnis dieses Grund-
begriffes unentbehrlich. Er schreibt: "Die Natur fängt mit dem
Menschen nicht besser an als mit ihren übrigen Werken: sie handelt
für ihn, wo er als freie Intelligenz noch nicht selbst handeln kann.
Aber eben das macht ihn zum Menschen, dass er bei dem nicht
stille steht, was die blosse Natur aus ihm machte, sondern die Fähig-
keit besitzt, die Schritte, welche jene mit ihm anticipierte, durch
Vernunft wieder rückwärts zu thun, das Werk der Not in ein Werk
seiner freien Wahl umzuschaffen, und die physische Notwendigkeit
zu einer moralischen zu erheben". Zunächst bezeichnet also das
Drängen nach Freiheit den künstlerischen Zustand für Schiller:
der Not kann der Mensch nicht entrinnen, er "schafft sie aber um";
indem er das thut, bewährt er sich als Künstler. Als solcher benutzt
er die Elemente, die ihm die Natur bietet, um sich eine neue Welt
des Scheins zu errichten; jedoch hieraus ergiebt sich ein Zweites,
und gerade dieses Zweite darf unter keiner Bedingung übersehen
werden: indem der Mensch "in seinem ästhetischen Stande" sich
gewissermassen "ausser der Welt stellt und sie betrachtet", findet es
sich, dass er diese Welt, die Welt ausser ihm, zum erstenmal deutlich
erblickt! Freilich war es ein Wahn gewesen, sich aus dem Schosse
der Natur losringen zu wollen, gerade dieser Wahn aber leitet ihn
nunmehr dazu, sich der Natur völlig und richtig bewusst zu werden:
"denn der Mensch kann den Schein nicht von der Wirklichkeit
reinigen, ohne zugleich die Wirklichkeit von dem Scheine frei zu
machen". Erst wenn er zu dichten begonnen hat, beginnt der
Mensch auch bewusst zu denken; erst wenn er selber baut, wird
er auf die Architektonik des Weltgebäudes aufmerksam. Wirklichkeit
und Schein sind anfangs in seinem Bewusstsein vermengt; die be-
wusste, freischöpferische Beschäftigung mit dem Schein ist der erste
Schritt, um zu einer möglichst freien, reinen Erkenntnis der Wirklich-
keit zu gelangen. Wahre Wissenschaft, d. h. eine nicht bloss
messende, registrierende, sondern eine anschauende, erkennende, ent-
steht also, nach Schiller, unter dem unmittelbaren Einfluss des künst-
lerischen Strebens der Menschen. Und jetzt erst kann im Menschen-
geist auch Philosophie auftreten; denn sie schwebt zwischen beiden
Welten. Philosophie fusst zugleich auf Kunst und auf Wissenschaft;
sie ist, wenn ich mich so ausdrücken darf, die neuerliche, künstlerische
Bearbeitung jener gesonderten, gereinigten Wirklichkeit. Damit ist
aber die Bedeutung der Vorstellung "Kunst" für Schiller noch immer

Das Erbe der alten Welt.
Kapitels, sowie des ganzen Buches ist ein Verständnis dieses Grund-
begriffes unentbehrlich. Er schreibt: »Die Natur fängt mit dem
Menschen nicht besser an als mit ihren übrigen Werken: sie handelt
für ihn, wo er als freie Intelligenz noch nicht selbst handeln kann.
Aber eben das macht ihn zum Menschen, dass er bei dem nicht
stille steht, was die blosse Natur aus ihm machte, sondern die Fähig-
keit besitzt, die Schritte, welche jene mit ihm anticipierte, durch
Vernunft wieder rückwärts zu thun, das Werk der Not in ein Werk
seiner freien Wahl umzuschaffen, und die physische Notwendigkeit
zu einer moralischen zu erheben«. Zunächst bezeichnet also das
Drängen nach Freiheit den künstlerischen Zustand für Schiller:
der Not kann der Mensch nicht entrinnen, er »schafft sie aber um«;
indem er das thut, bewährt er sich als Künstler. Als solcher benutzt
er die Elemente, die ihm die Natur bietet, um sich eine neue Welt
des Scheins zu errichten; jedoch hieraus ergiebt sich ein Zweites,
und gerade dieses Zweite darf unter keiner Bedingung übersehen
werden: indem der Mensch »in seinem ästhetischen Stande« sich
gewissermassen »ausser der Welt stellt und sie betrachtet«, findet es
sich, dass er diese Welt, die Welt ausser ihm, zum erstenmal deutlich
erblickt! Freilich war es ein Wahn gewesen, sich aus dem Schosse
der Natur losringen zu wollen, gerade dieser Wahn aber leitet ihn
nunmehr dazu, sich der Natur völlig und richtig bewusst zu werden:
»denn der Mensch kann den Schein nicht von der Wirklichkeit
reinigen, ohne zugleich die Wirklichkeit von dem Scheine frei zu
machen«. Erst wenn er zu dichten begonnen hat, beginnt der
Mensch auch bewusst zu denken; erst wenn er selber baut, wird
er auf die Architektonik des Weltgebäudes aufmerksam. Wirklichkeit
und Schein sind anfangs in seinem Bewusstsein vermengt; die be-
wusste, freischöpferische Beschäftigung mit dem Schein ist der erste
Schritt, um zu einer möglichst freien, reinen Erkenntnis der Wirklich-
keit zu gelangen. Wahre Wissenschaft, d. h. eine nicht bloss
messende, registrierende, sondern eine anschauende, erkennende, ent-
steht also, nach Schiller, unter dem unmittelbaren Einfluss des künst-
lerischen Strebens der Menschen. Und jetzt erst kann im Menschen-
geist auch Philosophie auftreten; denn sie schwebt zwischen beiden
Welten. Philosophie fusst zugleich auf Kunst und auf Wissenschaft;
sie ist, wenn ich mich so ausdrücken darf, die neuerliche, künstlerische
Bearbeitung jener gesonderten, gereinigten Wirklichkeit. Damit ist
aber die Bedeutung der Vorstellung »Kunst« für Schiller noch immer

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[54/0077] Das Erbe der alten Welt. Kapitels, sowie des ganzen Buches ist ein Verständnis dieses Grund- begriffes unentbehrlich. Er schreibt: »Die Natur fängt mit dem Menschen nicht besser an als mit ihren übrigen Werken: sie handelt für ihn, wo er als freie Intelligenz noch nicht selbst handeln kann. Aber eben das macht ihn zum Menschen, dass er bei dem nicht stille steht, was die blosse Natur aus ihm machte, sondern die Fähig- keit besitzt, die Schritte, welche jene mit ihm anticipierte, durch Vernunft wieder rückwärts zu thun, das Werk der Not in ein Werk seiner freien Wahl umzuschaffen, und die physische Notwendigkeit zu einer moralischen zu erheben«. Zunächst bezeichnet also das Drängen nach Freiheit den künstlerischen Zustand für Schiller: der Not kann der Mensch nicht entrinnen, er »schafft sie aber um«; indem er das thut, bewährt er sich als Künstler. Als solcher benutzt er die Elemente, die ihm die Natur bietet, um sich eine neue Welt des Scheins zu errichten; jedoch hieraus ergiebt sich ein Zweites, und gerade dieses Zweite darf unter keiner Bedingung übersehen werden: indem der Mensch »in seinem ästhetischen Stande« sich gewissermassen »ausser der Welt stellt und sie betrachtet«, findet es sich, dass er diese Welt, die Welt ausser ihm, zum erstenmal deutlich erblickt! Freilich war es ein Wahn gewesen, sich aus dem Schosse der Natur losringen zu wollen, gerade dieser Wahn aber leitet ihn nunmehr dazu, sich der Natur völlig und richtig bewusst zu werden: »denn der Mensch kann den Schein nicht von der Wirklichkeit reinigen, ohne zugleich die Wirklichkeit von dem Scheine frei zu machen«. Erst wenn er zu dichten begonnen hat, beginnt der Mensch auch bewusst zu denken; erst wenn er selber baut, wird er auf die Architektonik des Weltgebäudes aufmerksam. Wirklichkeit und Schein sind anfangs in seinem Bewusstsein vermengt; die be- wusste, freischöpferische Beschäftigung mit dem Schein ist der erste Schritt, um zu einer möglichst freien, reinen Erkenntnis der Wirklich- keit zu gelangen. Wahre Wissenschaft, d. h. eine nicht bloss messende, registrierende, sondern eine anschauende, erkennende, ent- steht also, nach Schiller, unter dem unmittelbaren Einfluss des künst- lerischen Strebens der Menschen. Und jetzt erst kann im Menschen- geist auch Philosophie auftreten; denn sie schwebt zwischen beiden Welten. Philosophie fusst zugleich auf Kunst und auf Wissenschaft; sie ist, wenn ich mich so ausdrücken darf, die neuerliche, künstlerische Bearbeitung jener gesonderten, gereinigten Wirklichkeit. Damit ist aber die Bedeutung der Vorstellung »Kunst« für Schiller noch immer

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Zitationshilfe: Chamberlain, Houston Stewart: Die Grundlagen des Neunzehnten Jahrhunderts. Bd. 1. München 1899, S. 54. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/chamberlain_grundlagen01_1899/77>, abgerufen am 02.05.2024.