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Chamberlain, Houston Stewart: Die Grundlagen des Neunzehnten Jahrhunderts. Bd. 2. München 1899.

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Der Kampf.
der Kampf noch immer fort, ja, jetzt erst wurde er allgemein. In der
zweiten Hälfte des 13. Jahrhunderts fand ein Erwachen des religiösen
Bewusstseins in allen Ländern statt, wohin germanisches Blut gedrungen
war, von Spanien bis nach Polen, von Italien bis England,1) wie man
ein solches seither vielleicht nicht wieder gesehen hat; es bedeutete
dies das erste Dämmern eines neuen Tages und trat zunächst als
eine Reaktion gegen die aufgezwungene, unassimilierbare Religion des
Völkerchaos auf. Überall entstanden Bibelgesellschaften und andere
fromme Vereine, und überall, wo die Kenntnis der heiligen Schrift
sich im Volke verbreitet hatte, erfolgte, wie mit mathematischer
Notwendigkeit, die Verwerfung der weltlichen und geistlichen An-
sprüche Rom's und vor Allem die Verwerfung der Brotverwandlung,
sowie überhaupt der römischen Lehre des Messopfers. Die Lage wurde
täglich kritischer. Wäre die politische Situation eine günstigere gewesen,
anstatt der trostlosesten, die Europa je gekannt hat, so hätte eine
energische und endgültige Losreissung von Rom damals bis südlich
der Alpen und der Pyrenäen stattgefunden. Reformatoren gab es
genug; es bedurfte ihrer gewissermassen gar nicht. Das Wort Anti-
christ als Bezeichnung für den römischen Stuhl war in Aller Mund.
Dass viele Ceremonien und Lehren der Kirche unmittelbar dem Heiden-
tum entlehnt waren, wussten selbst die Bauern, es war ja damals noch
unvergessen. Und so fand eine weitverbreitete innere Empörung statt
gegen die Veräusserlichung der Religion, gegen die Werkheiligkeit und
ganz besonders gegen den Ablass. Doch Rom stand in jenem Augen-
blick auf dem Zenith seiner politischen Macht, es verschenkte Kronen
und es entthronte Könige, die Fäden aller diplomatischen Intriguen liefen
durch seine Hände. Damals bestieg gerade jener Papst den kurulischen
Stuhl, der die denkwürdigen Worte gesprochen hat: ego sum Caesar!
ego sum imperator!
Anders als er zu glauben, wurde wieder, wie zu
Zeiten des Theodosius, Majestätsbeleidigung. Hingeschlachtet wurden die
Wehrlosen; eingekerkert, eingeschüchtert, demoralisiert Diejenigen, gegen
welche Rücksichten geboten erschienen; gekauft, wer zu kaufen war.
Es begann das Regiment des römischen Absolutismus, auch auf dem
bisher relativ tolerant gehandhabten Gebiet der allerinnersten Religions-

1) Um das Jahr 1200 gab es waldensische Gemeinden "in Frankreich, Ara-
gonien, Catalonien, Spanien, England, den Niederlanden, Deutschland, Böhmen,
Polen, Lithauen, Österreich, Ungarn, Kroatien, Dalmatien, Italien, Sizilien u. s. w."
(Siehe die treffliche Schrift von Ludwig Keller: Die Anfänge der Reformation und
die Ketzerschulen,
1897.)

Der Kampf.
der Kampf noch immer fort, ja, jetzt erst wurde er allgemein. In der
zweiten Hälfte des 13. Jahrhunderts fand ein Erwachen des religiösen
Bewusstseins in allen Ländern statt, wohin germanisches Blut gedrungen
war, von Spanien bis nach Polen, von Italien bis England,1) wie man
ein solches seither vielleicht nicht wieder gesehen hat; es bedeutete
dies das erste Dämmern eines neuen Tages und trat zunächst als
eine Reaktion gegen die aufgezwungene, unassimilierbare Religion des
Völkerchaos auf. Überall entstanden Bibelgesellschaften und andere
fromme Vereine, und überall, wo die Kenntnis der heiligen Schrift
sich im Volke verbreitet hatte, erfolgte, wie mit mathematischer
Notwendigkeit, die Verwerfung der weltlichen und geistlichen An-
sprüche Rom’s und vor Allem die Verwerfung der Brotverwandlung,
sowie überhaupt der römischen Lehre des Messopfers. Die Lage wurde
täglich kritischer. Wäre die politische Situation eine günstigere gewesen,
anstatt der trostlosesten, die Europa je gekannt hat, so hätte eine
energische und endgültige Losreissung von Rom damals bis südlich
der Alpen und der Pyrenäen stattgefunden. Reformatoren gab es
genug; es bedurfte ihrer gewissermassen gar nicht. Das Wort Anti-
christ als Bezeichnung für den römischen Stuhl war in Aller Mund.
Dass viele Ceremonien und Lehren der Kirche unmittelbar dem Heiden-
tum entlehnt waren, wussten selbst die Bauern, es war ja damals noch
unvergessen. Und so fand eine weitverbreitete innere Empörung statt
gegen die Veräusserlichung der Religion, gegen die Werkheiligkeit und
ganz besonders gegen den Ablass. Doch Rom stand in jenem Augen-
blick auf dem Zenith seiner politischen Macht, es verschenkte Kronen
und es entthronte Könige, die Fäden aller diplomatischen Intriguen liefen
durch seine Hände. Damals bestieg gerade jener Papst den kurulischen
Stuhl, der die denkwürdigen Worte gesprochen hat: ego sum Caesar!
ego sum imperator!
Anders als er zu glauben, wurde wieder, wie zu
Zeiten des Theodosius, Majestätsbeleidigung. Hingeschlachtet wurden die
Wehrlosen; eingekerkert, eingeschüchtert, demoralisiert Diejenigen, gegen
welche Rücksichten geboten erschienen; gekauft, wer zu kaufen war.
Es begann das Regiment des römischen Absolutismus, auch auf dem
bisher relativ tolerant gehandhabten Gebiet der allerinnersten Religions-

1) Um das Jahr 1200 gab es waldensische Gemeinden »in Frankreich, Ara-
gonien, Catalonien, Spanien, England, den Niederlanden, Deutschland, Böhmen,
Polen, Lithauen, Österreich, Ungarn, Kroatien, Dalmatien, Italien, Sizilien u. s. w.«
(Siehe die treffliche Schrift von Ludwig Keller: Die Anfänge der Reformation und
die Ketzerschulen,
1897.)
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[642/0121] Der Kampf. der Kampf noch immer fort, ja, jetzt erst wurde er allgemein. In der zweiten Hälfte des 13. Jahrhunderts fand ein Erwachen des religiösen Bewusstseins in allen Ländern statt, wohin germanisches Blut gedrungen war, von Spanien bis nach Polen, von Italien bis England, 1) wie man ein solches seither vielleicht nicht wieder gesehen hat; es bedeutete dies das erste Dämmern eines neuen Tages und trat zunächst als eine Reaktion gegen die aufgezwungene, unassimilierbare Religion des Völkerchaos auf. Überall entstanden Bibelgesellschaften und andere fromme Vereine, und überall, wo die Kenntnis der heiligen Schrift sich im Volke verbreitet hatte, erfolgte, wie mit mathematischer Notwendigkeit, die Verwerfung der weltlichen und geistlichen An- sprüche Rom’s und vor Allem die Verwerfung der Brotverwandlung, sowie überhaupt der römischen Lehre des Messopfers. Die Lage wurde täglich kritischer. Wäre die politische Situation eine günstigere gewesen, anstatt der trostlosesten, die Europa je gekannt hat, so hätte eine energische und endgültige Losreissung von Rom damals bis südlich der Alpen und der Pyrenäen stattgefunden. Reformatoren gab es genug; es bedurfte ihrer gewissermassen gar nicht. Das Wort Anti- christ als Bezeichnung für den römischen Stuhl war in Aller Mund. Dass viele Ceremonien und Lehren der Kirche unmittelbar dem Heiden- tum entlehnt waren, wussten selbst die Bauern, es war ja damals noch unvergessen. Und so fand eine weitverbreitete innere Empörung statt gegen die Veräusserlichung der Religion, gegen die Werkheiligkeit und ganz besonders gegen den Ablass. Doch Rom stand in jenem Augen- blick auf dem Zenith seiner politischen Macht, es verschenkte Kronen und es entthronte Könige, die Fäden aller diplomatischen Intriguen liefen durch seine Hände. Damals bestieg gerade jener Papst den kurulischen Stuhl, der die denkwürdigen Worte gesprochen hat: ego sum Caesar! ego sum imperator! Anders als er zu glauben, wurde wieder, wie zu Zeiten des Theodosius, Majestätsbeleidigung. Hingeschlachtet wurden die Wehrlosen; eingekerkert, eingeschüchtert, demoralisiert Diejenigen, gegen welche Rücksichten geboten erschienen; gekauft, wer zu kaufen war. Es begann das Regiment des römischen Absolutismus, auch auf dem bisher relativ tolerant gehandhabten Gebiet der allerinnersten Religions- 1) Um das Jahr 1200 gab es waldensische Gemeinden »in Frankreich, Ara- gonien, Catalonien, Spanien, England, den Niederlanden, Deutschland, Böhmen, Polen, Lithauen, Österreich, Ungarn, Kroatien, Dalmatien, Italien, Sizilien u. s. w.« (Siehe die treffliche Schrift von Ludwig Keller: Die Anfänge der Reformation und die Ketzerschulen, 1897.)

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Zitationshilfe: Chamberlain, Houston Stewart: Die Grundlagen des Neunzehnten Jahrhunderts. Bd. 2. München 1899, S. 642. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/chamberlain_grundlagen02_1899/121>, abgerufen am 27.04.2024.