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Chamberlain, Houston Stewart: Die Grundlagen des Neunzehnten Jahrhunderts. Bd. 2. München 1899.

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Die Entstehung einer neuen Welt.
kürzlich hereingebrochene Dekadenz, wie gemeiniglich behauptet wird,
als ein Rest römischer imperialer Kultur, betrachtet von der ungleich
höheren Stufe aus, auf der wir heute stehen und von Menschen, deren
Ideale durchwegs anders geartet sind. Wie prächtig blühte Italien auf,
den anderen Ländern voranleuchtend auf dem Wege zu einer neuen
Welt, als es noch in seiner Mitte zwar äusserlich latinisierte, doch
innerlich rein germanische Elemente enthielt! Viele Jahrhunderte
hindurch besass das schöne Land, welches im Imperium bereits bis
zur absoluten Sterilität herabgesunken war, eine reiche Quelle reinen
germanischen Blutes: die Kelten, die Langobarden, die Goten, die
Franken, die Normannen hatten fast das ganze Land überflutet und
blieben namentlich im Norden und im Süden lange Zeit beinahe un-
vermischt, teils weil sie als unkultivierte und kriegerische Männer eine
Kaste für sich bildeten, sodann aber, weil (wie schon früher bemerkt,
S. 499) die juristischen Rechte der "Römer" und der Germanen in
allen Volksschichten verschieden blieben bis ins 13. und 14. Jahr-
hundert, ja in der Lombardei bis über die Grenze des 15. hinaus, was
natürlich die Verschmelzung bedeutend erschwerte. "So lebten denn",
wie Savigny hervorhebt, "diese verschiedenen germanischen Stämme mit
dem Grundstock der Bevölkerung [nämlich mit den Überresten aus
dem römischen Völkerchaos] zwar örtlich vermischt, aber in Sitte und
Recht verschieden." Und hier, wo der unkultivierte Germane zum
erstenmal durch andauernden Kontakt mit einer höheren Bildung zum
Bewusstsein seiner selbst erwachte, hier fand auch manche Bewegung
für die Bildung einer neuen Welt den ersten vulkanisch-gewaltigen
Herd: Gelehrsamkeit und Industrie, die hartnäckige Behauptung bürger-
licher Rechte, die Frühblüte germanischer Kunst. Das nördliche Drittel
Italiens -- von Verona bis Siena -- gleicht in seiner partikularistischen
Entwickelung einem Deutschland, dessen Kaiser jenseits hoher Berge
gewohnt hätte. Überall waren deutsche Grafen an die Stelle der
römischen Provinzrektoren getreten, und immer nur flüchtig, stets
eilig weggerufen, weilte ein König im Lande, indes ein eifersüchtiger
Gegenkönig (der Papst) nahe und ewig intriguenlustig war: so konnte
sich jene urgermanische (und in einem gewissen Sinn überhaupt
charakteristisch indoeuropäische) Neigung zur Bildung autonomer Städte
in Norditalien frühzeitig entwickeln und die herrschende Macht im
Lande werden. Der äusserste Norden ging voran; doch bald folgte
Tuscien nach und benutzte den hundertjährigen Kampf zwischen Papst
und Kaiser, um das Erbe Mathildens allen beiden zu entreissen und

Die Entstehung einer neuen Welt.
kürzlich hereingebrochene Dekadenz, wie gemeiniglich behauptet wird,
als ein Rest römischer imperialer Kultur, betrachtet von der ungleich
höheren Stufe aus, auf der wir heute stehen und von Menschen, deren
Ideale durchwegs anders geartet sind. Wie prächtig blühte Italien auf,
den anderen Ländern voranleuchtend auf dem Wege zu einer neuen
Welt, als es noch in seiner Mitte zwar äusserlich latinisierte, doch
innerlich rein germanische Elemente enthielt! Viele Jahrhunderte
hindurch besass das schöne Land, welches im Imperium bereits bis
zur absoluten Sterilität herabgesunken war, eine reiche Quelle reinen
germanischen Blutes: die Kelten, die Langobarden, die Goten, die
Franken, die Normannen hatten fast das ganze Land überflutet und
blieben namentlich im Norden und im Süden lange Zeit beinahe un-
vermischt, teils weil sie als unkultivierte und kriegerische Männer eine
Kaste für sich bildeten, sodann aber, weil (wie schon früher bemerkt,
S. 499) die juristischen Rechte der »Römer« und der Germanen in
allen Volksschichten verschieden blieben bis ins 13. und 14. Jahr-
hundert, ja in der Lombardei bis über die Grenze des 15. hinaus, was
natürlich die Verschmelzung bedeutend erschwerte. »So lebten denn«,
wie Savigny hervorhebt, »diese verschiedenen germanischen Stämme mit
dem Grundstock der Bevölkerung [nämlich mit den Überresten aus
dem römischen Völkerchaos] zwar örtlich vermischt, aber in Sitte und
Recht verschieden.« Und hier, wo der unkultivierte Germane zum
erstenmal durch andauernden Kontakt mit einer höheren Bildung zum
Bewusstsein seiner selbst erwachte, hier fand auch manche Bewegung
für die Bildung einer neuen Welt den ersten vulkanisch-gewaltigen
Herd: Gelehrsamkeit und Industrie, die hartnäckige Behauptung bürger-
licher Rechte, die Frühblüte germanischer Kunst. Das nördliche Drittel
Italiens — von Verona bis Siena — gleicht in seiner partikularistischen
Entwickelung einem Deutschland, dessen Kaiser jenseits hoher Berge
gewohnt hätte. Überall waren deutsche Grafen an die Stelle der
römischen Provinzrektoren getreten, und immer nur flüchtig, stets
eilig weggerufen, weilte ein König im Lande, indes ein eifersüchtiger
Gegenkönig (der Papst) nahe und ewig intriguenlustig war: so konnte
sich jene urgermanische (und in einem gewissen Sinn überhaupt
charakteristisch indoeuropäische) Neigung zur Bildung autonomer Städte
in Norditalien frühzeitig entwickeln und die herrschende Macht im
Lande werden. Der äusserste Norden ging voran; doch bald folgte
Tuscien nach und benutzte den hundertjährigen Kampf zwischen Papst
und Kaiser, um das Erbe Mathildens allen beiden zu entreissen und

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[694/0173] Die Entstehung einer neuen Welt. kürzlich hereingebrochene Dekadenz, wie gemeiniglich behauptet wird, als ein Rest römischer imperialer Kultur, betrachtet von der ungleich höheren Stufe aus, auf der wir heute stehen und von Menschen, deren Ideale durchwegs anders geartet sind. Wie prächtig blühte Italien auf, den anderen Ländern voranleuchtend auf dem Wege zu einer neuen Welt, als es noch in seiner Mitte zwar äusserlich latinisierte, doch innerlich rein germanische Elemente enthielt! Viele Jahrhunderte hindurch besass das schöne Land, welches im Imperium bereits bis zur absoluten Sterilität herabgesunken war, eine reiche Quelle reinen germanischen Blutes: die Kelten, die Langobarden, die Goten, die Franken, die Normannen hatten fast das ganze Land überflutet und blieben namentlich im Norden und im Süden lange Zeit beinahe un- vermischt, teils weil sie als unkultivierte und kriegerische Männer eine Kaste für sich bildeten, sodann aber, weil (wie schon früher bemerkt, S. 499) die juristischen Rechte der »Römer« und der Germanen in allen Volksschichten verschieden blieben bis ins 13. und 14. Jahr- hundert, ja in der Lombardei bis über die Grenze des 15. hinaus, was natürlich die Verschmelzung bedeutend erschwerte. »So lebten denn«, wie Savigny hervorhebt, »diese verschiedenen germanischen Stämme mit dem Grundstock der Bevölkerung [nämlich mit den Überresten aus dem römischen Völkerchaos] zwar örtlich vermischt, aber in Sitte und Recht verschieden.« Und hier, wo der unkultivierte Germane zum erstenmal durch andauernden Kontakt mit einer höheren Bildung zum Bewusstsein seiner selbst erwachte, hier fand auch manche Bewegung für die Bildung einer neuen Welt den ersten vulkanisch-gewaltigen Herd: Gelehrsamkeit und Industrie, die hartnäckige Behauptung bürger- licher Rechte, die Frühblüte germanischer Kunst. Das nördliche Drittel Italiens — von Verona bis Siena — gleicht in seiner partikularistischen Entwickelung einem Deutschland, dessen Kaiser jenseits hoher Berge gewohnt hätte. Überall waren deutsche Grafen an die Stelle der römischen Provinzrektoren getreten, und immer nur flüchtig, stets eilig weggerufen, weilte ein König im Lande, indes ein eifersüchtiger Gegenkönig (der Papst) nahe und ewig intriguenlustig war: so konnte sich jene urgermanische (und in einem gewissen Sinn überhaupt charakteristisch indoeuropäische) Neigung zur Bildung autonomer Städte in Norditalien frühzeitig entwickeln und die herrschende Macht im Lande werden. Der äusserste Norden ging voran; doch bald folgte Tuscien nach und benutzte den hundertjährigen Kampf zwischen Papst und Kaiser, um das Erbe Mathildens allen beiden zu entreissen und

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Zitationshilfe: Chamberlain, Houston Stewart: Die Grundlagen des Neunzehnten Jahrhunderts. Bd. 2. München 1899, S. 694. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/chamberlain_grundlagen02_1899/173>, abgerufen am 29.03.2024.