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Chamberlain, Houston Stewart: Die Grundlagen des Neunzehnten Jahrhunderts. Bd. 2. München 1899.

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Die Germanen als Schöpfer einer neuen Kultur.
Kraft versiegt ist? Und was heisst das, wenn ein Giacomo Leo-
pardi seine Landsleute eine "entartete Rasse" nennt, und ihnen zu-
gleich "das Beispiel ihrer Ahnen" vor Augen hält.1) Die Ahnen der
überwiegenden Mehrzahl der heutigen Italiener sind weder die wuchtigen
Römer des alten Rom, jene Muster von schlichter Männlichkeit, un-
bändiger Unabhängigkeit und streng rechtlichem Sinne, noch die Halb-
götter an Kraft, Schönheit und Genie, welche am Morgen unseres
neuen Tages gleichsam in einem einzigen Schwarm, wie Lerchen zum
Sonnengruss, vom lichtgeküssten Boden Italiens in den Himmel der
Unsterblichkeit hinaufflogen; sondern ihr Stammbaum führt auf die
ungezählten Tausende der freigelassenen Sklaven aus Afrika und Asien,
auf den Mischmasch der verschiedenen italienischen Völker, auf die
überall mitten unter diesen angesiedelten Soldatenkolonien aus aller
Herren Länder, kurz, auf das von dem Imperium so kunstreich her-
gestellte Völkerchaos. Und die heutige Gesamtlage des Landes be-
deutet ganz einfach einen Sieg dieses Völkerchaos über das inzwischen
hinzugekommene und lange Zeit hindurch rein erhaltene germanische
Element. Daher aber auch die Erfahrung, dass Italien -- vor drei
Jahrhunderten eine Leuchte der Civilisation und Kultur -- nunmehr
zu den Nachhinkenden gehört, zu denen, welche das Gleichgewicht
verloren haben und es nicht wieder gewinnen können. Denn zwei
Kulturen können nicht als gleichberechtigt nebeneinander bestehen,
das ist unmöglich: die hellenische Kultur vermochte es nicht, unter
römischem Einfluss fortzuleben, die römische Kultur schwand, als die
ägyptosyrische sich in ihrer Mitte breit machte; nur wo der Kontakt
ein rein äusserlicher ist, wie zwischen Europa und der Türkei, oder
a fortiori zwischen Europa und China, kann Berührung ohne merk-
liche Beeinflussung stattfinden, und auch hier muss mit der Zeit das
Eine das Andere umbringen. Nun gehören aber solche Länder wie
Italien -- ich könnte gleich Spanien hinzufügen -- auf das engste zu
uns Nordländern: in den Grossthaten ihrer Vergangenheit bewährt
sich die frühere Blutsverwandtschaft; unserem Einfluss, unserer ungleich
grösseren Kraft können sie sich unmöglich entziehen; was sie uns aber
heute nachahmen, entspringt nicht ihrem eigenen Bedürfnis, entwächst
nicht einer inneren, sondern einer äusseren Not; sowohl ihre Ge-
schichte, welche ihnen Ahnen vorspiegelt, von denen sie nicht ab-
stammen, wie auch unser Beispiel, führt sie also auf falsche Wege

1) Vergl. die beiden Gedichte: All' Italia und Sopra il monumento di Dante.
45 *

Die Germanen als Schöpfer einer neuen Kultur.
Kraft versiegt ist? Und was heisst das, wenn ein Giacomo Leo-
pardi seine Landsleute eine »entartete Rasse« nennt, und ihnen zu-
gleich »das Beispiel ihrer Ahnen« vor Augen hält.1) Die Ahnen der
überwiegenden Mehrzahl der heutigen Italiener sind weder die wuchtigen
Römer des alten Rom, jene Muster von schlichter Männlichkeit, un-
bändiger Unabhängigkeit und streng rechtlichem Sinne, noch die Halb-
götter an Kraft, Schönheit und Genie, welche am Morgen unseres
neuen Tages gleichsam in einem einzigen Schwarm, wie Lerchen zum
Sonnengruss, vom lichtgeküssten Boden Italiens in den Himmel der
Unsterblichkeit hinaufflogen; sondern ihr Stammbaum führt auf die
ungezählten Tausende der freigelassenen Sklaven aus Afrika und Asien,
auf den Mischmasch der verschiedenen italienischen Völker, auf die
überall mitten unter diesen angesiedelten Soldatenkolonien aus aller
Herren Länder, kurz, auf das von dem Imperium so kunstreich her-
gestellte Völkerchaos. Und die heutige Gesamtlage des Landes be-
deutet ganz einfach einen Sieg dieses Völkerchaos über das inzwischen
hinzugekommene und lange Zeit hindurch rein erhaltene germanische
Element. Daher aber auch die Erfahrung, dass Italien — vor drei
Jahrhunderten eine Leuchte der Civilisation und Kultur — nunmehr
zu den Nachhinkenden gehört, zu denen, welche das Gleichgewicht
verloren haben und es nicht wieder gewinnen können. Denn zwei
Kulturen können nicht als gleichberechtigt nebeneinander bestehen,
das ist unmöglich: die hellenische Kultur vermochte es nicht, unter
römischem Einfluss fortzuleben, die römische Kultur schwand, als die
ägyptosyrische sich in ihrer Mitte breit machte; nur wo der Kontakt
ein rein äusserlicher ist, wie zwischen Europa und der Türkei, oder
a fortiori zwischen Europa und China, kann Berührung ohne merk-
liche Beeinflussung stattfinden, und auch hier muss mit der Zeit das
Eine das Andere umbringen. Nun gehören aber solche Länder wie
Italien — ich könnte gleich Spanien hinzufügen — auf das engste zu
uns Nordländern: in den Grossthaten ihrer Vergangenheit bewährt
sich die frühere Blutsverwandtschaft; unserem Einfluss, unserer ungleich
grösseren Kraft können sie sich unmöglich entziehen; was sie uns aber
heute nachahmen, entspringt nicht ihrem eigenen Bedürfnis, entwächst
nicht einer inneren, sondern einer äusseren Not; sowohl ihre Ge-
schichte, welche ihnen Ahnen vorspiegelt, von denen sie nicht ab-
stammen, wie auch unser Beispiel, führt sie also auf falsche Wege

1) Vergl. die beiden Gedichte: All’ Italia und Sopra il monumento di Dante.
45 *
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[699/0178] Die Germanen als Schöpfer einer neuen Kultur. Kraft versiegt ist? Und was heisst das, wenn ein Giacomo Leo- pardi seine Landsleute eine »entartete Rasse« nennt, und ihnen zu- gleich »das Beispiel ihrer Ahnen« vor Augen hält. 1) Die Ahnen der überwiegenden Mehrzahl der heutigen Italiener sind weder die wuchtigen Römer des alten Rom, jene Muster von schlichter Männlichkeit, un- bändiger Unabhängigkeit und streng rechtlichem Sinne, noch die Halb- götter an Kraft, Schönheit und Genie, welche am Morgen unseres neuen Tages gleichsam in einem einzigen Schwarm, wie Lerchen zum Sonnengruss, vom lichtgeküssten Boden Italiens in den Himmel der Unsterblichkeit hinaufflogen; sondern ihr Stammbaum führt auf die ungezählten Tausende der freigelassenen Sklaven aus Afrika und Asien, auf den Mischmasch der verschiedenen italienischen Völker, auf die überall mitten unter diesen angesiedelten Soldatenkolonien aus aller Herren Länder, kurz, auf das von dem Imperium so kunstreich her- gestellte Völkerchaos. Und die heutige Gesamtlage des Landes be- deutet ganz einfach einen Sieg dieses Völkerchaos über das inzwischen hinzugekommene und lange Zeit hindurch rein erhaltene germanische Element. Daher aber auch die Erfahrung, dass Italien — vor drei Jahrhunderten eine Leuchte der Civilisation und Kultur — nunmehr zu den Nachhinkenden gehört, zu denen, welche das Gleichgewicht verloren haben und es nicht wieder gewinnen können. Denn zwei Kulturen können nicht als gleichberechtigt nebeneinander bestehen, das ist unmöglich: die hellenische Kultur vermochte es nicht, unter römischem Einfluss fortzuleben, die römische Kultur schwand, als die ägyptosyrische sich in ihrer Mitte breit machte; nur wo der Kontakt ein rein äusserlicher ist, wie zwischen Europa und der Türkei, oder a fortiori zwischen Europa und China, kann Berührung ohne merk- liche Beeinflussung stattfinden, und auch hier muss mit der Zeit das Eine das Andere umbringen. Nun gehören aber solche Länder wie Italien — ich könnte gleich Spanien hinzufügen — auf das engste zu uns Nordländern: in den Grossthaten ihrer Vergangenheit bewährt sich die frühere Blutsverwandtschaft; unserem Einfluss, unserer ungleich grösseren Kraft können sie sich unmöglich entziehen; was sie uns aber heute nachahmen, entspringt nicht ihrem eigenen Bedürfnis, entwächst nicht einer inneren, sondern einer äusseren Not; sowohl ihre Ge- schichte, welche ihnen Ahnen vorspiegelt, von denen sie nicht ab- stammen, wie auch unser Beispiel, führt sie also auf falsche Wege 1) Vergl. die beiden Gedichte: All’ Italia und Sopra il monumento di Dante. 45 *

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Zitationshilfe: Chamberlain, Houston Stewart: Die Grundlagen des Neunzehnten Jahrhunderts. Bd. 2. München 1899, S. 699. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/chamberlain_grundlagen02_1899/178>, abgerufen am 26.04.2024.