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Chamberlain, Houston Stewart: Die Grundlagen des Neunzehnten Jahrhunderts. Bd. 2. München 1899.

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Die Entstehung einer neuen Welt.
deren Eigensinn des theoretisierenden Verstandesmenschen in hohem
Grade besass), an, das Brennen bestehe in dem Entweichen des Phlo-
gistons u. s. w. Als darum Priestley und Scheele den Sauerstoff aus
gewissen Verbindungen endlich herausgelöst hatten, glaubten sie fest,
das berühmte Phlogiston, auf das man seit Stahl's Zeit fahndete, in
Händen zu halten. Doch bald zeigte Lavoisier, dass das gefundene
Element, weit entfernt, die Eigenschaften des hypothetischen Phlo-
gistons zu besitzen, genau entgegengesetzte aufweise! Der nunmehr
entdeckte, der Beobachtung zugänglich gewordene Sauerstoff war eben
etwas gänzlich Anderes, als was die menschliche Phantasie in ihrer
Not sich vorgestellt hatte. Ohne die Phantasie kann der Mensch keine
Verbindung zwischen den Phänomenen, keine Theorie, keine Wissen-
schaft herstellen, jedoch immer wieder erweist sich die menschliche
Phantasie der Natur gegenüber als unzulänglich und andersgeartet,
der Korrektur durch empirische Beobachtung bedürftig. Darum ist
auch alle Theorie ein ewiges Provisorium und Wissenschaft hört auf,
sobald Dogmatik die Führung übernimmt.

Die Geschichte unserer Wissenschaft ist die Geschichte solcher
Phlogistons. Die Philologie hat ihre "Arier", ohne welche ihre gross-
artigen Leistungen in unserem Jahrhundert undenkbar gewesen wären.1)
Goethe's Lehren von der Metamorphose im Pflanzenreiche und von
den Homologien zwischen den Schädel- und den Wirbelknochen
haben einen ungeheuer fördernden Einfluss auf die Vermehrung und
auf die Ordnung des Wissens ausgeübt, doch hatte Schiller vollkommen
Recht, als er den Kopf schüttelte und sagte: "Das ist keine Erfahrung,
(und er hätte hinzufügen können, auch keine Theorie), das ist eine
Idee!"2) Und ebenso Recht hatte Schiller, als er hinzufügte: "Ihr
Geist wirkt in einem ausserordentlichen Grade intuitiv, und alle Ihre
denkenden Kräfte scheinen auf die Imagination, als ihre gemein-
schaftliche Repräsentantin, gleichsam kompromittiert zu haben."3) "Die

1) Vergl. S. 268 u. s. w.
2) Goethe: Tag- und Jahreshefte, 1794. Übrigens hat Goethe das selber
später anerkannt und ist auch für die Schattenseiten seiner "Idee" durchaus nicht
blind geblieben. In dem "supplementaren Teil" der Nachträge zur Farbenlehre, unter
der Rubrik Probleme, findet man folgenden Ausspruch: "Die Idee der Metamorphose
ist eine höchst ehrwürdige, aber zugleich höchst gefährliche Gabe von oben. Sie
führt ins Formlose, zerstört das Wissen, löst es auf."
3) Brief an Goethe vom 31. August 1794. Schiller setzt hinzu: "Im Grund
ist dies das Höchste, was der Mensch aus sich machen kann, sobald es ihm gelingt,
seine Anschauung zu generalisieren und seine Empfindung gesetzgebend zu machen".

Die Entstehung einer neuen Welt.
deren Eigensinn des theoretisierenden Verstandesmenschen in hohem
Grade besass), an, das Brennen bestehe in dem Entweichen des Phlo-
gistons u. s. w. Als darum Priestley und Scheele den Sauerstoff aus
gewissen Verbindungen endlich herausgelöst hatten, glaubten sie fest,
das berühmte Phlogiston, auf das man seit Stahl’s Zeit fahndete, in
Händen zu halten. Doch bald zeigte Lavoisier, dass das gefundene
Element, weit entfernt, die Eigenschaften des hypothetischen Phlo-
gistons zu besitzen, genau entgegengesetzte aufweise! Der nunmehr
entdeckte, der Beobachtung zugänglich gewordene Sauerstoff war eben
etwas gänzlich Anderes, als was die menschliche Phantasie in ihrer
Not sich vorgestellt hatte. Ohne die Phantasie kann der Mensch keine
Verbindung zwischen den Phänomenen, keine Theorie, keine Wissen-
schaft herstellen, jedoch immer wieder erweist sich die menschliche
Phantasie der Natur gegenüber als unzulänglich und andersgeartet,
der Korrektur durch empirische Beobachtung bedürftig. Darum ist
auch alle Theorie ein ewiges Provisorium und Wissenschaft hört auf,
sobald Dogmatik die Führung übernimmt.

Die Geschichte unserer Wissenschaft ist die Geschichte solcher
Phlogistons. Die Philologie hat ihre »Arier«, ohne welche ihre gross-
artigen Leistungen in unserem Jahrhundert undenkbar gewesen wären.1)
Goethe’s Lehren von der Metamorphose im Pflanzenreiche und von
den Homologien zwischen den Schädel- und den Wirbelknochen
haben einen ungeheuer fördernden Einfluss auf die Vermehrung und
auf die Ordnung des Wissens ausgeübt, doch hatte Schiller vollkommen
Recht, als er den Kopf schüttelte und sagte: »Das ist keine Erfahrung,
(und er hätte hinzufügen können, auch keine Theorie), das ist eine
Idee!«2) Und ebenso Recht hatte Schiller, als er hinzufügte: »Ihr
Geist wirkt in einem ausserordentlichen Grade intuitiv, und alle Ihre
denkenden Kräfte scheinen auf die Imagination, als ihre gemein-
schaftliche Repräsentantin, gleichsam kompromittiert zu haben.«3) »Die

1) Vergl. S. 268 u. s. w.
2) Goethe: Tag- und Jahreshefte, 1794. Übrigens hat Goethe das selber
später anerkannt und ist auch für die Schattenseiten seiner »Idee« durchaus nicht
blind geblieben. In dem »supplementaren Teil« der Nachträge zur Farbenlehre, unter
der Rubrik Probleme, findet man folgenden Ausspruch: »Die Idee der Metamorphose
ist eine höchst ehrwürdige, aber zugleich höchst gefährliche Gabe von oben. Sie
führt ins Formlose, zerstört das Wissen, löst es auf.«
3) Brief an Goethe vom 31. August 1794. Schiller setzt hinzu: »Im Grund
ist dies das Höchste, was der Mensch aus sich machen kann, sobald es ihm gelingt,
seine Anschauung zu generalisieren und seine Empfindung gesetzgebend zu machen«.
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[804/0283] Die Entstehung einer neuen Welt. deren Eigensinn des theoretisierenden Verstandesmenschen in hohem Grade besass), an, das Brennen bestehe in dem Entweichen des Phlo- gistons u. s. w. Als darum Priestley und Scheele den Sauerstoff aus gewissen Verbindungen endlich herausgelöst hatten, glaubten sie fest, das berühmte Phlogiston, auf das man seit Stahl’s Zeit fahndete, in Händen zu halten. Doch bald zeigte Lavoisier, dass das gefundene Element, weit entfernt, die Eigenschaften des hypothetischen Phlo- gistons zu besitzen, genau entgegengesetzte aufweise! Der nunmehr entdeckte, der Beobachtung zugänglich gewordene Sauerstoff war eben etwas gänzlich Anderes, als was die menschliche Phantasie in ihrer Not sich vorgestellt hatte. Ohne die Phantasie kann der Mensch keine Verbindung zwischen den Phänomenen, keine Theorie, keine Wissen- schaft herstellen, jedoch immer wieder erweist sich die menschliche Phantasie der Natur gegenüber als unzulänglich und andersgeartet, der Korrektur durch empirische Beobachtung bedürftig. Darum ist auch alle Theorie ein ewiges Provisorium und Wissenschaft hört auf, sobald Dogmatik die Führung übernimmt. Die Geschichte unserer Wissenschaft ist die Geschichte solcher Phlogistons. Die Philologie hat ihre »Arier«, ohne welche ihre gross- artigen Leistungen in unserem Jahrhundert undenkbar gewesen wären. 1) Goethe’s Lehren von der Metamorphose im Pflanzenreiche und von den Homologien zwischen den Schädel- und den Wirbelknochen haben einen ungeheuer fördernden Einfluss auf die Vermehrung und auf die Ordnung des Wissens ausgeübt, doch hatte Schiller vollkommen Recht, als er den Kopf schüttelte und sagte: »Das ist keine Erfahrung, (und er hätte hinzufügen können, auch keine Theorie), das ist eine Idee!« 2) Und ebenso Recht hatte Schiller, als er hinzufügte: »Ihr Geist wirkt in einem ausserordentlichen Grade intuitiv, und alle Ihre denkenden Kräfte scheinen auf die Imagination, als ihre gemein- schaftliche Repräsentantin, gleichsam kompromittiert zu haben.« 3) »Die 1) Vergl. S. 268 u. s. w. 2) Goethe: Tag- und Jahreshefte, 1794. Übrigens hat Goethe das selber später anerkannt und ist auch für die Schattenseiten seiner »Idee« durchaus nicht blind geblieben. In dem »supplementaren Teil« der Nachträge zur Farbenlehre, unter der Rubrik Probleme, findet man folgenden Ausspruch: »Die Idee der Metamorphose ist eine höchst ehrwürdige, aber zugleich höchst gefährliche Gabe von oben. Sie führt ins Formlose, zerstört das Wissen, löst es auf.« 3) Brief an Goethe vom 31. August 1794. Schiller setzt hinzu: »Im Grund ist dies das Höchste, was der Mensch aus sich machen kann, sobald es ihm gelingt, seine Anschauung zu generalisieren und seine Empfindung gesetzgebend zu machen«.

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Zitationshilfe: Chamberlain, Houston Stewart: Die Grundlagen des Neunzehnten Jahrhunderts. Bd. 2. München 1899, S. 804. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/chamberlain_grundlagen02_1899/283>, abgerufen am 27.04.2024.