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Chamberlain, Houston Stewart: Die Grundlagen des Neunzehnten Jahrhunderts. Bd. 2. München 1899.

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Industrie.
stirbt, indem er Eier legt, so dass die Geschichte von Neuem an-
heben kann.

O weh! hinweg! und lasst mir jene Streite
Von Tyrannei und Sklaverei bei Seite!
Mich langeweilt's: denn kaum ist's abgethan,
So fangen sie von vorne wieder an.

Und was hier von der Politik gezeigt wird, gilt genau im selben
Masse von dem gesamten gewerblichen und wirtschaftlichen Leben.
Einer der fleissigsten heutigen Bearbeiter dieses weiten Gebietes, Dr.
Cunningham, macht wiederholt darauf aufmerksam, wie schwer es für
uns sei -- er nennt es an einer Stelle "hoffnungslos"1) -- die ökono-
mischen Zustände vergangener Jahrhunderte und namentlich die dies-
bezüglichen Vorstellungen, wie sie unseren Ahnen vorschwebten und
ihre Handlungen und gesetzlichen Massregeln bestimmten, wirklich zu
verstehen. Civilisation, das blosse Gewand des Menschen, ist eben
ein so durchaus vergängliches Ding, dass es spurlos dahin schwindet;
wenn auch die Töpfe und Ohrgehänge und dergleichen mehr als
Zierde unserer Museen, und allerhand Kontrakte und Wechselbriefe
und Diplome in dem Staube unserer Archive aufbewahrt bleiben, das
Lebendige daran ist dahin und kehrt nicht wieder. Wer sich mit
dem Studium dieser Verhältnisse nie abgegeben hat, ahnt auch nicht,
wie schnell ein Zustand den andern verdrängt. Wir hören von einem
Mittelalter reden und glauben, das sei eine grosse einheitliche tausend-
jährige Epoche, zwar durch Kriege in ewiger Gährung gehalten, doch
ziemlich stabil, was Ideen und soziale Zustände betrifft; dann sei die
Renaissance gekommen und daraus habe sich nach und nach der heutige
Tag entwickelt: dagegen hat es in Wirklichkeit seit dem Augenblick,
wo der Germane die Weltbühne betrat und namentlich seit jenem,
wo er in Europa der massgebende Faktor geworden war, nie einen
Moment Ruhe auf wirtschaftlichem Gebiete gegeben; jedes Jahrhundert
zeigt ein eigenes Gesicht und es kommt manchmal vor -- z. B.
zwischen dem 13. und dem 14. Jahrhundert -- dass ein einziges
Säculum noch tiefer greifende Umwälzungen der ökonomischen Zu-
stände aufweist, als diejenigen, welche das Ende des 19. vom Ende
des 18. Jahrhunderts wie durch eine gähnende Kluft scheiden. Ich
hatte einmal Gelegenheit, mich mit dem Leben in jenem herrlichen

1) The growth of English industry and commerce during the early and middle
Ages,
3d ed., p. 97.
52*

Industrie.
stirbt, indem er Eier legt, so dass die Geschichte von Neuem an-
heben kann.

O weh! hinweg! und lasst mir jene Streite
Von Tyrannei und Sklaverei bei Seite!
Mich langeweilt’s: denn kaum ist’s abgethan,
So fangen sie von vorne wieder an.

Und was hier von der Politik gezeigt wird, gilt genau im selben
Masse von dem gesamten gewerblichen und wirtschaftlichen Leben.
Einer der fleissigsten heutigen Bearbeiter dieses weiten Gebietes, Dr.
Cunningham, macht wiederholt darauf aufmerksam, wie schwer es für
uns sei — er nennt es an einer Stelle »hoffnungslos«1) — die ökono-
mischen Zustände vergangener Jahrhunderte und namentlich die dies-
bezüglichen Vorstellungen, wie sie unseren Ahnen vorschwebten und
ihre Handlungen und gesetzlichen Massregeln bestimmten, wirklich zu
verstehen. Civilisation, das blosse Gewand des Menschen, ist eben
ein so durchaus vergängliches Ding, dass es spurlos dahin schwindet;
wenn auch die Töpfe und Ohrgehänge und dergleichen mehr als
Zierde unserer Museen, und allerhand Kontrakte und Wechselbriefe
und Diplome in dem Staube unserer Archive aufbewahrt bleiben, das
Lebendige daran ist dahin und kehrt nicht wieder. Wer sich mit
dem Studium dieser Verhältnisse nie abgegeben hat, ahnt auch nicht,
wie schnell ein Zustand den andern verdrängt. Wir hören von einem
Mittelalter reden und glauben, das sei eine grosse einheitliche tausend-
jährige Epoche, zwar durch Kriege in ewiger Gährung gehalten, doch
ziemlich stabil, was Ideen und soziale Zustände betrifft; dann sei die
Renaissance gekommen und daraus habe sich nach und nach der heutige
Tag entwickelt: dagegen hat es in Wirklichkeit seit dem Augenblick,
wo der Germane die Weltbühne betrat und namentlich seit jenem,
wo er in Europa der massgebende Faktor geworden war, nie einen
Moment Ruhe auf wirtschaftlichem Gebiete gegeben; jedes Jahrhundert
zeigt ein eigenes Gesicht und es kommt manchmal vor — z. B.
zwischen dem 13. und dem 14. Jahrhundert — dass ein einziges
Säculum noch tiefer greifende Umwälzungen der ökonomischen Zu-
stände aufweist, als diejenigen, welche das Ende des 19. vom Ende
des 18. Jahrhunderts wie durch eine gähnende Kluft scheiden. Ich
hatte einmal Gelegenheit, mich mit dem Leben in jenem herrlichen

1) The growth of English industry and commerce during the early and middle
Ages,
3d ed., p. 97.
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[811/0290] Industrie. stirbt, indem er Eier legt, so dass die Geschichte von Neuem an- heben kann. O weh! hinweg! und lasst mir jene Streite Von Tyrannei und Sklaverei bei Seite! Mich langeweilt’s: denn kaum ist’s abgethan, So fangen sie von vorne wieder an. Und was hier von der Politik gezeigt wird, gilt genau im selben Masse von dem gesamten gewerblichen und wirtschaftlichen Leben. Einer der fleissigsten heutigen Bearbeiter dieses weiten Gebietes, Dr. Cunningham, macht wiederholt darauf aufmerksam, wie schwer es für uns sei — er nennt es an einer Stelle »hoffnungslos« 1) — die ökono- mischen Zustände vergangener Jahrhunderte und namentlich die dies- bezüglichen Vorstellungen, wie sie unseren Ahnen vorschwebten und ihre Handlungen und gesetzlichen Massregeln bestimmten, wirklich zu verstehen. Civilisation, das blosse Gewand des Menschen, ist eben ein so durchaus vergängliches Ding, dass es spurlos dahin schwindet; wenn auch die Töpfe und Ohrgehänge und dergleichen mehr als Zierde unserer Museen, und allerhand Kontrakte und Wechselbriefe und Diplome in dem Staube unserer Archive aufbewahrt bleiben, das Lebendige daran ist dahin und kehrt nicht wieder. Wer sich mit dem Studium dieser Verhältnisse nie abgegeben hat, ahnt auch nicht, wie schnell ein Zustand den andern verdrängt. Wir hören von einem Mittelalter reden und glauben, das sei eine grosse einheitliche tausend- jährige Epoche, zwar durch Kriege in ewiger Gährung gehalten, doch ziemlich stabil, was Ideen und soziale Zustände betrifft; dann sei die Renaissance gekommen und daraus habe sich nach und nach der heutige Tag entwickelt: dagegen hat es in Wirklichkeit seit dem Augenblick, wo der Germane die Weltbühne betrat und namentlich seit jenem, wo er in Europa der massgebende Faktor geworden war, nie einen Moment Ruhe auf wirtschaftlichem Gebiete gegeben; jedes Jahrhundert zeigt ein eigenes Gesicht und es kommt manchmal vor — z. B. zwischen dem 13. und dem 14. Jahrhundert — dass ein einziges Säculum noch tiefer greifende Umwälzungen der ökonomischen Zu- stände aufweist, als diejenigen, welche das Ende des 19. vom Ende des 18. Jahrhunderts wie durch eine gähnende Kluft scheiden. Ich hatte einmal Gelegenheit, mich mit dem Leben in jenem herrlichen 1) The growth of English industry and commerce during the early and middle Ages, 3d ed., p. 97. 52*

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Zitationshilfe: Chamberlain, Houston Stewart: Die Grundlagen des Neunzehnten Jahrhunderts. Bd. 2. München 1899, S. 811. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/chamberlain_grundlagen02_1899/290>, abgerufen am 28.04.2024.