Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Chamberlain, Houston Stewart: Die Grundlagen des Neunzehnten Jahrhunderts. Bd. 2. München 1899.

Bild:
<< vorherige Seite

Die Entstehung einer neuen Welt.
die geringste Sehnsucht nach geistigen Thaten gekannt hätten, um
diese herrliche Waffe des Geistes zu einer Macht auszubilden. Und was
haben sie in diesem Zeitraum -- der eine grössere Frist umspannt als
von Gutenberg bis heute -- damit geleistet? Nichts, rein gar nichts.
Nur Schuldscheine haben sie darauf anzubringen gewusst, und ausser-
dem etliche hundert öde, langweilige, geisttötende Bücher: die Er-
findung des Iraniers zur Verballhornung der Gedanken des Hellenen in
erlogener Gelehrsamkeit dienend! -- Doch nun folgte die dritte Etappe.
Im Verlauf der Kreuzzüge wurde das mit so viel Geistesarmut gehütete
Manufakturgeheimnis gelüftet; was der arme Iranier, zwischen Semiten,
Tataren und Chinesen eingekeilt, erfunden, das übernahm jetzt der
freie Germane. In den letzten Jahren des 12. Jahrhunderts gelangte
die genaue Kunde, wie Papier zu bereiten sei, nach Europa; wie ein
Lauffeuer verbreitete sich das neue Gewerbe durch alle Länder; in
wenigen Jahren genügten schon die einfachen Geräte des Orients nicht
mehr; eine Verbesserung folgte der anderen; im Jahre 1290 stand
schon die erste regelrechte Papiermühle (in Ravensburg); kaum hundert
Jahre dauerte es, bis der Holzdruck (auch ganzer Bücher) sich ein-
gebürgert hatte, und in weiteren fünfzig Jahren war der Buchdruck
mit beweglichen Typen schon im Gang. Und glaubt man wirklich,
dieser Buchdruck habe erst unseren Geist "beflügelt"? Welcher Hohn
auf die Thatsachen der Geschichte! welche Verkennung des hohen
Wertes germanischer Eigenart! Wir sehen doch, dass ganz im Gegen-
teil der beflügelte Geist es war, der die Erfindung des Buchdruckes
geradezu erzwungen hat. Während die Chinesen es niemals über den
schwerfälligen Holztafeldruck hinausbrachten (und dies erst nach viel-
leicht tausendjährigem Herumtappen), während die semitischen Völker
das Papier so gut wie unbenutzt hatten liegen lassen, war im ganzen
germanischen Europa und namentlich in seinem Mittelpunkt, Deutsch-
land, "die Massenherstellung wohlfeiler Papierhandschriften" sofort ein
Gewerbe geworden.1) Selbst Janssen meldet, dass man in Deutschland,
lange ehe der Druck mit gegossenen Lettern begonnen hatte, zu billigen
Preisen die bedeutendsten Erzeugnisse mittelhochdeutscher Poesie, Volks-
bücher, Sagen, volkstümlich-medizinische Schriften u. s. w. feilgeboten-
habe.2) Und was Herr Janssen verschweigt, ist, dass schon vom 13. Jahr-
hundert ab das Papier die Bibel, namentlich das neue Testament, durch

1) Vogt und Koch: Geschichte der deutschen Litteratur, 1897, S. 218. Ein-
gehenderes in jedem grösseren Geschichtswerke.
2) A. a. O., I, 17.

Die Entstehung einer neuen Welt.
die geringste Sehnsucht nach geistigen Thaten gekannt hätten, um
diese herrliche Waffe des Geistes zu einer Macht auszubilden. Und was
haben sie in diesem Zeitraum — der eine grössere Frist umspannt als
von Gutenberg bis heute — damit geleistet? Nichts, rein gar nichts.
Nur Schuldscheine haben sie darauf anzubringen gewusst, und ausser-
dem etliche hundert öde, langweilige, geisttötende Bücher: die Er-
findung des Iraniers zur Verballhornung der Gedanken des Hellenen in
erlogener Gelehrsamkeit dienend! — Doch nun folgte die dritte Etappe.
Im Verlauf der Kreuzzüge wurde das mit so viel Geistesarmut gehütete
Manufakturgeheimnis gelüftet; was der arme Iranier, zwischen Semiten,
Tataren und Chinesen eingekeilt, erfunden, das übernahm jetzt der
freie Germane. In den letzten Jahren des 12. Jahrhunderts gelangte
die genaue Kunde, wie Papier zu bereiten sei, nach Europa; wie ein
Lauffeuer verbreitete sich das neue Gewerbe durch alle Länder; in
wenigen Jahren genügten schon die einfachen Geräte des Orients nicht
mehr; eine Verbesserung folgte der anderen; im Jahre 1290 stand
schon die erste regelrechte Papiermühle (in Ravensburg); kaum hundert
Jahre dauerte es, bis der Holzdruck (auch ganzer Bücher) sich ein-
gebürgert hatte, und in weiteren fünfzig Jahren war der Buchdruck
mit beweglichen Typen schon im Gang. Und glaubt man wirklich,
dieser Buchdruck habe erst unseren Geist »beflügelt«? Welcher Hohn
auf die Thatsachen der Geschichte! welche Verkennung des hohen
Wertes germanischer Eigenart! Wir sehen doch, dass ganz im Gegen-
teil der beflügelte Geist es war, der die Erfindung des Buchdruckes
geradezu erzwungen hat. Während die Chinesen es niemals über den
schwerfälligen Holztafeldruck hinausbrachten (und dies erst nach viel-
leicht tausendjährigem Herumtappen), während die semitischen Völker
das Papier so gut wie unbenutzt hatten liegen lassen, war im ganzen
germanischen Europa und namentlich in seinem Mittelpunkt, Deutsch-
land, »die Massenherstellung wohlfeiler Papierhandschriften« sofort ein
Gewerbe geworden.1) Selbst Janssen meldet, dass man in Deutschland,
lange ehe der Druck mit gegossenen Lettern begonnen hatte, zu billigen
Preisen die bedeutendsten Erzeugnisse mittelhochdeutscher Poesie, Volks-
bücher, Sagen, volkstümlich-medizinische Schriften u. s. w. feilgeboten-
habe.2) Und was Herr Janssen verschweigt, ist, dass schon vom 13. Jahr-
hundert ab das Papier die Bibel, namentlich das neue Testament, durch

1) Vogt und Koch: Geschichte der deutschen Litteratur, 1897, S. 218. Ein-
gehenderes in jedem grösseren Geschichtswerke.
2) A. a. O., I, 17.
<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <div n="3">
            <div n="4">
              <p><pb facs="#f0297" n="818"/><fw place="top" type="header">Die Entstehung einer neuen Welt.</fw><lb/>
die geringste Sehnsucht nach geistigen Thaten gekannt hätten, um<lb/>
diese herrliche Waffe des Geistes zu einer Macht auszubilden. Und was<lb/>
haben sie in diesem Zeitraum &#x2014; der eine grössere Frist umspannt als<lb/>
von Gutenberg bis heute &#x2014; damit geleistet? Nichts, rein gar nichts.<lb/>
Nur Schuldscheine haben sie darauf anzubringen gewusst, und ausser-<lb/>
dem etliche hundert öde, langweilige, geisttötende Bücher: die Er-<lb/>
findung des Iraniers zur Verballhornung der Gedanken des Hellenen in<lb/>
erlogener Gelehrsamkeit dienend! &#x2014; Doch nun folgte die dritte Etappe.<lb/>
Im Verlauf der Kreuzzüge wurde das mit so viel Geistesarmut gehütete<lb/>
Manufakturgeheimnis gelüftet; was der arme Iranier, zwischen Semiten,<lb/>
Tataren und Chinesen eingekeilt, erfunden, das übernahm jetzt der<lb/>
freie Germane. In den letzten Jahren des 12. Jahrhunderts gelangte<lb/>
die genaue Kunde, wie Papier zu bereiten sei, nach Europa; wie ein<lb/>
Lauffeuer verbreitete sich das neue Gewerbe durch alle Länder; in<lb/>
wenigen Jahren genügten schon die einfachen Geräte des Orients nicht<lb/>
mehr; eine Verbesserung folgte der anderen; im Jahre 1290 stand<lb/>
schon die erste regelrechte Papiermühle (in Ravensburg); kaum hundert<lb/>
Jahre dauerte es, bis der Holzdruck (auch ganzer Bücher) sich ein-<lb/>
gebürgert hatte, und in weiteren fünfzig Jahren war der Buchdruck<lb/>
mit beweglichen Typen schon im Gang. Und glaubt man wirklich,<lb/>
dieser Buchdruck habe erst unseren Geist »beflügelt«? Welcher Hohn<lb/>
auf die Thatsachen der Geschichte! welche Verkennung des hohen<lb/>
Wertes germanischer Eigenart! Wir sehen doch, dass ganz im Gegen-<lb/>
teil der beflügelte Geist es war, der die Erfindung des Buchdruckes<lb/>
geradezu erzwungen hat. Während die Chinesen es niemals über den<lb/>
schwerfälligen Holztafeldruck hinausbrachten (und dies erst nach viel-<lb/>
leicht tausendjährigem Herumtappen), während die semitischen Völker<lb/>
das Papier so gut wie unbenutzt hatten liegen lassen, war im ganzen<lb/>
germanischen Europa und namentlich in seinem Mittelpunkt, Deutsch-<lb/>
land, »die Massenherstellung wohlfeiler Papierhandschriften« sofort ein<lb/>
Gewerbe geworden.<note place="foot" n="1)">Vogt und Koch: <hi rendition="#i">Geschichte der deutschen Litteratur,</hi> 1897, S. 218. Ein-<lb/>
gehenderes in jedem grösseren Geschichtswerke.</note> Selbst Janssen meldet, dass man in Deutschland,<lb/>
lange ehe der Druck mit gegossenen Lettern begonnen hatte, zu billigen<lb/>
Preisen die bedeutendsten Erzeugnisse mittelhochdeutscher Poesie, Volks-<lb/>
bücher, Sagen, volkstümlich-medizinische Schriften u. s. w. feilgeboten-<lb/>
habe.<note place="foot" n="2)">A. a. O., I, 17.</note> Und was Herr Janssen verschweigt, ist, dass schon vom 13. Jahr-<lb/>
hundert ab das Papier die Bibel, namentlich das neue Testament, durch<lb/></p>
            </div>
          </div>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[818/0297] Die Entstehung einer neuen Welt. die geringste Sehnsucht nach geistigen Thaten gekannt hätten, um diese herrliche Waffe des Geistes zu einer Macht auszubilden. Und was haben sie in diesem Zeitraum — der eine grössere Frist umspannt als von Gutenberg bis heute — damit geleistet? Nichts, rein gar nichts. Nur Schuldscheine haben sie darauf anzubringen gewusst, und ausser- dem etliche hundert öde, langweilige, geisttötende Bücher: die Er- findung des Iraniers zur Verballhornung der Gedanken des Hellenen in erlogener Gelehrsamkeit dienend! — Doch nun folgte die dritte Etappe. Im Verlauf der Kreuzzüge wurde das mit so viel Geistesarmut gehütete Manufakturgeheimnis gelüftet; was der arme Iranier, zwischen Semiten, Tataren und Chinesen eingekeilt, erfunden, das übernahm jetzt der freie Germane. In den letzten Jahren des 12. Jahrhunderts gelangte die genaue Kunde, wie Papier zu bereiten sei, nach Europa; wie ein Lauffeuer verbreitete sich das neue Gewerbe durch alle Länder; in wenigen Jahren genügten schon die einfachen Geräte des Orients nicht mehr; eine Verbesserung folgte der anderen; im Jahre 1290 stand schon die erste regelrechte Papiermühle (in Ravensburg); kaum hundert Jahre dauerte es, bis der Holzdruck (auch ganzer Bücher) sich ein- gebürgert hatte, und in weiteren fünfzig Jahren war der Buchdruck mit beweglichen Typen schon im Gang. Und glaubt man wirklich, dieser Buchdruck habe erst unseren Geist »beflügelt«? Welcher Hohn auf die Thatsachen der Geschichte! welche Verkennung des hohen Wertes germanischer Eigenart! Wir sehen doch, dass ganz im Gegen- teil der beflügelte Geist es war, der die Erfindung des Buchdruckes geradezu erzwungen hat. Während die Chinesen es niemals über den schwerfälligen Holztafeldruck hinausbrachten (und dies erst nach viel- leicht tausendjährigem Herumtappen), während die semitischen Völker das Papier so gut wie unbenutzt hatten liegen lassen, war im ganzen germanischen Europa und namentlich in seinem Mittelpunkt, Deutsch- land, »die Massenherstellung wohlfeiler Papierhandschriften« sofort ein Gewerbe geworden. 1) Selbst Janssen meldet, dass man in Deutschland, lange ehe der Druck mit gegossenen Lettern begonnen hatte, zu billigen Preisen die bedeutendsten Erzeugnisse mittelhochdeutscher Poesie, Volks- bücher, Sagen, volkstümlich-medizinische Schriften u. s. w. feilgeboten- habe. 2) Und was Herr Janssen verschweigt, ist, dass schon vom 13. Jahr- hundert ab das Papier die Bibel, namentlich das neue Testament, durch 1) Vogt und Koch: Geschichte der deutschen Litteratur, 1897, S. 218. Ein- gehenderes in jedem grösseren Geschichtswerke. 2) A. a. O., I, 17.

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
TCF (tokenisiert, serialisiert, lemmatisiert, normalisiert)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/chamberlain_grundlagen02_1899
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/chamberlain_grundlagen02_1899/297
Zitationshilfe: Chamberlain, Houston Stewart: Die Grundlagen des Neunzehnten Jahrhunderts. Bd. 2. München 1899, S. 818. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/chamberlain_grundlagen02_1899/297>, abgerufen am 26.04.2024.