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Chamberlain, Houston Stewart: Die Grundlagen des Neunzehnten Jahrhunderts. Bd. 2. München 1899.

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viele Teile von Europa, übersetzt in die Volkssprachen, verbreitet hatte,
so dass die Sendlinge der Inquisition, die selber nur zugestutzte Brocken
aus der heiligen Schrift kannten, erstaunt waren, Bauern zu begegnen,
welche die vier Evangelien von Anfang bis zu Ende auswendig her-
sagten.1) Zugleich verbreitete das Papier, wie wir sahen (S. 763), solche
Werke wie die des Scotus Erigena befreiend unter den vielen tausend
Menschen, die so viel Bildung besassen, um lateinisch lesen zu können.
Sobald das Papier da war, erfolgte durch alle Länder Europa's die mehr
oder weniger ausgesprochene Empörung gegen Rom, und sofort, als
Reaktion darauf, das Verbot des Bibellesens und die Einführung der
Inquisition (S. 643). Doch die Sehnsucht nach geistiger Befreiung, der
Instinkt des zum Herrschen geborenen Stammes, die gewaltige Gährung
jenes Geistes, den wir heute an seinen seither vollbrachten Thaten er-
kennen, liessen sich nicht bemeistern und eindämmen. Das Verlangen
nach Lesen und Wissen wuchs mit jedem Tage; noch gab es keine
Bücher (in unserem Sinne) und schon gab es Buchhändler, die von
Messe zu Messe reisten und massenhaften Absatz ihrer sauberen, billigen
Abschriften auf Papier erzielten; die Erfindung des Buchdruckes wurde
geradezu erzwungen. Darum auch die eigentümliche Geschichte
dieser Erfindung. Sonst müssen neue Ideen viel kämpfen, ehe sie
Anerkennung finden: man denke nur an die Dampfmaschine, an die
Nähmaschine u. s. w.; auf den Druck harrte man dagegen schon aller-
orten mit solcher Ungeduld, dass es heute kaum möglich ist, dem
Fortgang seiner Verbreitung zu folgen. Im selben Augenblick, als
Gutenberg das Giessen der Lettern in Mainz probiert, versuchen es
andere in Bamberg, in Haarlem, in Avignon, in Venedig! Und als
der grosse Deutsche das Rätsel endlich gelöst, versteht man seine Er-
findung sofort überall zu schätzen und nachzuahmen, zu verbessern
und auszubilden, weil sie einem allgemeinen dringenden Bedürfnis
entsprach. 1450 begann Gutenberg's Druckerei ihren Betrieb und
25 Jahre später blühte der Buchdruck in fast allen Städten Europa's!
Ja, in einzelnen Städten Deutschland's, z. B. in Augsburg, Nürnberg,
Mainz, gab es bald zwanzig und mehr Druckereien. Mit welchem Heiss-
hunger greift der unter dem schweren Drucke Rom's schmachtende
Germane nach jeder Äusserung freien Menschentums! Es gleicht fast
der Raserei eines Verzweifelten. Man schätzt die Zahl der zwischen
1470 und 1500 in Druck gelegten, verschiedenen Werke auf zehn-

1) Vergl. S. 643, Anm. 1.

Industrie.
viele Teile von Europa, übersetzt in die Volkssprachen, verbreitet hatte,
so dass die Sendlinge der Inquisition, die selber nur zugestutzte Brocken
aus der heiligen Schrift kannten, erstaunt waren, Bauern zu begegnen,
welche die vier Evangelien von Anfang bis zu Ende auswendig her-
sagten.1) Zugleich verbreitete das Papier, wie wir sahen (S. 763), solche
Werke wie die des Scotus Erigena befreiend unter den vielen tausend
Menschen, die so viel Bildung besassen, um lateinisch lesen zu können.
Sobald das Papier da war, erfolgte durch alle Länder Europa’s die mehr
oder weniger ausgesprochene Empörung gegen Rom, und sofort, als
Reaktion darauf, das Verbot des Bibellesens und die Einführung der
Inquisition (S. 643). Doch die Sehnsucht nach geistiger Befreiung, der
Instinkt des zum Herrschen geborenen Stammes, die gewaltige Gährung
jenes Geistes, den wir heute an seinen seither vollbrachten Thaten er-
kennen, liessen sich nicht bemeistern und eindämmen. Das Verlangen
nach Lesen und Wissen wuchs mit jedem Tage; noch gab es keine
Bücher (in unserem Sinne) und schon gab es Buchhändler, die von
Messe zu Messe reisten und massenhaften Absatz ihrer sauberen, billigen
Abschriften auf Papier erzielten; die Erfindung des Buchdruckes wurde
geradezu erzwungen. Darum auch die eigentümliche Geschichte
dieser Erfindung. Sonst müssen neue Ideen viel kämpfen, ehe sie
Anerkennung finden: man denke nur an die Dampfmaschine, an die
Nähmaschine u. s. w.; auf den Druck harrte man dagegen schon aller-
orten mit solcher Ungeduld, dass es heute kaum möglich ist, dem
Fortgang seiner Verbreitung zu folgen. Im selben Augenblick, als
Gutenberg das Giessen der Lettern in Mainz probiert, versuchen es
andere in Bamberg, in Haarlem, in Avignon, in Venedig! Und als
der grosse Deutsche das Rätsel endlich gelöst, versteht man seine Er-
findung sofort überall zu schätzen und nachzuahmen, zu verbessern
und auszubilden, weil sie einem allgemeinen dringenden Bedürfnis
entsprach. 1450 begann Gutenberg’s Druckerei ihren Betrieb und
25 Jahre später blühte der Buchdruck in fast allen Städten Europa’s!
Ja, in einzelnen Städten Deutschland’s, z. B. in Augsburg, Nürnberg,
Mainz, gab es bald zwanzig und mehr Druckereien. Mit welchem Heiss-
hunger greift der unter dem schweren Drucke Rom’s schmachtende
Germane nach jeder Äusserung freien Menschentums! Es gleicht fast
der Raserei eines Verzweifelten. Man schätzt die Zahl der zwischen
1470 und 1500 in Druck gelegten, verschiedenen Werke auf zehn-

1) Vergl. S. 643, Anm. 1.
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[819/0298] Industrie. viele Teile von Europa, übersetzt in die Volkssprachen, verbreitet hatte, so dass die Sendlinge der Inquisition, die selber nur zugestutzte Brocken aus der heiligen Schrift kannten, erstaunt waren, Bauern zu begegnen, welche die vier Evangelien von Anfang bis zu Ende auswendig her- sagten. 1) Zugleich verbreitete das Papier, wie wir sahen (S. 763), solche Werke wie die des Scotus Erigena befreiend unter den vielen tausend Menschen, die so viel Bildung besassen, um lateinisch lesen zu können. Sobald das Papier da war, erfolgte durch alle Länder Europa’s die mehr oder weniger ausgesprochene Empörung gegen Rom, und sofort, als Reaktion darauf, das Verbot des Bibellesens und die Einführung der Inquisition (S. 643). Doch die Sehnsucht nach geistiger Befreiung, der Instinkt des zum Herrschen geborenen Stammes, die gewaltige Gährung jenes Geistes, den wir heute an seinen seither vollbrachten Thaten er- kennen, liessen sich nicht bemeistern und eindämmen. Das Verlangen nach Lesen und Wissen wuchs mit jedem Tage; noch gab es keine Bücher (in unserem Sinne) und schon gab es Buchhändler, die von Messe zu Messe reisten und massenhaften Absatz ihrer sauberen, billigen Abschriften auf Papier erzielten; die Erfindung des Buchdruckes wurde geradezu erzwungen. Darum auch die eigentümliche Geschichte dieser Erfindung. Sonst müssen neue Ideen viel kämpfen, ehe sie Anerkennung finden: man denke nur an die Dampfmaschine, an die Nähmaschine u. s. w.; auf den Druck harrte man dagegen schon aller- orten mit solcher Ungeduld, dass es heute kaum möglich ist, dem Fortgang seiner Verbreitung zu folgen. Im selben Augenblick, als Gutenberg das Giessen der Lettern in Mainz probiert, versuchen es andere in Bamberg, in Haarlem, in Avignon, in Venedig! Und als der grosse Deutsche das Rätsel endlich gelöst, versteht man seine Er- findung sofort überall zu schätzen und nachzuahmen, zu verbessern und auszubilden, weil sie einem allgemeinen dringenden Bedürfnis entsprach. 1450 begann Gutenberg’s Druckerei ihren Betrieb und 25 Jahre später blühte der Buchdruck in fast allen Städten Europa’s! Ja, in einzelnen Städten Deutschland’s, z. B. in Augsburg, Nürnberg, Mainz, gab es bald zwanzig und mehr Druckereien. Mit welchem Heiss- hunger greift der unter dem schweren Drucke Rom’s schmachtende Germane nach jeder Äusserung freien Menschentums! Es gleicht fast der Raserei eines Verzweifelten. Man schätzt die Zahl der zwischen 1470 und 1500 in Druck gelegten, verschiedenen Werke auf zehn- 1) Vergl. S. 643, Anm. 1.

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Zitationshilfe: Chamberlain, Houston Stewart: Die Grundlagen des Neunzehnten Jahrhunderts. Bd. 2. München 1899, S. 819. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/chamberlain_grundlagen02_1899/298>, abgerufen am 27.04.2024.