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Chamberlain, Houston Stewart: Die Grundlagen des Neunzehnten Jahrhunderts. Bd. 2. München 1899.

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Die Entstehung einer neuen Welt.
Die Mystiker.

Die rechte hohe Schule der Befreiung vom hieratisch-historischen
Zwange ist aber die Mystik, die philosophia teutonica, wie man sie
nannte.1) Eine bis in ihre letzten Konsequenzen durchgeführte mystische
Anschauung löst eine dogmatische Annahme nach der anderen als Alle-
gorie ab; was dann übrig bleibt, ist ebenfalls nur Symbol, denn Religion
ist dann nicht mehr ein Fürwahrhalten, eine Hoffnung, eine Überzeugung,
sondern eine Erfahrung des Lebens, ein thatsächlicher Vorgang, ein un-
mittelbarer Zustand des Gemütes. Lagarde sagt irgendwo: "Religion
ist unbedingte Gegenwart"; diese Erkenntnis ist mystisch.2) Den voll-
endetsten Ausdruck der absolut mystischen Religion finden wir bei
den arischen Indern; doch scheidet unsere grossen germanischen My-
stiker kaum die Breite eines Haares von ihren indischen Vorgängern
und Zeitgenossen; eigentlich trennt sie nur das Eine: dass die indische
Religion eine unverfälscht indogermanische ist, in welcher die Mystik
ihren natürlichen, allseitig anerkannten Platz findet, während für Mystik
in einem Bunde zwischen semitischer Historie und pseudoägyptischer
Magie kein Platz ist, weswegen sie von unseren verschiedenen Kon-
fessionen im besten Falle nur geduldet, meistens aber verfolgt wurde
und wird. Von ihrem Standpunkt aus haben die christlichen Kirchen
Recht. Man höre nur den 54. Spruch des Meister Eckhart; er lautet:
"Ir sunt wizzen, daz alle unser vollekomenheit und alle unser selikeit
leit dar an, daz der mensche durchgange und übergange alle geschaffen-
heit und alle zeitlichkeit und allez wesen
und gange in den
grunt, der gruntlos ist." Das ist vollkommen indisch und könnte ein
Citat aus der Brihadaranyaka-Upanishad sein, wogegen es keiner Sophisterei
gelingen dürfte, einen Zusammenhang zwischen dieser Religion und
abrahamitischen Verheissungen herzustellen, ebensowenig wie irgend
ein ehrlicher Mensch leugnen wird, dass in einer Weltanschauung,
welche sich über "Geschaffenheit" und "Zeitlichkeit" erhebt, Sünden-

1) Lamprecht bezeugt vom deutschen Volk im Allgemeinen, dass "die Grund-
lage seines Verhaltens zum Christentum eine mystische war" (Deutsche Geschichte,
2. Aufl., 2. Bd., S. 197); dies galt uneingeschränkt bis zur Einführung des obli-
gatorischen Rationalismus durch Thomas von Aquin, später ergänzt durch den
Materialismus der Jesuiten.
2) Der Theologe Adalbert Merx sagt in seiner Schrift Idee und Grundlinien
einer allgemeinen Geschichte der Mystik,
1893, S. 46: "Eines steht für die Mystik fest,
dass sie die Erfahrungsthatsache der Religion, die Religion als Phänomenon ...
so vollkommen besitzt, zeigt und darstellt ... dass ohne historische Kenntnis der
Mystik von einer wirklichen Religionsphilosophie nicht die Rede sein kann."
Die Entstehung einer neuen Welt.
Die Mystiker.

Die rechte hohe Schule der Befreiung vom hieratisch-historischen
Zwange ist aber die Mystik, die philosophia teutonica, wie man sie
nannte.1) Eine bis in ihre letzten Konsequenzen durchgeführte mystische
Anschauung löst eine dogmatische Annahme nach der anderen als Alle-
gorie ab; was dann übrig bleibt, ist ebenfalls nur Symbol, denn Religion
ist dann nicht mehr ein Fürwahrhalten, eine Hoffnung, eine Überzeugung,
sondern eine Erfahrung des Lebens, ein thatsächlicher Vorgang, ein un-
mittelbarer Zustand des Gemütes. Lagarde sagt irgendwo: »Religion
ist unbedingte Gegenwart«; diese Erkenntnis ist mystisch.2) Den voll-
endetsten Ausdruck der absolut mystischen Religion finden wir bei
den arischen Indern; doch scheidet unsere grossen germanischen My-
stiker kaum die Breite eines Haares von ihren indischen Vorgängern
und Zeitgenossen; eigentlich trennt sie nur das Eine: dass die indische
Religion eine unverfälscht indogermanische ist, in welcher die Mystik
ihren natürlichen, allseitig anerkannten Platz findet, während für Mystik
in einem Bunde zwischen semitischer Historie und pseudoägyptischer
Magie kein Platz ist, weswegen sie von unseren verschiedenen Kon-
fessionen im besten Falle nur geduldet, meistens aber verfolgt wurde
und wird. Von ihrem Standpunkt aus haben die christlichen Kirchen
Recht. Man höre nur den 54. Spruch des Meister Eckhart; er lautet:
»Ir sunt wizzen, daz alle unser vollekomenheit und alle unser sêlikeit
lît dar an, daz der mensche durchgange und übergange alle geschaffen-
heit und alle zîtlichkeit und allez wesen
und gange in den
grunt, der gruntlôs ist.« Das ist vollkommen indisch und könnte ein
Citat aus der Brihadâranyaka-Upanishad sein, wogegen es keiner Sophisterei
gelingen dürfte, einen Zusammenhang zwischen dieser Religion und
abrahamitischen Verheissungen herzustellen, ebensowenig wie irgend
ein ehrlicher Mensch leugnen wird, dass in einer Weltanschauung,
welche sich über »Geschaffenheit« und »Zeitlichkeit« erhebt, Sünden-

1) Lamprecht bezeugt vom deutschen Volk im Allgemeinen, dass »die Grund-
lage seines Verhaltens zum Christentum eine mystische war« (Deutsche Geschichte,
2. Aufl., 2. Bd., S. 197); dies galt uneingeschränkt bis zur Einführung des obli-
gatorischen Rationalismus durch Thomas von Aquin, später ergänzt durch den
Materialismus der Jesuiten.
2) Der Theologe Adalbert Merx sagt in seiner Schrift Idee und Grundlinien
einer allgemeinen Geschichte der Mystik,
1893, S. 46: »Eines steht für die Mystik fest,
dass sie die Erfahrungsthatsache der Religion, die Religion als Phänomenon …
so vollkommen besitzt, zeigt und darstellt … dass ohne historische Kenntnis der
Mystik von einer wirklichen Religionsphilosophie nicht die Rede sein kann.«
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[876/0355] Die Entstehung einer neuen Welt. Die rechte hohe Schule der Befreiung vom hieratisch-historischen Zwange ist aber die Mystik, die philosophia teutonica, wie man sie nannte. 1) Eine bis in ihre letzten Konsequenzen durchgeführte mystische Anschauung löst eine dogmatische Annahme nach der anderen als Alle- gorie ab; was dann übrig bleibt, ist ebenfalls nur Symbol, denn Religion ist dann nicht mehr ein Fürwahrhalten, eine Hoffnung, eine Überzeugung, sondern eine Erfahrung des Lebens, ein thatsächlicher Vorgang, ein un- mittelbarer Zustand des Gemütes. Lagarde sagt irgendwo: »Religion ist unbedingte Gegenwart«; diese Erkenntnis ist mystisch. 2) Den voll- endetsten Ausdruck der absolut mystischen Religion finden wir bei den arischen Indern; doch scheidet unsere grossen germanischen My- stiker kaum die Breite eines Haares von ihren indischen Vorgängern und Zeitgenossen; eigentlich trennt sie nur das Eine: dass die indische Religion eine unverfälscht indogermanische ist, in welcher die Mystik ihren natürlichen, allseitig anerkannten Platz findet, während für Mystik in einem Bunde zwischen semitischer Historie und pseudoägyptischer Magie kein Platz ist, weswegen sie von unseren verschiedenen Kon- fessionen im besten Falle nur geduldet, meistens aber verfolgt wurde und wird. Von ihrem Standpunkt aus haben die christlichen Kirchen Recht. Man höre nur den 54. Spruch des Meister Eckhart; er lautet: »Ir sunt wizzen, daz alle unser vollekomenheit und alle unser sêlikeit lît dar an, daz der mensche durchgange und übergange alle geschaffen- heit und alle zîtlichkeit und allez wesen und gange in den grunt, der gruntlôs ist.« Das ist vollkommen indisch und könnte ein Citat aus der Brihadâranyaka-Upanishad sein, wogegen es keiner Sophisterei gelingen dürfte, einen Zusammenhang zwischen dieser Religion und abrahamitischen Verheissungen herzustellen, ebensowenig wie irgend ein ehrlicher Mensch leugnen wird, dass in einer Weltanschauung, welche sich über »Geschaffenheit« und »Zeitlichkeit« erhebt, Sünden- 1) Lamprecht bezeugt vom deutschen Volk im Allgemeinen, dass »die Grund- lage seines Verhaltens zum Christentum eine mystische war« (Deutsche Geschichte, 2. Aufl., 2. Bd., S. 197); dies galt uneingeschränkt bis zur Einführung des obli- gatorischen Rationalismus durch Thomas von Aquin, später ergänzt durch den Materialismus der Jesuiten. 2) Der Theologe Adalbert Merx sagt in seiner Schrift Idee und Grundlinien einer allgemeinen Geschichte der Mystik, 1893, S. 46: »Eines steht für die Mystik fest, dass sie die Erfahrungsthatsache der Religion, die Religion als Phänomenon … so vollkommen besitzt, zeigt und darstellt … dass ohne historische Kenntnis der Mystik von einer wirklichen Religionsphilosophie nicht die Rede sein kann.«

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Zitationshilfe: Chamberlain, Houston Stewart: Die Grundlagen des Neunzehnten Jahrhunderts. Bd. 2. München 1899, S. 876. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/chamberlain_grundlagen02_1899/355>, abgerufen am 29.04.2024.