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Chamberlain, Houston Stewart: Die Grundlagen des Neunzehnten Jahrhunderts. Bd. 2. München 1899.

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Weltanschauung und Religion.
fall und Erlösung lediglich Symbole sein müssen für eine sonst un-
ausdrückbare Wahrheit der inneren Erfahrung. Folgende Stelle aus
der 49. Predigt von Eckhart gehört ebenfalls hierher: "So lange ich
dies und das bin oder dies und das habe, so bin ich nicht alle Dinge
noch habe ich alle Dinge; sobald du aber entscheidest, dass du weder
dies noch das seiest noch habest, so bist du allenthalben; sobald folg-
lich du weder dies noch das bist, bist du alle Dinge."1) Das ist die
Lehre des Atman, der gegenüber die Theologie des Duns Scotus eben
so irrelevant ist wie die des Thomas von Aquin. Und noch Eines
muss gleich hier vorausgeschickt werden: eine derartige mystische
Religion war die Religion Jesu Christi; sie spricht aus seinen Thaten
und aus seinen Worten. Dass das Himmelreich "inwendig in uns"
sei,2) lässt keinerlei empirische oder historische Deutung zu.

Natürlich kann ich mich hier nicht näher auf das Wesen der
Mystik einlassen, das hiesse die Menschennatur dort, wo sie "gruntlos"
ist, in einigen wenigen Zeilen ergründen wollen; ich musste bloss den
Gegenstand klar hinstellen, und zwar in einer Weise, dass auch der
wenigst Eingeweihte sofort einsieht, inwiefern es die notwendige Tendenz
des Mysticismus ist, von Kirchensatzungen zu befreien. Zum Glück --
kann man wohl sagen -- liegt es nicht in unserer germanischen Natur,
unsere Gedanken bis in ihre letzten Konsequenzen zu verfolgen, mit
anderen Worten, uns von ihnen tyrannisieren zu lassen, und so sehen
wir Eckhart trotz seiner Atmanlehre einen guten Dominikaner bleiben,
der zwar mit knapper Not der Inquisition entgeht,3) doch alle gewünschte
orthodoxe Glaubensbekenntnisse unterschreibt, und wir erleben es nicht --
trotz aller Empfehlungen des Friedensschlafes (sopor pacis) durch Bona-
ventura (1221--74) und Andere -- dass jemals der Quietismus uns wie
den Indern die Lebensader unterbindet. Ich beschränke mich also inner-
halb des engen Rahmens dieses Kapitels und will nur durch einige
wenige Andeutungen zeigen, wie das Heer der Mystiker zugleich zer-
störend gegen die uns überlieferte fremde Religion und als kräftige
schöpferische Förderer einer unserer Eigenart entsprechenden neuen
Weltanschauung wirkten. Die Verdienste dieser Männer nach beiden
Richtungen hin werden in der Regel zu wenig anerkannt.

1) Ausg. Pfeiffer, S. 162. Diese zweite Stelle habe ich übertragen, da sie
für den Ungeübten im mittelhochdeutschen Original nicht so leicht verständlich ist.
2) Siehe S. 199.
3) Erst nach seinem Tode wurden seine Lehren als häretisch verdammt und
seine Schriften so fleissig von der Inquisition vertilgt, dass die meisten verloren sind.

Weltanschauung und Religion.
fall und Erlösung lediglich Symbole sein müssen für eine sonst un-
ausdrückbare Wahrheit der inneren Erfahrung. Folgende Stelle aus
der 49. Predigt von Eckhart gehört ebenfalls hierher: »So lange ich
dies und das bin oder dies und das habe, so bin ich nicht alle Dinge
noch habe ich alle Dinge; sobald du aber entscheidest, dass du weder
dies noch das seiest noch habest, so bist du allenthalben; sobald folg-
lich du weder dies noch das bist, bist du alle Dinge.«1) Das ist die
Lehre des Atman, der gegenüber die Theologie des Duns Scotus eben
so irrelevant ist wie die des Thomas von Aquin. Und noch Eines
muss gleich hier vorausgeschickt werden: eine derartige mystische
Religion war die Religion Jesu Christi; sie spricht aus seinen Thaten
und aus seinen Worten. Dass das Himmelreich »inwendig in uns«
sei,2) lässt keinerlei empirische oder historische Deutung zu.

Natürlich kann ich mich hier nicht näher auf das Wesen der
Mystik einlassen, das hiesse die Menschennatur dort, wo sie »gruntlôs«
ist, in einigen wenigen Zeilen ergründen wollen; ich musste bloss den
Gegenstand klar hinstellen, und zwar in einer Weise, dass auch der
wenigst Eingeweihte sofort einsieht, inwiefern es die notwendige Tendenz
des Mysticismus ist, von Kirchensatzungen zu befreien. Zum Glück —
kann man wohl sagen — liegt es nicht in unserer germanischen Natur,
unsere Gedanken bis in ihre letzten Konsequenzen zu verfolgen, mit
anderen Worten, uns von ihnen tyrannisieren zu lassen, und so sehen
wir Eckhart trotz seiner Âtmanlehre einen guten Dominikaner bleiben,
der zwar mit knapper Not der Inquisition entgeht,3) doch alle gewünschte
orthodoxe Glaubensbekenntnisse unterschreibt, und wir erleben es nicht —
trotz aller Empfehlungen des Friedensschlafes (sopor pacis) durch Bona-
ventura (1221—74) und Andere — dass jemals der Quietismus uns wie
den Indern die Lebensader unterbindet. Ich beschränke mich also inner-
halb des engen Rahmens dieses Kapitels und will nur durch einige
wenige Andeutungen zeigen, wie das Heer der Mystiker zugleich zer-
störend gegen die uns überlieferte fremde Religion und als kräftige
schöpferische Förderer einer unserer Eigenart entsprechenden neuen
Weltanschauung wirkten. Die Verdienste dieser Männer nach beiden
Richtungen hin werden in der Regel zu wenig anerkannt.

1) Ausg. Pfeiffer, S. 162. Diese zweite Stelle habe ich übertragen, da sie
für den Ungeübten im mittelhochdeutschen Original nicht so leicht verständlich ist.
2) Siehe S. 199.
3) Erst nach seinem Tode wurden seine Lehren als häretisch verdammt und
seine Schriften so fleissig von der Inquisition vertilgt, dass die meisten verloren sind.
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[877/0356] Weltanschauung und Religion. fall und Erlösung lediglich Symbole sein müssen für eine sonst un- ausdrückbare Wahrheit der inneren Erfahrung. Folgende Stelle aus der 49. Predigt von Eckhart gehört ebenfalls hierher: »So lange ich dies und das bin oder dies und das habe, so bin ich nicht alle Dinge noch habe ich alle Dinge; sobald du aber entscheidest, dass du weder dies noch das seiest noch habest, so bist du allenthalben; sobald folg- lich du weder dies noch das bist, bist du alle Dinge.« 1) Das ist die Lehre des Atman, der gegenüber die Theologie des Duns Scotus eben so irrelevant ist wie die des Thomas von Aquin. Und noch Eines muss gleich hier vorausgeschickt werden: eine derartige mystische Religion war die Religion Jesu Christi; sie spricht aus seinen Thaten und aus seinen Worten. Dass das Himmelreich »inwendig in uns« sei, 2) lässt keinerlei empirische oder historische Deutung zu. Natürlich kann ich mich hier nicht näher auf das Wesen der Mystik einlassen, das hiesse die Menschennatur dort, wo sie »gruntlôs« ist, in einigen wenigen Zeilen ergründen wollen; ich musste bloss den Gegenstand klar hinstellen, und zwar in einer Weise, dass auch der wenigst Eingeweihte sofort einsieht, inwiefern es die notwendige Tendenz des Mysticismus ist, von Kirchensatzungen zu befreien. Zum Glück — kann man wohl sagen — liegt es nicht in unserer germanischen Natur, unsere Gedanken bis in ihre letzten Konsequenzen zu verfolgen, mit anderen Worten, uns von ihnen tyrannisieren zu lassen, und so sehen wir Eckhart trotz seiner Âtmanlehre einen guten Dominikaner bleiben, der zwar mit knapper Not der Inquisition entgeht, 3) doch alle gewünschte orthodoxe Glaubensbekenntnisse unterschreibt, und wir erleben es nicht — trotz aller Empfehlungen des Friedensschlafes (sopor pacis) durch Bona- ventura (1221—74) und Andere — dass jemals der Quietismus uns wie den Indern die Lebensader unterbindet. Ich beschränke mich also inner- halb des engen Rahmens dieses Kapitels und will nur durch einige wenige Andeutungen zeigen, wie das Heer der Mystiker zugleich zer- störend gegen die uns überlieferte fremde Religion und als kräftige schöpferische Förderer einer unserer Eigenart entsprechenden neuen Weltanschauung wirkten. Die Verdienste dieser Männer nach beiden Richtungen hin werden in der Regel zu wenig anerkannt. 1) Ausg. Pfeiffer, S. 162. Diese zweite Stelle habe ich übertragen, da sie für den Ungeübten im mittelhochdeutschen Original nicht so leicht verständlich ist. 2) Siehe S. 199. 3) Erst nach seinem Tode wurden seine Lehren als häretisch verdammt und seine Schriften so fleissig von der Inquisition vertilgt, dass die meisten verloren sind.

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Zitationshilfe: Chamberlain, Houston Stewart: Die Grundlagen des Neunzehnten Jahrhunderts. Bd. 2. München 1899, S. 877. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/chamberlain_grundlagen02_1899/356>, abgerufen am 29.04.2024.