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Chamberlain, Houston Stewart: Die Grundlagen des Neunzehnten Jahrhunderts. Bd. 2. München 1899.

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Die Entstehung einer neuen Welt.
Kraft dieses Erlebnisses und, weit entfernt, die Kirche, welche dies
kostbare Vermächtnis übermittelt hat, vernichten zu wollen, will er
sie durch Vernichtung der römischen Ausgeburten reinigen. Sehr ähn-
lich Staupitz, der Beschützer Luther's. Solche Männer, die unmerk-
lich in die Klasse der Theologen von der Art wie Wyclif und Hus
übergehen, sind werkthätige Vorläufer der Reformation. An der
Reformation selber war die Mystik insofern stark beteiligt, als Martin
Luther im tiefsten Grund seines Herzens ihr angehörte: er liebte Eck-
hart und veranstaltete selber die erste Druckausgabe der Theologia
deutsch;
vor allem ist seine mittlere Lehre von der gegenwärtigen
Umwandlung durch den Glauben ohne Mystik gar nicht zu verstehen.
Doch andrerseits machten ihm die "Schwarmgeister" viel Verdruss
und hätten bald sein Lebenswerk verpfuscht. Mystiker nach Art des
Thomas Münzer (1490--1525), die erst über die "leisetretenden Refor-
matoren" schimpften und später gegen alle weltliche Obrigkeit sich
offen empörten, haben mehr als irgend etwas anderes der grossen
politischen Kirchenreform geschadet. Und selbst solche edle Männer,
wie Kaspar Schwenkfeld (1490--1561) haben dadurch, dass sie aus
der kontemplativen Mystik zur praktischen Kirchenreform übergingen,
lediglich Kräfte zersplittert und böse Leidenschaften geweckt. Ein
Jakob Böhme, der in seiner Kirche ruhig bleibt, aber lehrt, die Sakra-
mente (auch Taufe und Abendmahl) seien "nicht das Wesentliche"
am Christentum, richtet mehr aus.1) Der Wirkungskreis des echten
Mystikers ist im Innern, nicht im Äussern. Und so sehen wir denn
z. B. im 17. Jahrhundert den gut protestantischen Kesselflicker Bunyan
und den fromm katholischen Priester Molinos mehr und dauerhafteres
für die Befreiung aus eng-kirchlichen, kalt-historischen Auffassungen
der Religion leisten als ganze Rotten von Freigeistern. Bunyan, der
nie einer Seele etwas zu Leide gethan, brachte den grössten Teil seines
Lebens im Gefängnis zu, ein Opfer protestantischer Unduldsamkeit;

1) Vergl. Der Weg zu Christo, 5. Buch, 8. Kap., und die Schrift Von Christi
Testament des heiligen Abendmahles,
Kap. 4, § 24. "Ein rechter Christ bringt seine
heilige Kirche mit in die Gemeine. Sein Herz ist die wahre Kirche, da man soll
Gottesdienst pflegen. Wenn ich tausend Jahre in die Kirche gehe, auch alle
Wochen zum Sakrament, lasse mich auch gleich alle Tage absolvieren: habe ich
Christum nicht in mir, so ist alles falsch und ein unnützer Tand, ein Schnitzwerk
in Babel, und ist keine Vergebung der Sünden" (Der Weg zu Christo, Buch 5,
Kap. 6, § 16). Und von dem Predigtamt meint Böhme: "Der heilige Geist predigt
dem heiligen Hörer aus allen Kreaturen; Alles was er ansiehet, da siehet er einen
Prediger Gottes" (daselbst § 14).

Die Entstehung einer neuen Welt.
Kraft dieses Erlebnisses und, weit entfernt, die Kirche, welche dies
kostbare Vermächtnis übermittelt hat, vernichten zu wollen, will er
sie durch Vernichtung der römischen Ausgeburten reinigen. Sehr ähn-
lich Staupitz, der Beschützer Luther’s. Solche Männer, die unmerk-
lich in die Klasse der Theologen von der Art wie Wyclif und Hus
übergehen, sind werkthätige Vorläufer der Reformation. An der
Reformation selber war die Mystik insofern stark beteiligt, als Martin
Luther im tiefsten Grund seines Herzens ihr angehörte: er liebte Eck-
hart und veranstaltete selber die erste Druckausgabe der Theologia
deutsch;
vor allem ist seine mittlere Lehre von der gegenwärtigen
Umwandlung durch den Glauben ohne Mystik gar nicht zu verstehen.
Doch andrerseits machten ihm die »Schwarmgeister« viel Verdruss
und hätten bald sein Lebenswerk verpfuscht. Mystiker nach Art des
Thomas Münzer (1490—1525), die erst über die »leisetretenden Refor-
matoren« schimpften und später gegen alle weltliche Obrigkeit sich
offen empörten, haben mehr als irgend etwas anderes der grossen
politischen Kirchenreform geschadet. Und selbst solche edle Männer,
wie Kaspar Schwenkfeld (1490—1561) haben dadurch, dass sie aus
der kontemplativen Mystik zur praktischen Kirchenreform übergingen,
lediglich Kräfte zersplittert und böse Leidenschaften geweckt. Ein
Jakob Böhme, der in seiner Kirche ruhig bleibt, aber lehrt, die Sakra-
mente (auch Taufe und Abendmahl) seien »nicht das Wesentliche«
am Christentum, richtet mehr aus.1) Der Wirkungskreis des echten
Mystikers ist im Innern, nicht im Äussern. Und so sehen wir denn
z. B. im 17. Jahrhundert den gut protestantischen Kesselflicker Bunyan
und den fromm katholischen Priester Molinos mehr und dauerhafteres
für die Befreiung aus eng-kirchlichen, kalt-historischen Auffassungen
der Religion leisten als ganze Rotten von Freigeistern. Bunyan, der
nie einer Seele etwas zu Leide gethan, brachte den grössten Teil seines
Lebens im Gefängnis zu, ein Opfer protestantischer Unduldsamkeit;

1) Vergl. Der Weg zu Christo, 5. Buch, 8. Kap., und die Schrift Von Christi
Testament des heiligen Abendmahles,
Kap. 4, § 24. »Ein rechter Christ bringt seine
heilige Kirche mit in die Gemeine. Sein Herz ist die wahre Kirche, da man soll
Gottesdienst pflegen. Wenn ich tausend Jahre in die Kirche gehe, auch alle
Wochen zum Sakrament, lasse mich auch gleich alle Tage absolvieren: habe ich
Christum nicht in mir, so ist alles falsch und ein unnützer Tand, ein Schnitzwerk
in Babel, und ist keine Vergebung der Sünden« (Der Weg zu Christo, Buch 5,
Kap. 6, § 16). Und von dem Predigtamt meint Böhme: »Der heilige Geist predigt
dem heiligen Hörer aus allen Kreaturen; Alles was er ansiehet, da siehet er einen
Prediger Gottes« (daselbst § 14).
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[882/0361] Die Entstehung einer neuen Welt. Kraft dieses Erlebnisses und, weit entfernt, die Kirche, welche dies kostbare Vermächtnis übermittelt hat, vernichten zu wollen, will er sie durch Vernichtung der römischen Ausgeburten reinigen. Sehr ähn- lich Staupitz, der Beschützer Luther’s. Solche Männer, die unmerk- lich in die Klasse der Theologen von der Art wie Wyclif und Hus übergehen, sind werkthätige Vorläufer der Reformation. An der Reformation selber war die Mystik insofern stark beteiligt, als Martin Luther im tiefsten Grund seines Herzens ihr angehörte: er liebte Eck- hart und veranstaltete selber die erste Druckausgabe der Theologia deutsch; vor allem ist seine mittlere Lehre von der gegenwärtigen Umwandlung durch den Glauben ohne Mystik gar nicht zu verstehen. Doch andrerseits machten ihm die »Schwarmgeister« viel Verdruss und hätten bald sein Lebenswerk verpfuscht. Mystiker nach Art des Thomas Münzer (1490—1525), die erst über die »leisetretenden Refor- matoren« schimpften und später gegen alle weltliche Obrigkeit sich offen empörten, haben mehr als irgend etwas anderes der grossen politischen Kirchenreform geschadet. Und selbst solche edle Männer, wie Kaspar Schwenkfeld (1490—1561) haben dadurch, dass sie aus der kontemplativen Mystik zur praktischen Kirchenreform übergingen, lediglich Kräfte zersplittert und böse Leidenschaften geweckt. Ein Jakob Böhme, der in seiner Kirche ruhig bleibt, aber lehrt, die Sakra- mente (auch Taufe und Abendmahl) seien »nicht das Wesentliche« am Christentum, richtet mehr aus. 1) Der Wirkungskreis des echten Mystikers ist im Innern, nicht im Äussern. Und so sehen wir denn z. B. im 17. Jahrhundert den gut protestantischen Kesselflicker Bunyan und den fromm katholischen Priester Molinos mehr und dauerhafteres für die Befreiung aus eng-kirchlichen, kalt-historischen Auffassungen der Religion leisten als ganze Rotten von Freigeistern. Bunyan, der nie einer Seele etwas zu Leide gethan, brachte den grössten Teil seines Lebens im Gefängnis zu, ein Opfer protestantischer Unduldsamkeit; 1) Vergl. Der Weg zu Christo, 5. Buch, 8. Kap., und die Schrift Von Christi Testament des heiligen Abendmahles, Kap. 4, § 24. »Ein rechter Christ bringt seine heilige Kirche mit in die Gemeine. Sein Herz ist die wahre Kirche, da man soll Gottesdienst pflegen. Wenn ich tausend Jahre in die Kirche gehe, auch alle Wochen zum Sakrament, lasse mich auch gleich alle Tage absolvieren: habe ich Christum nicht in mir, so ist alles falsch und ein unnützer Tand, ein Schnitzwerk in Babel, und ist keine Vergebung der Sünden« (Der Weg zu Christo, Buch 5, Kap. 6, § 16). Und von dem Predigtamt meint Böhme: »Der heilige Geist predigt dem heiligen Hörer aus allen Kreaturen; Alles was er ansiehet, da siehet er einen Prediger Gottes« (daselbst § 14).

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Zitationshilfe: Chamberlain, Houston Stewart: Die Grundlagen des Neunzehnten Jahrhunderts. Bd. 2. München 1899, S. 882. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/chamberlain_grundlagen02_1899/361>, abgerufen am 29.04.2024.