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Chamberlain, Houston Stewart: Die Grundlagen des Neunzehnten Jahrhunderts. Bd. 2. München 1899.

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Weltanschauung und Religion.
auf die Worte Christi "das Reich Gottes kommt nicht mit äusser-
lichen Gebärden" berufen kann und auch thatsächlich beruft -- "die
englische Welt ist im Loco oder Ort dieser Welt innerlich"1) -- neu
aber im Gegensatz zu allen christlichen Kirchen. "Der rechte heilige
Mensch, so in dem monstrosischen verborgen ist, ist sowohl im Himmel
als Gott, und der Himmel ist in ihm."2) Und Böhme geht furchtlos
weiter und leugnet den absoluten Unterschied zwischen Gutem und
Bösem; der innere Grund der Seele, sagt er, ist weder gut noch böse,
Gott selber ist beides: "Er ist selber alles Wesen, er ist Böses und
Gutes, Himmel und Hölle, Licht und Finsternis;"3) erst der Wille
"scheidet" in der Masse der indifferenten Handlungen, erst durch den
Willen des Vollbringers wird eine That gut oder böse. Das ist die
reine indische Lehre; dass sie der Lehre der christlichen Kirche "schlecht-
hin widerstreite", haben die Theologen längst und ohne Mühe gezeigt.4)

Während nun die genannten Mystiker und die unübersehbare
Schar derjenigen, welche ähnlich dachten, gleichviel ob Protestanten oder
Katholiken, innerhalb der Kirche verblieben, ohne zu ahnen, wie gründ-
lich sie das mühsam errichtete Gebäude unterminierten, gab es grosse
Gruppen von Mystikern, welche vielleicht in der inneren Auffassung
des Wesens der Religion weniger weit gingen als die Theologia deutsch
und Jakob Böhme, oder als jene heilige Frau Antoinette Bourignon
(1616--80), die alle Sekten durch Aufhebung der Schriftlehren und
einzige Betonung der Sehnsucht nach Gott vereinigen wollte, Männer
aber, welche direkt gegen alles Kirchentum und Priestertum, gegen
Dogmen, Schrift und Sakrament ins Feld zogen. So verwarf z. B.
Amalrich von Chartres (gest. 1209), Professor der Theologie in Paris,
das gesamte Alte Testament und alle Sakramente, indem er einzig die
unmittelbare Offenbarung Gottes im Herzen jedes Individuums gelten
liess. Hieraus entstand der Bund der "Brüder des freien Geistes",
eine, wie es scheint, ziemlich lascive und gewaltthätige Vereinigung.
Andere wiederum, wie Johannes Wessel (1419--89), errangen durch
grössere Mässigung grössere Erfolge; Wessel steht durchaus auf dem
mystischen Standpunkt der Religion als eines inneren, gegenwärtigen
Erlebnisses, doch erblickt er in der Gestalt Christi die göttlich treibende

1) Mysterium magnum 8, 18.
2) Sendbrief vom 18. I. 1618, § 10.
3) Mysterium magnum 8, 24.
4) Vergl. z. B. die kleine Schrift von Dr. Albert Peip: Jakob Böhme 1860,
S. 16 fg.

Weltanschauung und Religion.
auf die Worte Christi »das Reich Gottes kommt nicht mit äusser-
lichen Gebärden« berufen kann und auch thatsächlich beruft — »die
englische Welt ist im Loco oder Ort dieser Welt innerlich«1) — neu
aber im Gegensatz zu allen christlichen Kirchen. »Der rechte heilige
Mensch, so in dem monstrosischen verborgen ist, ist sowohl im Himmel
als Gott, und der Himmel ist in ihm.«2) Und Böhme geht furchtlos
weiter und leugnet den absoluten Unterschied zwischen Gutem und
Bösem; der innere Grund der Seele, sagt er, ist weder gut noch böse,
Gott selber ist beides: »Er ist selber alles Wesen, er ist Böses und
Gutes, Himmel und Hölle, Licht und Finsternis;«3) erst der Wille
»scheidet« in der Masse der indifferenten Handlungen, erst durch den
Willen des Vollbringers wird eine That gut oder böse. Das ist die
reine indische Lehre; dass sie der Lehre der christlichen Kirche »schlecht-
hin widerstreite«, haben die Theologen längst und ohne Mühe gezeigt.4)

Während nun die genannten Mystiker und die unübersehbare
Schar derjenigen, welche ähnlich dachten, gleichviel ob Protestanten oder
Katholiken, innerhalb der Kirche verblieben, ohne zu ahnen, wie gründ-
lich sie das mühsam errichtete Gebäude unterminierten, gab es grosse
Gruppen von Mystikern, welche vielleicht in der inneren Auffassung
des Wesens der Religion weniger weit gingen als die Theologia deutsch
und Jakob Böhme, oder als jene heilige Frau Antoinette Bourignon
(1616—80), die alle Sekten durch Aufhebung der Schriftlehren und
einzige Betonung der Sehnsucht nach Gott vereinigen wollte, Männer
aber, welche direkt gegen alles Kirchentum und Priestertum, gegen
Dogmen, Schrift und Sakrament ins Feld zogen. So verwarf z. B.
Amalrich von Chartres (gest. 1209), Professor der Theologie in Paris,
das gesamte Alte Testament und alle Sakramente, indem er einzig die
unmittelbare Offenbarung Gottes im Herzen jedes Individuums gelten
liess. Hieraus entstand der Bund der »Brüder des freien Geistes«,
eine, wie es scheint, ziemlich lascive und gewaltthätige Vereinigung.
Andere wiederum, wie Johannes Wessel (1419—89), errangen durch
grössere Mässigung grössere Erfolge; Wessel steht durchaus auf dem
mystischen Standpunkt der Religion als eines inneren, gegenwärtigen
Erlebnisses, doch erblickt er in der Gestalt Christi die göttlich treibende

1) Mysterium magnum 8, 18.
2) Sendbrief vom 18. I. 1618, § 10.
3) Mysterium magnum 8, 24.
4) Vergl. z. B. die kleine Schrift von Dr. Albert Peip: Jakob Böhme 1860,
S. 16 fg.
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[881/0360] Weltanschauung und Religion. auf die Worte Christi »das Reich Gottes kommt nicht mit äusser- lichen Gebärden« berufen kann und auch thatsächlich beruft — »die englische Welt ist im Loco oder Ort dieser Welt innerlich« 1) — neu aber im Gegensatz zu allen christlichen Kirchen. »Der rechte heilige Mensch, so in dem monstrosischen verborgen ist, ist sowohl im Himmel als Gott, und der Himmel ist in ihm.« 2) Und Böhme geht furchtlos weiter und leugnet den absoluten Unterschied zwischen Gutem und Bösem; der innere Grund der Seele, sagt er, ist weder gut noch böse, Gott selber ist beides: »Er ist selber alles Wesen, er ist Böses und Gutes, Himmel und Hölle, Licht und Finsternis;« 3) erst der Wille »scheidet« in der Masse der indifferenten Handlungen, erst durch den Willen des Vollbringers wird eine That gut oder böse. Das ist die reine indische Lehre; dass sie der Lehre der christlichen Kirche »schlecht- hin widerstreite«, haben die Theologen längst und ohne Mühe gezeigt. 4) Während nun die genannten Mystiker und die unübersehbare Schar derjenigen, welche ähnlich dachten, gleichviel ob Protestanten oder Katholiken, innerhalb der Kirche verblieben, ohne zu ahnen, wie gründ- lich sie das mühsam errichtete Gebäude unterminierten, gab es grosse Gruppen von Mystikern, welche vielleicht in der inneren Auffassung des Wesens der Religion weniger weit gingen als die Theologia deutsch und Jakob Böhme, oder als jene heilige Frau Antoinette Bourignon (1616—80), die alle Sekten durch Aufhebung der Schriftlehren und einzige Betonung der Sehnsucht nach Gott vereinigen wollte, Männer aber, welche direkt gegen alles Kirchentum und Priestertum, gegen Dogmen, Schrift und Sakrament ins Feld zogen. So verwarf z. B. Amalrich von Chartres (gest. 1209), Professor der Theologie in Paris, das gesamte Alte Testament und alle Sakramente, indem er einzig die unmittelbare Offenbarung Gottes im Herzen jedes Individuums gelten liess. Hieraus entstand der Bund der »Brüder des freien Geistes«, eine, wie es scheint, ziemlich lascive und gewaltthätige Vereinigung. Andere wiederum, wie Johannes Wessel (1419—89), errangen durch grössere Mässigung grössere Erfolge; Wessel steht durchaus auf dem mystischen Standpunkt der Religion als eines inneren, gegenwärtigen Erlebnisses, doch erblickt er in der Gestalt Christi die göttlich treibende 1) Mysterium magnum 8, 18. 2) Sendbrief vom 18. I. 1618, § 10. 3) Mysterium magnum 8, 24. 4) Vergl. z. B. die kleine Schrift von Dr. Albert Peip: Jakob Böhme 1860, S. 16 fg.

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Zitationshilfe: Chamberlain, Houston Stewart: Die Grundlagen des Neunzehnten Jahrhunderts. Bd. 2. München 1899, S. 881. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/chamberlain_grundlagen02_1899/360>, abgerufen am 29.04.2024.