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Chamberlain, Houston Stewart: Die Grundlagen des Neunzehnten Jahrhunderts. Bd. 2. München 1899.

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Die Entstehung einer neuen Welt.
scheinung (mitsamt unserm Leibe) nicht völlig erschöpft wird, dass
vielmehr ein direkter Antagonismus besteht zwischen der Welt, die
wir mit den Sinnen erfassen und mit dem Hirn denken und den
unzweifelhaftesten Erfahrungen unseres Lebens. So z. B. die Freiheit:
Kant hat ein für allemal dargethan, dass "keine Vernunft die Möglich-
keit der Freiheit erklären könne;"1) denn Natur und Freiheit sind
Gegensätze; wer als eingefleischter Realist dies leugnet, wird, sobald
er der Frage bis in ihre letzten Konsequenzen nachgeht, finden, dass
ihm "weder Natur noch Freiheit übrig bleibt."2) Der Natur gegen-
über ist die Freiheit einfach ein schlechthin Undenkbares. "Was Frei-
heit in praktischer Beziehung sei, verstehen wir gar wohl, in theore-
tischer Absicht aber, was ihre Natur betrifft, können wir ohne Wider-
spruch nicht einmal daran denken, sie verstehen zu wollen;"3) denn:
"dass mein Wille meinen Arm bewegt, ist mir nicht verständlicher,
als wenn Jemand sagte, dass derselbe auch den Mond in seinem Kreise
zurückhalten könnte; der Unterschied ist nur dieser, dass ich jenes
erfahre, dieses aber niemals in meine Sinne gekommen ist."4) Jenes
aber -- die Freiheit des Willens meinen Arm zu bewegen -- erfahre
ich, und daher kommt Kant an andrem Orte zu dem unwiderlegbaren
Schluss: "Ich sage nun: ein jedes Wesen, das nicht anders, als unter
der Idee der Freiheit handeln kann, ist eben darum in praktischer
Rücksicht wirklich frei."5) Natürlich muss ich in einem Buch wie
dem vorliegenden jeder näheren metaphysischen Erörterung (wodurch
allerdings erst die Sache wirklich klar und überzeugend wird) aus-
weichen, doch hoffe ich genug gesagt zu haben, damit Jeder einsehe,
wie eng hier Weltanschauung und Religion zusammenhängen. Ein
derartiges Problem konnte den Juden nie in den Sinn kommen, da
sie weder die Natur noch ihr inneres Selbst weiter als hauttief be-
obachteten und auf dem kindlichen Standpunkt einer nach beiden
Seiten hin mit Scheuklappen versehenen Empirie stehen blieben; von
dem afrikanischen, ägyptischen und sonstigen Menschenauswurf, der
die christliche Kirche aufbauen half, braucht man nicht erst zu reden.

1) Über die Fortschritte der Metaphysik III.
2) Kritik der reinen Vernunft (Erläuterung der kosmologischen Idee der
Freiheit).
3) Religion innerhalb der Grenzen der blossen Vernunft, 3. Stück, 2. Abt., Punkt 3
der Allgem. Anmerkung.
4) Träume eines Geistersehers, Teil 2, Haupstück 3.
5) Grundlegung zur Metaphysik der Sitten, 3. Abschnitt.

Die Entstehung einer neuen Welt.
scheinung (mitsamt unserm Leibe) nicht völlig erschöpft wird, dass
vielmehr ein direkter Antagonismus besteht zwischen der Welt, die
wir mit den Sinnen erfassen und mit dem Hirn denken und den
unzweifelhaftesten Erfahrungen unseres Lebens. So z. B. die Freiheit:
Kant hat ein für allemal dargethan, dass »keine Vernunft die Möglich-
keit der Freiheit erklären könne;«1) denn Natur und Freiheit sind
Gegensätze; wer als eingefleischter Realist dies leugnet, wird, sobald
er der Frage bis in ihre letzten Konsequenzen nachgeht, finden, dass
ihm »weder Natur noch Freiheit übrig bleibt.«2) Der Natur gegen-
über ist die Freiheit einfach ein schlechthin Undenkbares. »Was Frei-
heit in praktischer Beziehung sei, verstehen wir gar wohl, in theore-
tischer Absicht aber, was ihre Natur betrifft, können wir ohne Wider-
spruch nicht einmal daran denken, sie verstehen zu wollen;«3) denn:
»dass mein Wille meinen Arm bewegt, ist mir nicht verständlicher,
als wenn Jemand sagte, dass derselbe auch den Mond in seinem Kreise
zurückhalten könnte; der Unterschied ist nur dieser, dass ich jenes
erfahre, dieses aber niemals in meine Sinne gekommen ist.«4) Jenes
aber — die Freiheit des Willens meinen Arm zu bewegen — erfahre
ich, und daher kommt Kant an andrem Orte zu dem unwiderlegbaren
Schluss: »Ich sage nun: ein jedes Wesen, das nicht anders, als unter
der Idee der Freiheit handeln kann, ist eben darum in praktischer
Rücksicht wirklich frei.«5) Natürlich muss ich in einem Buch wie
dem vorliegenden jeder näheren metaphysischen Erörterung (wodurch
allerdings erst die Sache wirklich klar und überzeugend wird) aus-
weichen, doch hoffe ich genug gesagt zu haben, damit Jeder einsehe,
wie eng hier Weltanschauung und Religion zusammenhängen. Ein
derartiges Problem konnte den Juden nie in den Sinn kommen, da
sie weder die Natur noch ihr inneres Selbst weiter als hauttief be-
obachteten und auf dem kindlichen Standpunkt einer nach beiden
Seiten hin mit Scheuklappen versehenen Empirie stehen blieben; von
dem afrikanischen, ägyptischen und sonstigen Menschenauswurf, der
die christliche Kirche aufbauen half, braucht man nicht erst zu reden.

1) Über die Fortschritte der Metaphysik III.
2) Kritik der reinen Vernunft (Erläuterung der kosmologischen Idee der
Freiheit).
3) Religion innerhalb der Grenzen der blossen Vernunft, 3. Stück, 2. Abt., Punkt 3
der Allgem. Anmerkung.
4) Träume eines Geistersehers, Teil 2, Haupstück 3.
5) Grundlegung zur Metaphysik der Sitten, 3. Abschnitt.
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[884/0363] Die Entstehung einer neuen Welt. scheinung (mitsamt unserm Leibe) nicht völlig erschöpft wird, dass vielmehr ein direkter Antagonismus besteht zwischen der Welt, die wir mit den Sinnen erfassen und mit dem Hirn denken und den unzweifelhaftesten Erfahrungen unseres Lebens. So z. B. die Freiheit: Kant hat ein für allemal dargethan, dass »keine Vernunft die Möglich- keit der Freiheit erklären könne;« 1) denn Natur und Freiheit sind Gegensätze; wer als eingefleischter Realist dies leugnet, wird, sobald er der Frage bis in ihre letzten Konsequenzen nachgeht, finden, dass ihm »weder Natur noch Freiheit übrig bleibt.« 2) Der Natur gegen- über ist die Freiheit einfach ein schlechthin Undenkbares. »Was Frei- heit in praktischer Beziehung sei, verstehen wir gar wohl, in theore- tischer Absicht aber, was ihre Natur betrifft, können wir ohne Wider- spruch nicht einmal daran denken, sie verstehen zu wollen;« 3) denn: »dass mein Wille meinen Arm bewegt, ist mir nicht verständlicher, als wenn Jemand sagte, dass derselbe auch den Mond in seinem Kreise zurückhalten könnte; der Unterschied ist nur dieser, dass ich jenes erfahre, dieses aber niemals in meine Sinne gekommen ist.« 4) Jenes aber — die Freiheit des Willens meinen Arm zu bewegen — erfahre ich, und daher kommt Kant an andrem Orte zu dem unwiderlegbaren Schluss: »Ich sage nun: ein jedes Wesen, das nicht anders, als unter der Idee der Freiheit handeln kann, ist eben darum in praktischer Rücksicht wirklich frei.« 5) Natürlich muss ich in einem Buch wie dem vorliegenden jeder näheren metaphysischen Erörterung (wodurch allerdings erst die Sache wirklich klar und überzeugend wird) aus- weichen, doch hoffe ich genug gesagt zu haben, damit Jeder einsehe, wie eng hier Weltanschauung und Religion zusammenhängen. Ein derartiges Problem konnte den Juden nie in den Sinn kommen, da sie weder die Natur noch ihr inneres Selbst weiter als hauttief be- obachteten und auf dem kindlichen Standpunkt einer nach beiden Seiten hin mit Scheuklappen versehenen Empirie stehen blieben; von dem afrikanischen, ägyptischen und sonstigen Menschenauswurf, der die christliche Kirche aufbauen half, braucht man nicht erst zu reden. 1) Über die Fortschritte der Metaphysik III. 2) Kritik der reinen Vernunft (Erläuterung der kosmologischen Idee der Freiheit). 3) Religion innerhalb der Grenzen der blossen Vernunft, 3. Stück, 2. Abt., Punkt 3 der Allgem. Anmerkung. 4) Träume eines Geistersehers, Teil 2, Haupstück 3. 5) Grundlegung zur Metaphysik der Sitten, 3. Abschnitt.

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Zitationshilfe: Chamberlain, Houston Stewart: Die Grundlagen des Neunzehnten Jahrhunderts. Bd. 2. München 1899, S. 884. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/chamberlain_grundlagen02_1899/363>, abgerufen am 29.04.2024.