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Chamberlain, Houston Stewart: Die Grundlagen des Neunzehnten Jahrhunderts. Bd. 2. München 1899.

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Weltanschauung und Religion.
Hier also -- wo es galt, die tiefsten Geheimnisse des Menschengeistes
zu erschliessen -- musste ein positiver Aufbau von Grund auf unter-
nommen werden; denn die Hellenen hatten hierfür wenig geleistet,1)
und die Inder waren noch ganz unbekannt. Augustinus -- seiner
wahren unverfälschten Anlage nach ein echter Mystiker -- hatte mit
seinen Betrachtungen über das Wesen der Zeit die Richtung gewiesen
(S. 599), und ebenso Abälard bezüglich des Raumes (S. 469), doch
erst die echten Mystiker gingen der Sache auf den Grund. Die Idealität
von Zeit und Raum werden sie nie müde zu betonen. "In dem Nau ist
alle Zeit beschlossen", sagt Eckhart mehr als einmal. Oder wiederum:
"Alles was in Gott ist, das ist ein gegenwärtig Nau, ohne Erneuerung
noch Werden".2) Besonders schlagend ist aber hier, wie so oft, der
schlesische Schuhmachermeister, denn bei ihm verlieren solche Erkennt-
nisse fast allen abstrakten Beigeschmack und reden unmittelbar aus dem
Gemüte zu dem Gemüte. Ist die Zeit nur eine bedingte Form der
Erfahrung, ist Gott "keiner Räumlichkeit unterworfen",3) dann ist
Ewigkeit auch nichts Zukünftiges, sondern wir fassen sie schon gegen-
wärtig ganz, und so schreibt Böhme seine berühmten Verse:

Weme ist Zeit wie Ewigkeit
Und Ewigkeit wie diese Zeit,
Der ist befreit von allem Streit.

Das andere, eng hiermit verkettete Problem der gleichzeitigen Herr-
schaft von Freiheit und Notwendigkeit war den Mystikern ebenfalls
stets gegenwärtig; sie reden viel von dem "eigenen" veränderlichen
Willen im Gegensatz zu dem "ewigen" unveränderlichen Willen (der
Notwendigkeit) und dergleichen mehr; und fand auch Kant erst des
Rätsels Lösung, so war doch ein Zeitgenosse Jakob Böhme's, des grossen
"Träumers der Empfindung", recht nahe daran gekommen. Giordano
Bruno, 1550--1600, einer der bedeutendsten "Träumer der Vernunft"
aller Zeiten, stellt nämlich das Paradoxon auf: Freiheit und Notwendig-
keit seien synonym! Eine kühne That echt mystischen Denkens,
welches sich nicht durch die Halfter einer rein formalen Logik in seinem
freien Laufe hindern lässt, sondern mit dem Auge des echten Forschers
nach aussen schaut und bekennt: das Gesetz der Natur ist Notwendig-
keit; dann aber das eigene Innere prüft und gesteht: mein Gesetz ist

1) Siehe S. 110 fg.
2) Predigt 95. der Pfeiffer'schen Ausgabe.
3) Beschreibung der drei Prinzipien göttlichen Wesens, Kap. 14, § 85.

Weltanschauung und Religion.
Hier also — wo es galt, die tiefsten Geheimnisse des Menschengeistes
zu erschliessen — musste ein positiver Aufbau von Grund auf unter-
nommen werden; denn die Hellenen hatten hierfür wenig geleistet,1)
und die Inder waren noch ganz unbekannt. Augustinus — seiner
wahren unverfälschten Anlage nach ein echter Mystiker — hatte mit
seinen Betrachtungen über das Wesen der Zeit die Richtung gewiesen
(S. 599), und ebenso Abälard bezüglich des Raumes (S. 469), doch
erst die echten Mystiker gingen der Sache auf den Grund. Die Idealität
von Zeit und Raum werden sie nie müde zu betonen. »In dem Nû ist
alle Zeit beschlossen«, sagt Eckhart mehr als einmal. Oder wiederum:
»Alles was in Gott ist, das ist ein gegenwärtig Nû, ohne Erneuerung
noch Werden«.2) Besonders schlagend ist aber hier, wie so oft, der
schlesische Schuhmachermeister, denn bei ihm verlieren solche Erkennt-
nisse fast allen abstrakten Beigeschmack und reden unmittelbar aus dem
Gemüte zu dem Gemüte. Ist die Zeit nur eine bedingte Form der
Erfahrung, ist Gott »keiner Räumlichkeit unterworfen«,3) dann ist
Ewigkeit auch nichts Zukünftiges, sondern wir fassen sie schon gegen-
wärtig ganz, und so schreibt Böhme seine berühmten Verse:

Weme ist Zeit wie Ewigkeit
Und Ewigkeit wie diese Zeit,
Der ist befreit von allem Streit.

Das andere, eng hiermit verkettete Problem der gleichzeitigen Herr-
schaft von Freiheit und Notwendigkeit war den Mystikern ebenfalls
stets gegenwärtig; sie reden viel von dem »eigenen« veränderlichen
Willen im Gegensatz zu dem »ewigen« unveränderlichen Willen (der
Notwendigkeit) und dergleichen mehr; und fand auch Kant erst des
Rätsels Lösung, so war doch ein Zeitgenosse Jakob Böhme’s, des grossen
»Träumers der Empfindung«, recht nahe daran gekommen. Giordano
Bruno, 1550—1600, einer der bedeutendsten »Träumer der Vernunft«
aller Zeiten, stellt nämlich das Paradoxon auf: Freiheit und Notwendig-
keit seien synonym! Eine kühne That echt mystischen Denkens,
welches sich nicht durch die Halfter einer rein formalen Logik in seinem
freien Laufe hindern lässt, sondern mit dem Auge des echten Forschers
nach aussen schaut und bekennt: das Gesetz der Natur ist Notwendig-
keit; dann aber das eigene Innere prüft und gesteht: mein Gesetz ist

1) Siehe S. 110 fg.
2) Predigt 95. der Pfeiffer’schen Ausgabe.
3) Beschreibung der drei Prinzipien göttlichen Wesens, Kap. 14, § 85.
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[885/0364] Weltanschauung und Religion. Hier also — wo es galt, die tiefsten Geheimnisse des Menschengeistes zu erschliessen — musste ein positiver Aufbau von Grund auf unter- nommen werden; denn die Hellenen hatten hierfür wenig geleistet, 1) und die Inder waren noch ganz unbekannt. Augustinus — seiner wahren unverfälschten Anlage nach ein echter Mystiker — hatte mit seinen Betrachtungen über das Wesen der Zeit die Richtung gewiesen (S. 599), und ebenso Abälard bezüglich des Raumes (S. 469), doch erst die echten Mystiker gingen der Sache auf den Grund. Die Idealität von Zeit und Raum werden sie nie müde zu betonen. »In dem Nû ist alle Zeit beschlossen«, sagt Eckhart mehr als einmal. Oder wiederum: »Alles was in Gott ist, das ist ein gegenwärtig Nû, ohne Erneuerung noch Werden«. 2) Besonders schlagend ist aber hier, wie so oft, der schlesische Schuhmachermeister, denn bei ihm verlieren solche Erkennt- nisse fast allen abstrakten Beigeschmack und reden unmittelbar aus dem Gemüte zu dem Gemüte. Ist die Zeit nur eine bedingte Form der Erfahrung, ist Gott »keiner Räumlichkeit unterworfen«, 3) dann ist Ewigkeit auch nichts Zukünftiges, sondern wir fassen sie schon gegen- wärtig ganz, und so schreibt Böhme seine berühmten Verse: Weme ist Zeit wie Ewigkeit Und Ewigkeit wie diese Zeit, Der ist befreit von allem Streit. Das andere, eng hiermit verkettete Problem der gleichzeitigen Herr- schaft von Freiheit und Notwendigkeit war den Mystikern ebenfalls stets gegenwärtig; sie reden viel von dem »eigenen« veränderlichen Willen im Gegensatz zu dem »ewigen« unveränderlichen Willen (der Notwendigkeit) und dergleichen mehr; und fand auch Kant erst des Rätsels Lösung, so war doch ein Zeitgenosse Jakob Böhme’s, des grossen »Träumers der Empfindung«, recht nahe daran gekommen. Giordano Bruno, 1550—1600, einer der bedeutendsten »Träumer der Vernunft« aller Zeiten, stellt nämlich das Paradoxon auf: Freiheit und Notwendig- keit seien synonym! Eine kühne That echt mystischen Denkens, welches sich nicht durch die Halfter einer rein formalen Logik in seinem freien Laufe hindern lässt, sondern mit dem Auge des echten Forschers nach aussen schaut und bekennt: das Gesetz der Natur ist Notwendig- keit; dann aber das eigene Innere prüft und gesteht: mein Gesetz ist 1) Siehe S. 110 fg. 2) Predigt 95. der Pfeiffer’schen Ausgabe. 3) Beschreibung der drei Prinzipien göttlichen Wesens, Kap. 14, § 85.

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Zitationshilfe: Chamberlain, Houston Stewart: Die Grundlagen des Neunzehnten Jahrhunderts. Bd. 2. München 1899, S. 885. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/chamberlain_grundlagen02_1899/364>, abgerufen am 29.04.2024.