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Chamberlain, Houston Stewart: Die Grundlagen des Neunzehnten Jahrhunderts. Bd. 2. München 1899.

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Die Entstehung einer neuen Welt.
Freiheit.1) Soviel über den Beitrag der Mystiker zum positiven Auf-
bau einer neuen Metaphysik.

Wichtiger noch ist natürlich ihr Wirken für die Gewinnung einer
reinen Sittenlehre. Das Wesentlichste hierbei ist schon oben angegeben:
die Verlegung des sittlichen Wertes in den Willen, rein als solchen;
die Religion nicht ein Handeln mit Rücksicht auf zukünftigen Lohn
und zukünftige Strafe, sondern eine gegenwärtige That, eine Erfassung
der Ewigkeit im gegenwärtigen Augenblick. Hierdurch entsteht offen-
bar ein ganz anderer Begriff der Sünde und folglich auch der Tugend
als derjenige, den die christliche Kirche vom Judentum geerbt hat.
So führt z. B. Eckhart aus: nicht der Mann könne tugendhaft ge-
heissen werden, der die Werke vollbringe wie sie die Tugend gebiete,
sondern der allein sei tugendhaft, der diese Werke, "aus Tugend"
wirke; und nicht durch Gebet könne ein Herz rein werden, sondern
aus einem reinen Herzen entfliesse das reine Gebet.2) Diesem Gedanken
begegnen wir bei allen Mystikern als Mittelpunkt ihres Glaubens an
tausend Orten; er bildet den Kern von Luther's Religion;3) den voll-
kommensten Ausdruck fand er durch Kant: "Es ist überall nichts
in der Welt, ja überhaupt auch ausser derselben zu denken möglich,
was ohne Einschränkung für gut könnte gehalten werden, als allein
ein guter Wille. Der gute Wille ist nicht durch das, was er be-
wirkt oder ausrichtet, nicht durch seine Tauglichkeit zur Erreichung
irgend eines vorgesetzten Zweckes, sondern allein durch das Wollen,
das ist, an sich gut ..... Wenngleich durch eine besondere Un-
gunst des Schicksals, oder durch kärgliche Ausstattung einer stiefmütter-
lichen Natur es diesem Wollen gänzlich an Vermögen fehlte, seine
Absicht durchzusetzen, wenn bei seiner grössten Bestrebung dennoch

1) Man vergl. De immenso et innumerabilibus I, 11 und Del infinito, universo
e mondi,
gegen Schluss des ersten Dialogs. Hier wird durch geniale Intuition genau
dasselbe entdeckt, was Kant zweihundert Jahre später durch geniale Kritik feststellte:
"Natur und Freiheit können ohne Widerspruch ebendemselben Dinge, aber in ver-
schiedener Beziehung, einmal als Erscheinung, das andere Mal als einem Ding an
sich selbst beigelegt werden" (Prolegomena § 53).
2) Spruch 43.
3) Vergl. die ganze Schrift über die Freiheit eines Christenmenschen. Wie neu
und direkt antirömisch dieser Gedanke erschien, erhellt sehr klar aus Hans Sachsen's:
Disputation zwischen einem Chorherren und Schuchmacher (1524), in welcher die Lehre,
dass "gute Werke geschehen nicht den Himmel zu verdienen, auch nicht aus Furcht
der Hölle" ganz speziell als "Luther's Frucht" von dem Schuster gegen den Priester
verteidigt wird.

Die Entstehung einer neuen Welt.
Freiheit.1) Soviel über den Beitrag der Mystiker zum positiven Auf-
bau einer neuen Metaphysik.

Wichtiger noch ist natürlich ihr Wirken für die Gewinnung einer
reinen Sittenlehre. Das Wesentlichste hierbei ist schon oben angegeben:
die Verlegung des sittlichen Wertes in den Willen, rein als solchen;
die Religion nicht ein Handeln mit Rücksicht auf zukünftigen Lohn
und zukünftige Strafe, sondern eine gegenwärtige That, eine Erfassung
der Ewigkeit im gegenwärtigen Augenblick. Hierdurch entsteht offen-
bar ein ganz anderer Begriff der Sünde und folglich auch der Tugend
als derjenige, den die christliche Kirche vom Judentum geerbt hat.
So führt z. B. Eckhart aus: nicht der Mann könne tugendhaft ge-
heissen werden, der die Werke vollbringe wie sie die Tugend gebiete,
sondern der allein sei tugendhaft, der diese Werke, »aus Tugend«
wirke; und nicht durch Gebet könne ein Herz rein werden, sondern
aus einem reinen Herzen entfliesse das reine Gebet.2) Diesem Gedanken
begegnen wir bei allen Mystikern als Mittelpunkt ihres Glaubens an
tausend Orten; er bildet den Kern von Luther’s Religion;3) den voll-
kommensten Ausdruck fand er durch Kant: »Es ist überall nichts
in der Welt, ja überhaupt auch ausser derselben zu denken möglich,
was ohne Einschränkung für gut könnte gehalten werden, als allein
ein guter Wille. Der gute Wille ist nicht durch das, was er be-
wirkt oder ausrichtet, nicht durch seine Tauglichkeit zur Erreichung
irgend eines vorgesetzten Zweckes, sondern allein durch das Wollen,
das ist, an sich gut ..... Wenngleich durch eine besondere Un-
gunst des Schicksals, oder durch kärgliche Ausstattung einer stiefmütter-
lichen Natur es diesem Wollen gänzlich an Vermögen fehlte, seine
Absicht durchzusetzen, wenn bei seiner grössten Bestrebung dennoch

1) Man vergl. De immenso et innumerabilibus I, 11 und Del infinito, universo
e mondi,
gegen Schluss des ersten Dialogs. Hier wird durch geniale Intuition genau
dasselbe entdeckt, was Kant zweihundert Jahre später durch geniale Kritik feststellte:
»Natur und Freiheit können ohne Widerspruch ebendemselben Dinge, aber in ver-
schiedener Beziehung, einmal als Erscheinung, das andere Mal als einem Ding an
sich selbst beigelegt werden« (Prolegomena § 53).
2) Spruch 43.
3) Vergl. die ganze Schrift über die Freiheit eines Christenmenschen. Wie neu
und direkt antirömisch dieser Gedanke erschien, erhellt sehr klar aus Hans Sachsen’s:
Disputation zwischen einem Chorherren und Schuchmacher (1524), in welcher die Lehre,
dass »gute Werke geschehen nicht den Himmel zu verdienen, auch nicht aus Furcht
der Hölle« ganz speziell als »Luther’s Frucht« von dem Schuster gegen den Priester
verteidigt wird.
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[886/0365] Die Entstehung einer neuen Welt. Freiheit. 1) Soviel über den Beitrag der Mystiker zum positiven Auf- bau einer neuen Metaphysik. Wichtiger noch ist natürlich ihr Wirken für die Gewinnung einer reinen Sittenlehre. Das Wesentlichste hierbei ist schon oben angegeben: die Verlegung des sittlichen Wertes in den Willen, rein als solchen; die Religion nicht ein Handeln mit Rücksicht auf zukünftigen Lohn und zukünftige Strafe, sondern eine gegenwärtige That, eine Erfassung der Ewigkeit im gegenwärtigen Augenblick. Hierdurch entsteht offen- bar ein ganz anderer Begriff der Sünde und folglich auch der Tugend als derjenige, den die christliche Kirche vom Judentum geerbt hat. So führt z. B. Eckhart aus: nicht der Mann könne tugendhaft ge- heissen werden, der die Werke vollbringe wie sie die Tugend gebiete, sondern der allein sei tugendhaft, der diese Werke, »aus Tugend« wirke; und nicht durch Gebet könne ein Herz rein werden, sondern aus einem reinen Herzen entfliesse das reine Gebet. 2) Diesem Gedanken begegnen wir bei allen Mystikern als Mittelpunkt ihres Glaubens an tausend Orten; er bildet den Kern von Luther’s Religion; 3) den voll- kommensten Ausdruck fand er durch Kant: »Es ist überall nichts in der Welt, ja überhaupt auch ausser derselben zu denken möglich, was ohne Einschränkung für gut könnte gehalten werden, als allein ein guter Wille. Der gute Wille ist nicht durch das, was er be- wirkt oder ausrichtet, nicht durch seine Tauglichkeit zur Erreichung irgend eines vorgesetzten Zweckes, sondern allein durch das Wollen, das ist, an sich gut ..... Wenngleich durch eine besondere Un- gunst des Schicksals, oder durch kärgliche Ausstattung einer stiefmütter- lichen Natur es diesem Wollen gänzlich an Vermögen fehlte, seine Absicht durchzusetzen, wenn bei seiner grössten Bestrebung dennoch 1) Man vergl. De immenso et innumerabilibus I, 11 und Del infinito, universo e mondi, gegen Schluss des ersten Dialogs. Hier wird durch geniale Intuition genau dasselbe entdeckt, was Kant zweihundert Jahre später durch geniale Kritik feststellte: »Natur und Freiheit können ohne Widerspruch ebendemselben Dinge, aber in ver- schiedener Beziehung, einmal als Erscheinung, das andere Mal als einem Ding an sich selbst beigelegt werden« (Prolegomena § 53). 2) Spruch 43. 3) Vergl. die ganze Schrift über die Freiheit eines Christenmenschen. Wie neu und direkt antirömisch dieser Gedanke erschien, erhellt sehr klar aus Hans Sachsen’s: Disputation zwischen einem Chorherren und Schuchmacher (1524), in welcher die Lehre, dass »gute Werke geschehen nicht den Himmel zu verdienen, auch nicht aus Furcht der Hölle« ganz speziell als »Luther’s Frucht« von dem Schuster gegen den Priester verteidigt wird.

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Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




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Zitationshilfe: Chamberlain, Houston Stewart: Die Grundlagen des Neunzehnten Jahrhunderts. Bd. 2. München 1899, S. 886. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/chamberlain_grundlagen02_1899/365>, abgerufen am 29.04.2024.