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Chamberlain, Houston Stewart: Die Grundlagen des Neunzehnten Jahrhunderts. Bd. 2. München 1899.

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Weltanschauung und Religion.
sie dünkte ihm "tot", und er meinte, die Hauptsache sei: "der Schluss
von der grossen Natur -- dem äusseren Menschen -- auf die kleine
Natur des Individuums". Doch um diesem äusseren Menschen bei-
zukommen, stellt er zwei Prinzipien auf, die für alle Naturwissen-
schaft grundlegend wurden: Beobachtung und Experiment. Hierdurch
gelang es ihm, als Erster, eine rationelle Pathologie zu begründen:
"Fieber sind Stürme, die sich selbst heilen," u. s. w.; ebenfalls eine
rationelle Therapie: Ziel der Medizin soll sein, das Heilbestreben
der Natur zu unterstützen. Und wie schön ist nicht seine Mahnung
an die jungen Ärzte: "Der höchste Grund der Arznei ist die
Liebe -- -- die Liebe ist es, die die Kunst lehrt und ausser der-
selbigen wird kein Arzt geboren."1) Und noch ein Verdienst dieses
abenteuerlichen Mystikers bleibe nicht unerwähnt: er war der Erste,
welcher die deutsche Sprache in die Universität einführte! Wahrheit
und Freiheit war eben der Leitspruch aller echten Mystik; darum ver-
bannte ihr Apostel die Sprache der privilegierten erlogenen Gelehrsam-
keit aus den Hörsälen und weigerte sich ebenfalls standhaft, die rote
Livree der Fakultät anzuziehen: "die hohen Schulen geben allein den
roten Rock, Barett und weiter einen vierecketen Narren". Noch
Vieles hat die Mystik, ganz besonders auf dem Felde der Medizin
und der Chemie, geleistet. So erfand z. B. der Mystiker van Helmont,
1577--1644, das schmerzstillende Laudanum und entdeckte die Kohlen-
säure; er war der Erste, der die wahre Natur der Hysterie, der Ka-
tarrhe etc. erkannte. Glisson, 1597--1677, der durch seine Entdeckung
der Irritabilität der belebten Faser unsere Kenntnis des tierischen Organis-
mus um einen Riesenschritt förderte, war ein ausgesprochener Mystiker,
bei dem, nach eigenem Geständnis, das "innere Sinnen" das Skalpell
führte.2) Diese Liste könnte man leicht verlängern; doch genügt es,
die Thatsache hervorgehoben zu haben. Der Mystiker hat -- wir sehen
es an Stahl mit seinem Phlogiston3) und an dem grossen Astronomen
Kepler (ein ebenso eifriger Mystiker als Protestant) -- viele Genieblitze auf

1) Vergl. Kahlbaum: Theophrastus Paracelsus, Basel 1894, S. 63. In diesem
Vortrag wird viel neues Material ans Licht gebracht, welches die Lügenhaftigkeit
der Anklagen gegen den grossen Mann -- Trunksucht, wüstes Leben u. s. w. --
darthut. Auch die Märe, dass er Latein nicht fliessend gesprochen und geschrieben
hat, wird widerlegt.
2) Dass die Lehre der Erregbarkeit von Glisson und nicht von Haller her-
rührt, führt Virchow in dem obengenannten Vortrag aus.
3) S. 803 fg.
Chamberlain, Grundlagen des XIX. Jahrhunderts. 57

Weltanschauung und Religion.
sie dünkte ihm »tot«, und er meinte, die Hauptsache sei: »der Schluss
von der grossen Natur — dem äusseren Menschen — auf die kleine
Natur des Individuums«. Doch um diesem äusseren Menschen bei-
zukommen, stellt er zwei Prinzipien auf, die für alle Naturwissen-
schaft grundlegend wurden: Beobachtung und Experiment. Hierdurch
gelang es ihm, als Erster, eine rationelle Pathologie zu begründen:
»Fieber sind Stürme, die sich selbst heilen,« u. s. w.; ebenfalls eine
rationelle Therapie: Ziel der Medizin soll sein, das Heilbestreben
der Natur zu unterstützen. Und wie schön ist nicht seine Mahnung
an die jungen Ärzte: »Der höchste Grund der Arznei ist die
Liebe — — die Liebe ist es, die die Kunst lehrt und ausser der-
selbigen wird kein Arzt geboren.«1) Und noch ein Verdienst dieses
abenteuerlichen Mystikers bleibe nicht unerwähnt: er war der Erste,
welcher die deutsche Sprache in die Universität einführte! Wahrheit
und Freiheit war eben der Leitspruch aller echten Mystik; darum ver-
bannte ihr Apostel die Sprache der privilegierten erlogenen Gelehrsam-
keit aus den Hörsälen und weigerte sich ebenfalls standhaft, die rote
Livrée der Fakultät anzuziehen: »die hohen Schulen geben allein den
roten Rock, Barett und weiter einen vierecketen Narren«. Noch
Vieles hat die Mystik, ganz besonders auf dem Felde der Medizin
und der Chemie, geleistet. So erfand z. B. der Mystiker van Helmont,
1577—1644, das schmerzstillende Laudanum und entdeckte die Kohlen-
säure; er war der Erste, der die wahre Natur der Hysterie, der Ka-
tarrhe etc. erkannte. Glisson, 1597—1677, der durch seine Entdeckung
der Irritabilität der belebten Faser unsere Kenntnis des tierischen Organis-
mus um einen Riesenschritt förderte, war ein ausgesprochener Mystiker,
bei dem, nach eigenem Geständnis, das »innere Sinnen« das Skalpell
führte.2) Diese Liste könnte man leicht verlängern; doch genügt es,
die Thatsache hervorgehoben zu haben. Der Mystiker hat — wir sehen
es an Stahl mit seinem Phlogiston3) und an dem grossen Astronomen
Kepler (ein ebenso eifriger Mystiker als Protestant) — viele Genieblitze auf

1) Vergl. Kahlbaum: Theophrastus Paracelsus, Basel 1894, S. 63. In diesem
Vortrag wird viel neues Material ans Licht gebracht, welches die Lügenhaftigkeit
der Anklagen gegen den grossen Mann — Trunksucht, wüstes Leben u. s. w. —
darthut. Auch die Märe, dass er Latein nicht fliessend gesprochen und geschrieben
hat, wird widerlegt.
2) Dass die Lehre der Erregbarkeit von Glisson und nicht von Haller her-
rührt, führt Virchow in dem obengenannten Vortrag aus.
3) S. 803 fg.
Chamberlain, Grundlagen des XIX. Jahrhunderts. 57
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[889/0368] Weltanschauung und Religion. sie dünkte ihm »tot«, und er meinte, die Hauptsache sei: »der Schluss von der grossen Natur — dem äusseren Menschen — auf die kleine Natur des Individuums«. Doch um diesem äusseren Menschen bei- zukommen, stellt er zwei Prinzipien auf, die für alle Naturwissen- schaft grundlegend wurden: Beobachtung und Experiment. Hierdurch gelang es ihm, als Erster, eine rationelle Pathologie zu begründen: »Fieber sind Stürme, die sich selbst heilen,« u. s. w.; ebenfalls eine rationelle Therapie: Ziel der Medizin soll sein, das Heilbestreben der Natur zu unterstützen. Und wie schön ist nicht seine Mahnung an die jungen Ärzte: »Der höchste Grund der Arznei ist die Liebe — — die Liebe ist es, die die Kunst lehrt und ausser der- selbigen wird kein Arzt geboren.« 1) Und noch ein Verdienst dieses abenteuerlichen Mystikers bleibe nicht unerwähnt: er war der Erste, welcher die deutsche Sprache in die Universität einführte! Wahrheit und Freiheit war eben der Leitspruch aller echten Mystik; darum ver- bannte ihr Apostel die Sprache der privilegierten erlogenen Gelehrsam- keit aus den Hörsälen und weigerte sich ebenfalls standhaft, die rote Livrée der Fakultät anzuziehen: »die hohen Schulen geben allein den roten Rock, Barett und weiter einen vierecketen Narren«. Noch Vieles hat die Mystik, ganz besonders auf dem Felde der Medizin und der Chemie, geleistet. So erfand z. B. der Mystiker van Helmont, 1577—1644, das schmerzstillende Laudanum und entdeckte die Kohlen- säure; er war der Erste, der die wahre Natur der Hysterie, der Ka- tarrhe etc. erkannte. Glisson, 1597—1677, der durch seine Entdeckung der Irritabilität der belebten Faser unsere Kenntnis des tierischen Organis- mus um einen Riesenschritt förderte, war ein ausgesprochener Mystiker, bei dem, nach eigenem Geständnis, das »innere Sinnen« das Skalpell führte. 2) Diese Liste könnte man leicht verlängern; doch genügt es, die Thatsache hervorgehoben zu haben. Der Mystiker hat — wir sehen es an Stahl mit seinem Phlogiston 3) und an dem grossen Astronomen Kepler (ein ebenso eifriger Mystiker als Protestant) — viele Genieblitze auf 1) Vergl. Kahlbaum: Theophrastus Paracelsus, Basel 1894, S. 63. In diesem Vortrag wird viel neues Material ans Licht gebracht, welches die Lügenhaftigkeit der Anklagen gegen den grossen Mann — Trunksucht, wüstes Leben u. s. w. — darthut. Auch die Märe, dass er Latein nicht fliessend gesprochen und geschrieben hat, wird widerlegt. 2) Dass die Lehre der Erregbarkeit von Glisson und nicht von Haller her- rührt, führt Virchow in dem obengenannten Vortrag aus. 3) S. 803 fg. Chamberlain, Grundlagen des XIX. Jahrhunderts. 57

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Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




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Zitationshilfe: Chamberlain, Houston Stewart: Die Grundlagen des Neunzehnten Jahrhunderts. Bd. 2. München 1899, S. 889. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/chamberlain_grundlagen02_1899/368>, abgerufen am 29.04.2024.