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Chamberlain, Houston Stewart: Die Grundlagen des Neunzehnten Jahrhunderts. Bd. 2. München 1899.

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Die Entstehung einer neuen Welt.
den Weg der Naturwissenschaft und der auf Naturforschung gegründeten
Philosophie geworfen. Zwar war er kein zuverlässiger Führer und
kein zuverlässiger Arbeiter; man lasse ihm aber seine Verdienste auch
auf diesem Gebiete. Unsere Naturkunde wird diesen Hellseher auch
in Zukunft nie ganz entbehren können. Nicht allein entdeckt er Vieles,
wie wir soeben gesehen haben, nicht allein füllt er mit seinem Ideen-
reichtum das häufig recht leere Arsenal der sogenannten Empiriker
(so schreibt z. B. Francis Bacon kapitelweise aus Paracelsus ab, ohne
ihn zu citieren), sondern es ist ihm ein gewisser Instinkt zu eigen,
der durch nichts auf der Welt ersetzt werden kann und den besonnenere
Männer verstehen müssen, sich zu Nutz zu machen. "Die undeutliche
Erkenntnis trägt Keime der deutlichen Erkenntnis in sich," begriff
schon in vorigem Jahrhundert der Philosoph Baumgarten.1) Darüber
hat Kant ein tiefes Wort. Man weiss, dass gerade dieser Philosoph
keine andere Deutung der empirischen Phänomene als die mechanische
anerkennt, und zwar, wie er überzeugend ausführt, "weil einzig und
allein diejenigen Gründe der Welterscheinungen, welche auf den Be-
wegungsgesetzen der blossen Materie beruhen, der Begreiflichkeit fähig
sind"; das verhindert ihn aber nicht, über die in unseren Tagen so
sehr verhöhnte Lebenskraft des oben erwähnten Stahl die beherzigens-
werte Äusserung zu thun: "Gleichwohl bin ich überzeugt, dass Stahl,
welcher die tierischen Veränderungen gerne organisch erklärt, oftmals
der Wahrheit näher sei, als Hofmann, Boerhaave und Andere mehr,
welche die immateriellen Kräfte aus dem Zusammenhange lassen und
sich an die mechanischen Gründe halten."2) Und ich meine nun,
diese Männer, welche "der Wahrheit näher stehen", haben sich bei
dem Aufbau unserer neuen Wissenschaft und Weltanschauung ein be-
deutendes Verdienst erworben und wir können sie auch in Gegenwart
und Zukunft nicht entbehren.

Hier führt ein schmaler Steg auf höchsten Höhen -- nur aus-
erlesenen Geistern zugänglich -- hinüber zu jener der mystischen nahe
verwandten künstlerischen Anschauung, deren Bedeutung Goethe noch
vor Schluss des 18. Jahrhunderts uns erschloss. Seine Entdeckung des
Zwischenknochens des Oberkiefers fand im Jahre 1784 statt, die Meta-
morphose der Pflanzen erschien 1790, die Einleitung in die vergleichende
Anatomie 1795. Hier war das "Schwärmen", das Luther's Zorn ge-

1) Citirt nach Heinrich von Stein: Entstehung der neueren Ästhetik, 1886,
S. 353 fg.
2) Träume eines Geistersehers, Teil I, Hauptst. 2.

Die Entstehung einer neuen Welt.
den Weg der Naturwissenschaft und der auf Naturforschung gegründeten
Philosophie geworfen. Zwar war er kein zuverlässiger Führer und
kein zuverlässiger Arbeiter; man lasse ihm aber seine Verdienste auch
auf diesem Gebiete. Unsere Naturkunde wird diesen Hellseher auch
in Zukunft nie ganz entbehren können. Nicht allein entdeckt er Vieles,
wie wir soeben gesehen haben, nicht allein füllt er mit seinem Ideen-
reichtum das häufig recht leere Arsenal der sogenannten Empiriker
(so schreibt z. B. Francis Bacon kapitelweise aus Paracelsus ab, ohne
ihn zu citieren), sondern es ist ihm ein gewisser Instinkt zu eigen,
der durch nichts auf der Welt ersetzt werden kann und den besonnenere
Männer verstehen müssen, sich zu Nutz zu machen. »Die undeutliche
Erkenntnis trägt Keime der deutlichen Erkenntnis in sich,« begriff
schon in vorigem Jahrhundert der Philosoph Baumgarten.1) Darüber
hat Kant ein tiefes Wort. Man weiss, dass gerade dieser Philosoph
keine andere Deutung der empirischen Phänomene als die mechanische
anerkennt, und zwar, wie er überzeugend ausführt, »weil einzig und
allein diejenigen Gründe der Welterscheinungen, welche auf den Be-
wegungsgesetzen der blossen Materie beruhen, der Begreiflichkeit fähig
sind«; das verhindert ihn aber nicht, über die in unseren Tagen so
sehr verhöhnte Lebenskraft des oben erwähnten Stahl die beherzigens-
werte Äusserung zu thun: »Gleichwohl bin ich überzeugt, dass Stahl,
welcher die tierischen Veränderungen gerne organisch erklärt, oftmals
der Wahrheit näher sei, als Hofmann, Boerhaave und Andere mehr,
welche die immateriellen Kräfte aus dem Zusammenhange lassen und
sich an die mechanischen Gründe halten.«2) Und ich meine nun,
diese Männer, welche »der Wahrheit näher stehen«, haben sich bei
dem Aufbau unserer neuen Wissenschaft und Weltanschauung ein be-
deutendes Verdienst erworben und wir können sie auch in Gegenwart
und Zukunft nicht entbehren.

Hier führt ein schmaler Steg auf höchsten Höhen — nur aus-
erlesenen Geistern zugänglich — hinüber zu jener der mystischen nahe
verwandten künstlerischen Anschauung, deren Bedeutung Goethe noch
vor Schluss des 18. Jahrhunderts uns erschloss. Seine Entdeckung des
Zwischenknochens des Oberkiefers fand im Jahre 1784 statt, die Meta-
morphose der Pflanzen erschien 1790, die Einleitung in die vergleichende
Anatomie 1795. Hier war das »Schwärmen«, das Luther’s Zorn ge-

1) Citirt nach Heinrich von Stein: Entstehung der neueren Ästhetik, 1886,
S. 353 fg.
2) Träume eines Geistersehers, Teil I, Hauptst. 2.
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[890/0369] Die Entstehung einer neuen Welt. den Weg der Naturwissenschaft und der auf Naturforschung gegründeten Philosophie geworfen. Zwar war er kein zuverlässiger Führer und kein zuverlässiger Arbeiter; man lasse ihm aber seine Verdienste auch auf diesem Gebiete. Unsere Naturkunde wird diesen Hellseher auch in Zukunft nie ganz entbehren können. Nicht allein entdeckt er Vieles, wie wir soeben gesehen haben, nicht allein füllt er mit seinem Ideen- reichtum das häufig recht leere Arsenal der sogenannten Empiriker (so schreibt z. B. Francis Bacon kapitelweise aus Paracelsus ab, ohne ihn zu citieren), sondern es ist ihm ein gewisser Instinkt zu eigen, der durch nichts auf der Welt ersetzt werden kann und den besonnenere Männer verstehen müssen, sich zu Nutz zu machen. »Die undeutliche Erkenntnis trägt Keime der deutlichen Erkenntnis in sich,« begriff schon in vorigem Jahrhundert der Philosoph Baumgarten. 1) Darüber hat Kant ein tiefes Wort. Man weiss, dass gerade dieser Philosoph keine andere Deutung der empirischen Phänomene als die mechanische anerkennt, und zwar, wie er überzeugend ausführt, »weil einzig und allein diejenigen Gründe der Welterscheinungen, welche auf den Be- wegungsgesetzen der blossen Materie beruhen, der Begreiflichkeit fähig sind«; das verhindert ihn aber nicht, über die in unseren Tagen so sehr verhöhnte Lebenskraft des oben erwähnten Stahl die beherzigens- werte Äusserung zu thun: »Gleichwohl bin ich überzeugt, dass Stahl, welcher die tierischen Veränderungen gerne organisch erklärt, oftmals der Wahrheit näher sei, als Hofmann, Boerhaave und Andere mehr, welche die immateriellen Kräfte aus dem Zusammenhange lassen und sich an die mechanischen Gründe halten.« 2) Und ich meine nun, diese Männer, welche »der Wahrheit näher stehen«, haben sich bei dem Aufbau unserer neuen Wissenschaft und Weltanschauung ein be- deutendes Verdienst erworben und wir können sie auch in Gegenwart und Zukunft nicht entbehren. Hier führt ein schmaler Steg auf höchsten Höhen — nur aus- erlesenen Geistern zugänglich — hinüber zu jener der mystischen nahe verwandten künstlerischen Anschauung, deren Bedeutung Goethe noch vor Schluss des 18. Jahrhunderts uns erschloss. Seine Entdeckung des Zwischenknochens des Oberkiefers fand im Jahre 1784 statt, die Meta- morphose der Pflanzen erschien 1790, die Einleitung in die vergleichende Anatomie 1795. Hier war das »Schwärmen«, das Luther’s Zorn ge- 1) Citirt nach Heinrich von Stein: Entstehung der neueren Ästhetik, 1886, S. 353 fg. 2) Träume eines Geistersehers, Teil I, Hauptst. 2.

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Zitationshilfe: Chamberlain, Houston Stewart: Die Grundlagen des Neunzehnten Jahrhunderts. Bd. 2. München 1899, S. 890. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/chamberlain_grundlagen02_1899/369>, abgerufen am 29.04.2024.