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Chamberlain, Houston Stewart: Die Grundlagen des Neunzehnten Jahrhunderts. Bd. 2. München 1899.

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Weltanschauung und Religion.
gabung kommen im vorigen Jahrhundert durch Voltaire zu gleich
kräftigem Ausdruck.

Der wichtigste Beitrag der Humanisten zum positiven Aufbau
einer germanischen Weltanschauung ist die Wiederanknüpfung unseres
geistigen Lebens an die uns verwandten Indoeuropäer, zunächst also
an die Hellenen (der eigentliche Humanist unseres 19. Jahrhunderts
war der Indolog), und sodann, in Anlehnung hieran, die allmähliche
Ausarbeitung der Vorstellung "Mensch" überhaupt. Der Mystiker hatte
die Zeit und damit auch die Geschichte vernichtet -- eine durchaus
berechtigte Reaktion gegen den Missbrauch der Geschichte durch die
Kirche; Aufgabe des Humanisten war es, wahre Geschichte von Neuem
aufzubauen und dadurch dem durch das Völkerchaos heraufbeschworenen
bösen Traum ein Ende zu machen. Von Picus von Mirandola an, der
Gottes Führung in den Geistesthaten der Hellenen erkennt, bis zu jenem
grossen Humanisten Johann Gottfried Herder, der sich fragt, "ob nicht
Gott sollte in der Bestimmung und Einrichtung unseres Geschlechtes
im Ganzen einen Plan haben" und der die "Stimmen" aller Völker
sammelt, sehen wir diesen geschichtlichen Rahmen sich erweitern,
sehen wir dieses von der Berührung mit den Hellenen angeregte Be-
streben, alle Erfahrungen zu ordnen und dadurch sie zu gestalten,
immer bestimmter auftreten. Und während nun bei diesem Gang
nach aussen der Mensch gewiss seine Fähigkeiten mindestens ebenso
überschätzte wie bei dem Gang der Mystiker nach innen, so ergab sich
doch, genau so wie bei Diesen, manche unvergängliche Errungenschaft.
Wir sahen bei den Mystikern die Introspektion zur Entdeckung der
äusseren Natur führen, ein unerwarteter, paradoxer Erfolg; ein ähn-
licher, aber in umgekehrter Richtung, entblühte dem Humanismus;
denn das Studium der umgebenden Menschheit war es, welches zur
Abgrenzung der nationalen Eigenart und zur entscheidenden Betonung
des unermesslichen Wertes der einzelnen Persönlichkeit führte. Philo-
logen, nicht Anatomen, haben zuerst die Begriffe der grundverschiedenen

dass sie eine lutherische oder calvinistische Dogmatik einer römischen hätten vor-
ziehen können. Sie fühlten ganz richtig voraus, dass die Skepsis sich immer
leichter mit einer Religion der guten Werke als mit einer des Glaubens abfinden
wird; sie witterten -- was auch wirklich eintraf -- eine neue Ara allseitiger In-
toleranz und meinten, es würde viel leichter sein, eine einzige bis ins Mark verrottete
Kirche von innen aus zu zertrümmern, als mehrere vom humanistischen Stand-
punkt aus ebenso unhaltbare, doch nunmehr im Kampf gegeneinander gestählte.
Von ihrem Standpunkt aus bedeutete die Reformation eine dem kirchlichen Irrtum
gewährte neue Lebensfrist.

Weltanschauung und Religion.
gabung kommen im vorigen Jahrhundert durch Voltaire zu gleich
kräftigem Ausdruck.

Der wichtigste Beitrag der Humanisten zum positiven Aufbau
einer germanischen Weltanschauung ist die Wiederanknüpfung unseres
geistigen Lebens an die uns verwandten Indoeuropäer, zunächst also
an die Hellenen (der eigentliche Humanist unseres 19. Jahrhunderts
war der Indolog), und sodann, in Anlehnung hieran, die allmähliche
Ausarbeitung der Vorstellung »Mensch« überhaupt. Der Mystiker hatte
die Zeit und damit auch die Geschichte vernichtet — eine durchaus
berechtigte Reaktion gegen den Missbrauch der Geschichte durch die
Kirche; Aufgabe des Humanisten war es, wahre Geschichte von Neuem
aufzubauen und dadurch dem durch das Völkerchaos heraufbeschworenen
bösen Traum ein Ende zu machen. Von Picus von Mirandola an, der
Gottes Führung in den Geistesthaten der Hellenen erkennt, bis zu jenem
grossen Humanisten Johann Gottfried Herder, der sich fragt, »ob nicht
Gott sollte in der Bestimmung und Einrichtung unseres Geschlechtes
im Ganzen einen Plan haben« und der die »Stimmen« aller Völker
sammelt, sehen wir diesen geschichtlichen Rahmen sich erweitern,
sehen wir dieses von der Berührung mit den Hellenen angeregte Be-
streben, alle Erfahrungen zu ordnen und dadurch sie zu gestalten,
immer bestimmter auftreten. Und während nun bei diesem Gang
nach aussen der Mensch gewiss seine Fähigkeiten mindestens ebenso
überschätzte wie bei dem Gang der Mystiker nach innen, so ergab sich
doch, genau so wie bei Diesen, manche unvergängliche Errungenschaft.
Wir sahen bei den Mystikern die Introspektion zur Entdeckung der
äusseren Natur führen, ein unerwarteter, paradoxer Erfolg; ein ähn-
licher, aber in umgekehrter Richtung, entblühte dem Humanismus;
denn das Studium der umgebenden Menschheit war es, welches zur
Abgrenzung der nationalen Eigenart und zur entscheidenden Betonung
des unermesslichen Wertes der einzelnen Persönlichkeit führte. Philo-
logen, nicht Anatomen, haben zuerst die Begriffe der grundverschiedenen

dass sie eine lutherische oder calvinistische Dogmatik einer römischen hätten vor-
ziehen können. Sie fühlten ganz richtig voraus, dass die Skepsis sich immer
leichter mit einer Religion der guten Werke als mit einer des Glaubens abfinden
wird; sie witterten — was auch wirklich eintraf — eine neue Ara allseitiger In-
toleranz und meinten, es würde viel leichter sein, eine einzige bis ins Mark verrottete
Kirche von innen aus zu zertrümmern, als mehrere vom humanistischen Stand-
punkt aus ebenso unhaltbare, doch nunmehr im Kampf gegeneinander gestählte.
Von ihrem Standpunkt aus bedeutete die Reformation eine dem kirchlichen Irrtum
gewährte neue Lebensfrist.
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[893/0372] Weltanschauung und Religion. gabung kommen im vorigen Jahrhundert durch Voltaire zu gleich kräftigem Ausdruck. Der wichtigste Beitrag der Humanisten zum positiven Aufbau einer germanischen Weltanschauung ist die Wiederanknüpfung unseres geistigen Lebens an die uns verwandten Indoeuropäer, zunächst also an die Hellenen (der eigentliche Humanist unseres 19. Jahrhunderts war der Indolog), und sodann, in Anlehnung hieran, die allmähliche Ausarbeitung der Vorstellung »Mensch« überhaupt. Der Mystiker hatte die Zeit und damit auch die Geschichte vernichtet — eine durchaus berechtigte Reaktion gegen den Missbrauch der Geschichte durch die Kirche; Aufgabe des Humanisten war es, wahre Geschichte von Neuem aufzubauen und dadurch dem durch das Völkerchaos heraufbeschworenen bösen Traum ein Ende zu machen. Von Picus von Mirandola an, der Gottes Führung in den Geistesthaten der Hellenen erkennt, bis zu jenem grossen Humanisten Johann Gottfried Herder, der sich fragt, »ob nicht Gott sollte in der Bestimmung und Einrichtung unseres Geschlechtes im Ganzen einen Plan haben« und der die »Stimmen« aller Völker sammelt, sehen wir diesen geschichtlichen Rahmen sich erweitern, sehen wir dieses von der Berührung mit den Hellenen angeregte Be- streben, alle Erfahrungen zu ordnen und dadurch sie zu gestalten, immer bestimmter auftreten. Und während nun bei diesem Gang nach aussen der Mensch gewiss seine Fähigkeiten mindestens ebenso überschätzte wie bei dem Gang der Mystiker nach innen, so ergab sich doch, genau so wie bei Diesen, manche unvergängliche Errungenschaft. Wir sahen bei den Mystikern die Introspektion zur Entdeckung der äusseren Natur führen, ein unerwarteter, paradoxer Erfolg; ein ähn- licher, aber in umgekehrter Richtung, entblühte dem Humanismus; denn das Studium der umgebenden Menschheit war es, welches zur Abgrenzung der nationalen Eigenart und zur entscheidenden Betonung des unermesslichen Wertes der einzelnen Persönlichkeit führte. Philo- logen, nicht Anatomen, haben zuerst die Begriffe der grundverschiedenen 4) 4) dass sie eine lutherische oder calvinistische Dogmatik einer römischen hätten vor- ziehen können. Sie fühlten ganz richtig voraus, dass die Skepsis sich immer leichter mit einer Religion der guten Werke als mit einer des Glaubens abfinden wird; sie witterten — was auch wirklich eintraf — eine neue Ara allseitiger In- toleranz und meinten, es würde viel leichter sein, eine einzige bis ins Mark verrottete Kirche von innen aus zu zertrümmern, als mehrere vom humanistischen Stand- punkt aus ebenso unhaltbare, doch nunmehr im Kampf gegeneinander gestählte. Von ihrem Standpunkt aus bedeutete die Reformation eine dem kirchlichen Irrtum gewährte neue Lebensfrist.

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Zitationshilfe: Chamberlain, Houston Stewart: Die Grundlagen des Neunzehnten Jahrhunderts. Bd. 2. München 1899, S. 893. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/chamberlain_grundlagen02_1899/372>, abgerufen am 29.04.2024.