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Chamberlain, Houston Stewart: Die Grundlagen des Neunzehnten Jahrhunderts. Bd. 2. München 1899.

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Die Entstehung einer neuen Welt.
Skepsis; hingegen war die der Mystiker der Glaube. Selbst wo der
Humanismus nicht bis zur ausgesprochenen Skepsis führte, gab er immer
die Grundlage für ein sehr unabhängiges Urteilen.1) Hier wäre gleich
Dante zu nennen, für den Virgil mehr gilt als irgend ein Kirchenvater
und der, weit entfernt Weltflucht und Askese zu predigen, "des
Menschen Glück in die Bethätigung der eigenen individuellen Kraft
setzt."2) Petrarca, der gewöhnlich als erster eigentlicher Humanist ge-
nannt wird, folgt dem Beispiel seines grossen Vorgängers: Rom nennt
er eine "empia Babilonia," die Kirche eine "freche Dirne":

Fondata in casta et humil povertate,
Contra i tuoi fondatori alzi le corna,
Putta sfacciata!

Und ähnlich wie Dante fällt Petrarca über Konstantin her, der durch
sein verhängnisvolles Geschenk, die "mal nate ricchezze", die ehe-
dem keusche, demütig arme Braut Christi zu einer schamlosen Ehe-
brecherin umgewandelt habe.3) Bald war aber die thatsächliche Skepsis
das so unumgängliche Ergebnis humanistischer Bildung, dass sie das
Kardinalskollegium bevölkerte und sich auf den päpstlichen Thron
setzte; erst die Reformation, im Bunde mit dem beschränkten Basken-
hirne, erzwang eine pietistische Reaktion. Schon zu Beginn des 16. Jahr-
hunderts stellen die italienischen Humanisten das Prinzip auf: intus
ut libet, foris ut moris est
und veröffentlicht Erasmus sein unsterb-
liches Lob der Narrheit, in welchem Kirchen, Priestertum, Dogmen,
Sittenlehre, kurz, das ganze römische Gebäude, das ganze "stinkende
Kraut der Theologie", wie er es nennt, dermassen heruntergerissen
wird, dass Manche gemeint haben, dieses eine Werk habe mehr als
alles andere zur Reformation angeregt.4) Gleiche Methode und Be-

1) Vergl. namentlich Paulsen: Geschichte des gelehrten Unterrichts, 2. Aufl.
I, 73 fg.
2) De Monarchia III, 15.
3) Sonetti e canzoni (im dritten Teile). Die Ersten, welche die Unechtheit
der angeblichen Konstantinischen Schenkung nachwiesen, waren der berühmte
Humanist Lorenzo Valla und der Theologe Krebs (siehe S. 519). Valla erhob
sich zugleich gegen jegliche weltliche Macht des Papstes, denn dieser sei "vicarius
Christi et non etiam Caesaris
" (siehe Döllinger: Papstfabeln, 2. Ausg. S. 118).
4) Alle die ersten grossen Humanisten Deutschlands sind antischolastisch
(Lamprecht, a. a. O., IV, S. 69). Dass man Männern wie Erasmus, Coornhert, Thomas
More u. A. einen Vorwurf daraus macht, weil sie später der Reformation sich
nicht angeschlossen haben, ist ungerechtfertigt. Denn solche Männer waren infolge
ihrer humanistischen Studien intellektuell ihrer Zeit viel zu weit vorangeeilt, als

Die Entstehung einer neuen Welt.
Skepsis; hingegen war die der Mystiker der Glaube. Selbst wo der
Humanismus nicht bis zur ausgesprochenen Skepsis führte, gab er immer
die Grundlage für ein sehr unabhängiges Urteilen.1) Hier wäre gleich
Dante zu nennen, für den Virgil mehr gilt als irgend ein Kirchenvater
und der, weit entfernt Weltflucht und Askese zu predigen, »des
Menschen Glück in die Bethätigung der eigenen individuellen Kraft
setzt.«2) Petrarca, der gewöhnlich als erster eigentlicher Humanist ge-
nannt wird, folgt dem Beispiel seines grossen Vorgängers: Rom nennt
er eine »empia Babilonia,« die Kirche eine »freche Dirne«:

Fondata in casta et humil povertate,
Contra i tuoi fondatori alzi le corna,
Putta sfacciata!

Und ähnlich wie Dante fällt Petrarca über Konstantin her, der durch
sein verhängnisvolles Geschenk, die »mal nate ricchezze«, die ehe-
dem keusche, demütig arme Braut Christi zu einer schamlosen Ehe-
brecherin umgewandelt habe.3) Bald war aber die thatsächliche Skepsis
das so unumgängliche Ergebnis humanistischer Bildung, dass sie das
Kardinalskollegium bevölkerte und sich auf den päpstlichen Thron
setzte; erst die Reformation, im Bunde mit dem beschränkten Basken-
hirne, erzwang eine pietistische Reaktion. Schon zu Beginn des 16. Jahr-
hunderts stellen die italienischen Humanisten das Prinzip auf: intus
ut libet, foris ut moris est
und veröffentlicht Erasmus sein unsterb-
liches Lob der Narrheit, in welchem Kirchen, Priestertum, Dogmen,
Sittenlehre, kurz, das ganze römische Gebäude, das ganze »stinkende
Kraut der Theologie«, wie er es nennt, dermassen heruntergerissen
wird, dass Manche gemeint haben, dieses eine Werk habe mehr als
alles andere zur Reformation angeregt.4) Gleiche Methode und Be-

1) Vergl. namentlich Paulsen: Geschichte des gelehrten Unterrichts, 2. Aufl.
I, 73 fg.
2) De Monarchia III, 15.
3) Sonetti e canzoni (im dritten Teile). Die Ersten, welche die Unechtheit
der angeblichen Konstantinischen Schenkung nachwiesen, waren der berühmte
Humanist Lorenzo Valla und der Theologe Krebs (siehe S. 519). Valla erhob
sich zugleich gegen jegliche weltliche Macht des Papstes, denn dieser sei »vicarius
Christi et non etiam Caesaris
« (siehe Döllinger: Papstfabeln, 2. Ausg. S. 118).
4) Alle die ersten grossen Humanisten Deutschlands sind antischolastisch
(Lamprecht, a. a. O., IV, S. 69). Dass man Männern wie Erasmus, Coornhert, Thomas
More u. A. einen Vorwurf daraus macht, weil sie später der Reformation sich
nicht angeschlossen haben, ist ungerechtfertigt. Denn solche Männer waren infolge
ihrer humanistischen Studien intellektuell ihrer Zeit viel zu weit vorangeeilt, als
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[892/0371] Die Entstehung einer neuen Welt. Skepsis; hingegen war die der Mystiker der Glaube. Selbst wo der Humanismus nicht bis zur ausgesprochenen Skepsis führte, gab er immer die Grundlage für ein sehr unabhängiges Urteilen. 1) Hier wäre gleich Dante zu nennen, für den Virgil mehr gilt als irgend ein Kirchenvater und der, weit entfernt Weltflucht und Askese zu predigen, »des Menschen Glück in die Bethätigung der eigenen individuellen Kraft setzt.« 2) Petrarca, der gewöhnlich als erster eigentlicher Humanist ge- nannt wird, folgt dem Beispiel seines grossen Vorgängers: Rom nennt er eine »empia Babilonia,« die Kirche eine »freche Dirne«: Fondata in casta et humil povertate, Contra i tuoi fondatori alzi le corna, Putta sfacciata! Und ähnlich wie Dante fällt Petrarca über Konstantin her, der durch sein verhängnisvolles Geschenk, die »mal nate ricchezze«, die ehe- dem keusche, demütig arme Braut Christi zu einer schamlosen Ehe- brecherin umgewandelt habe. 3) Bald war aber die thatsächliche Skepsis das so unumgängliche Ergebnis humanistischer Bildung, dass sie das Kardinalskollegium bevölkerte und sich auf den päpstlichen Thron setzte; erst die Reformation, im Bunde mit dem beschränkten Basken- hirne, erzwang eine pietistische Reaktion. Schon zu Beginn des 16. Jahr- hunderts stellen die italienischen Humanisten das Prinzip auf: intus ut libet, foris ut moris est und veröffentlicht Erasmus sein unsterb- liches Lob der Narrheit, in welchem Kirchen, Priestertum, Dogmen, Sittenlehre, kurz, das ganze römische Gebäude, das ganze »stinkende Kraut der Theologie«, wie er es nennt, dermassen heruntergerissen wird, dass Manche gemeint haben, dieses eine Werk habe mehr als alles andere zur Reformation angeregt. 4) Gleiche Methode und Be- 1) Vergl. namentlich Paulsen: Geschichte des gelehrten Unterrichts, 2. Aufl. I, 73 fg. 2) De Monarchia III, 15. 3) Sonetti e canzoni (im dritten Teile). Die Ersten, welche die Unechtheit der angeblichen Konstantinischen Schenkung nachwiesen, waren der berühmte Humanist Lorenzo Valla und der Theologe Krebs (siehe S. 519). Valla erhob sich zugleich gegen jegliche weltliche Macht des Papstes, denn dieser sei »vicarius Christi et non etiam Caesaris« (siehe Döllinger: Papstfabeln, 2. Ausg. S. 118). 4) Alle die ersten grossen Humanisten Deutschlands sind antischolastisch (Lamprecht, a. a. O., IV, S. 69). Dass man Männern wie Erasmus, Coornhert, Thomas More u. A. einen Vorwurf daraus macht, weil sie später der Reformation sich nicht angeschlossen haben, ist ungerechtfertigt. Denn solche Männer waren infolge ihrer humanistischen Studien intellektuell ihrer Zeit viel zu weit vorangeeilt, als

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Zitationshilfe: Chamberlain, Houston Stewart: Die Grundlagen des Neunzehnten Jahrhunderts. Bd. 2. München 1899, S. 892. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/chamberlain_grundlagen02_1899/371>, abgerufen am 29.04.2024.